Ein einziger Federstrich des Kremlherrschers besiegelte das Schicksal eines Landstrichs, der immerhin etwas mehr als halb so gross ist wie die Schweiz. Was sich Nikita Chruschtschow 1954 dabei dachte, als er beschloss, die Krim aus der Russischen Föderativen Sowjetrepublik herauszulösen und der Ukraine zuzuschlagen, weiss niemand mit letzter Gewissheit. Manche führen sentimentale Motive ins Feld: Der sowjetische Parteichef, wiewohl Sohn einer russischen Bauernfamilie, sei schliesslich im ukrainischen Donezbecken aufgewachsen und sozialisiert worden.
Andere, darunter Chruschtschows Sohn Sergej, sehen eher pragmatische Motive: Gewaltige Schifffahrtskanäle sollten entstehen, von der Wolga über die Krim bis an den Donez. Dies, so hätten sich die Planer in Moskau gedacht, lasse sich leichter bewerkstelligen, wenn lediglich das Territorium einer einzigen Sowjetrepublik von den Plänen tangiert sei. Und sowieso: Ob Russland oder Ukraine, war es nicht ohnehin einerlei? War die Sowjetunion, das Heim der Werktätigen, etwa nicht für alle Ewigkeit errichtet worden?
Es war nur einer von vielen Besitzerwechseln in der Geschichte der Krim: Tauren, Skythen, Griechen, Römer, Goten, Sarmaten, Byzantiner, Hunnen, Kyptschaken, Tataren, Venezianer, Genueser und schliesslich die Türken hatten die Schwarzmeerhalbinsel seit der Antike ganz oder teilweise beherrscht.
Russisch wurde die Krim am 8. April 1783, «von nun an und für alle Zeiten», wie Zarin Katharina II. voller Zuversicht dekretierte. Ihren Geliebten, den Fürsten Grigori Potemkin, betraute die Herrscherin mit der Verwaltung der neuerworbenen Gebiete. Der Fürst erwies sich, seinem Ruf als betrügerischer Fassadenbauer zum Trotz, als tüchtiger Verwalter. Um Russlands Süden zum Blühen zu bringen, liess Potemkin Siedler aus dem russischen Kernland sowie aus Deutschland kommen. Die fruchtbarsten Gebiete der Krim verteilte er unter russischen Adligen. Den muslimischen Krim-Tataren blieb nur die Steppe im Innern der Halbinsel.
Vielleicht muss man Russe sein und den unerbittlich harten Winter in Moskau, Perm oder Irkutsk aus eigener Erfahrung kennen, um wirklich zu verstehen, welche Bedeutung die Krim mit der Zeit für die russische Volksseele erlangte: Es war die Sehnsucht nach ein wenig Wärme, die an den Gestaden des Schwarzen Meeres Erfüllung fand.
Väterchen Frosts Reich durfte eine palmengesäumte Riviera sein eigen nennen, angereichert mit dem Glanz des Romantischen: Am Tränenbrunnen des Khanspalasts von Bachtschyssaraj, dort wo 300 Jahre lang die islamischen Herrscher der Krim residiert hatten, liess Alexander Puschkin sich 1820 zu seinem Gedicht vom «Brunnen der Liebe» inspirieren, dem er zwei Rosen als Geschenk dargebracht habe.
Anton Tschechow wiederum liess 1899 in seiner Erzählung «Die Dame mit dem Hündchen» den Moskauer Beamten Gurow, auf der Promenade von Jalta auf eine mädchenhaft-junge Frau treffen. Gurow, der bis dahin «ein armseliges, unbeschwingtes Leben» geführt hat, wird in einen Strudel der Leidenschaften hineingezogen – und die Krim nimmt endgültig ihren unverrückbaren Platz auf der Landkarte der russischen Literatur ein: Unvorstellbar, dass Tschechows Erzählung in Nowosibirsk ihren Ausgang genommen hätte.
80 Jahre liegen zwischen Puschkins Poem und Tschechows Novelle – und ein Krieg, so furchterregend, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte: Zwischen 1853 und 1856 stand Russland Grossbritannien, Frankreich und dem Osmanischen Reich gegenüber. 25 000 Briten, 100 000 Franzosen und eine Million Russen fanden im Krimkrieg den Tod. Sewastopol fiel – und wurde dennoch zur russischen Heldenstadt: Zwei endlos lange Jahre brauchten die Belagerer, um die Festung einzunehmen. Historiker sprechen im Nachhinein vom ersten Krieg, der mit neuzeitlichen Mitteln geführt wurde.
Ein knappes Jahrhundert später, 1942, wurde Sewastopol erneut belagert. Die deutsche Wehrmacht setzte zur Eroberung der Krim an. Nach dem Endsieg wollten die Nationalsozialisten hier Auswanderer aus dem Südtirol ansiedeln. «Gotengau» sollte der Landstrich dann heissen – und Sewastopol «Theoderichshafen». Dazu kam es bekanntlich nicht, auch wenn es den Deutschen nach einem Monat Belagerung gelang, die Stadt einzunehmen. Von den 200.000 Einwohnern überlebte lediglich ein Sechstel.
Die Nachkriegszeit begann für die Krim mit ihrer Rückeroberung durch sowjetische Truppen im Mai 1944. Zur Ruhe kam die Region freilich nicht: Auf Befehl Josef Stalins begann nun die Deportation der Krimtataren, die von den Machthabern in Moskau kollektiv der Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigt wurden. Bis 1988 sollte es dauern, ehe die Volksgruppe in ihre Heimat zurückkehren durfte.
Bis zur Revolution 1917 waren die Küsten der Krim Tummelplatz der Petersburger Aristokratie gewesen. Nun, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden sie zum Paradies der Werktätigen. Amerika hatte Florida, die Sowjetunion die Krim.
Für den Sowjetmenschen stellte alles, was mit der Krim zu tun hatte, einen Gipfel an Glamour dar: Selbst der berüchtigte Krimsekt mochte im Land der Wodkaleichen dem einen oder anderen Arbeiter oder Bauern als Inbegriff weltmännischer Eleganz erscheinen, als moussierendes Elixier, mit dem man die Fürstin Woronzowa hätte verführen können, dessen Genuss in der Realität jedoch allzu oft mit albtraumhaften Kopfschmerzen in einer Leningrader Plattenbauwohnung endete.
Ob Wladimir Putin solches in seiner Jugend widerfahren ist? Man kommt dieser Tage nicht umhin sich zu fragen, welche persönlichen Erfahrungen den russischen Präsidenten wohl mit der Krim verbinden. Vielleicht ist ja alles ganz einfach: Ein Grad beträgt die voraussichtliche Temperatur für heute Mittag in Moskau. In Sewastopol könnten es bis zu 13 Grad sein.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 5.3.14