Wenn am Anfang der Demokratie das Wahlrecht steht, so könnte ihr Ende vom Wahlkampf bestimmt werden.
Umso gravierender die Lage, desto verbindlicher der Anspruch des Betroffenen auf einen letzten Wunsch. Die einschlägige Absichtserklärung deutscher Politiker scheint dahin zu gehen, dass man vor dem Paukenschlag wenigstens noch die Landtagswahlen gewinnen möchte, und die banale Bundestagswahl gleich mit.
Die mit Abstand größten Leidenschaften weckt in Deutschland immer noch der Landtagswahlkampf. Oder könnte man sich im Bund ein solches Theater wie das zuletzt in Hessen vorstellen? Landtagswahlkämpfe sind schon durch ihre Überschaubarkeit selbstentlarvend. Man hat die Intrige buchstäblich vor Augen.
Zu den Eigenarten der Politik gehört, dass sich die Machtfrage in den überraschendsten Situationen stellen kann. Als Politiker lernt man praktisch alles als Machtfrage zu betrachten. Man lernt es in der eigenen Partei und erlebt es auf dem allgemeinen Parkett. In der Politik ist die Gnadenlosigkeit gewissermaßen Teil der Tagesordnung. Was normalerweise bereits als rufschädigend eingeordnet wird, gilt in der Politik nicht selten als geschickter Schachzug.
Angela Merkel hatte immer schon zahlreiche Rivalen. Trotzdem war die Gegnerschaft stets gut zu überblicken. Sie bestand zum einen aus den CDU-Ministerpräsidenten, den Kurfürsten, die sich selbst zu küren gedachten, und zum anderen aus den charmelosen Verwaltern der sozialdemokratischen Sache, die gelegentlich zum wilhelminischen Gestus neigen.
Die beiden Kategorien stellen auch heute noch das Gros der Merkel- Gegnerschaft. Wenn beide Klubs seinerzeit ähnlich vollmundig zu bedenken gaben, dass die Merkel das Kanzlersein nicht beherrsche, so behaupten sie jetzt unisonso, die Kanzlerin sei nicht in der Lage, die Krise zu bewältigen. Geht es aber tatsächlich um die Kanzlerin, oder geht es vielmehr um die große Koalition, deren Moderatorin sie geworden ist?
Das Problem der Machtfragensteller ist natürlich die große Koalition. Wie soll man auch eine bevorstehende Wahl gewinnen, wenn die Kontrahenten die Machtfrage von der Regierungsbank aus stellen? Es ist als spielten zwei Fußballklubs mit einer gemeinsamen Mannschaft, und zwar auf beiden Seiten des Spielfelds. Jedes Tor kann so nur ein Eigentor sein. Daran ändert auch das Faktum, das man zwei Trainer hat, nichts.
Dabei könnte doch gerade eine große Koalition, mit ihrer stabilen parlamentarischen Mehrheit, hilfreich sein, für die Entscheidungen, die die aufkommende Krise erforderlich macht. Sollte man meinen. Ist es aber nicht. Das Opelretten macht gemeinsam wenig Spaß, weil es im jeweiligen Wahlkampfkontor nicht zu Buche schlägt.
Harmonie gilt in der Frage des politischen Auskommens in unserer sonst eher deeskalationsverdonnerten Gesellschaft erstaunlicherweise nicht als erstrebenswert, sie scheint sogar verdächtig zu sein. Demokratie braucht wohl das Kommen und Gehen der Protagonisten, um transparent machen zu können, dass sie funktioniert. Das Wahlrecht begnügt sich, so gesehen, nicht mit der Wahl, es macht vielmehr von der Abwahl Gebrauch.
Man sagt längst nicht mehr: „Wählt mich!“, man sagt: „Wählt den anderen ab, den Schurken!“ Beides ist zwar zu begründen, die Richtigkeit der Abwahl aber muss nicht bewiesen werden, die der Wahl schon. Die einschlägige Beweisführung dauert die gesamte Legislaturperiode an, während der es das Mandat zu verteidigen gilt. Wie viel Zeit bleibt da noch fürs Eigentliche, für die politische Arbeit, jenseits des politischen Überlebens?
Ministerpräsidenten wie Sachwalter möchten aus der Pattsituation der gemeinsamen Mannschaft heraus, und das um fast jeden Preis, denn das Patt erlaubt ihnen nicht die Schlacht, es erlaubt ihnen nur Scharmützel. Mit Scharmützeln aber kommt man nicht weit. Man kann damit nicht einmal ausreichend Wahl und Abwahl voneinander unterscheiden, zumindest kann man sie nicht klar genug zuordnen.
Wer ist wählbar, und wer ist abzuwählen? Das dem Publikum zu vermitteln, ist mehr als schwierig, zumal sich dieses im Besitz der gelben Karte befindet. Bleibt die Frage: Steuern wir jetzt auch noch auf eine politische Krise zu? Und das nur, weil die politische Klasse nicht ohne die zum Gewohnheitsrecht gewordenen Spielregeln auszukommen meint?