Wir sind das wache Zeitalter. Die Augen weit geschlossen, sind wir Anforderungen und Reizen ausgesetzt, wie es noch keine Epoche vor uns war. Müdigkeit ist tabu, selbst Sekundenschlaf kann tödlich sein; wir sind Aggregate einer Welt, die rund um die Uhr und sieben Tage die Woche auf Hochtouren läuft. Die Globalisierung raubt uns die letzte Ruhe, denn sie verbindet alle Zeitzonen zu einem ekstatischen Jetzt, einer allgegenwärtigen Gegenwart, die unserer vollsten Aufmerksamkeit bedarf – und zwar unausgesetzt. Wir müssen wachbleiben um jeden Preis, mit Kaffee und Pillen, denn unser Zeitalter verfügt über Vernichtungspotentiale von stellarem Ausmaß; da darf man keine Sekunde wegschauen und keine Pausen machen.
Der unterbrechungsfreie Modus ist allerdings nicht gerade das, was dem Menschen psychobiologisch gut tut. Denn soviel Kraft hat keiner, daß er jede Last ohne abzusetzen tragen könnte. Nach der Anstrengung ist Entspannung vonnöten: das ist ein Naturgesetz, und es gilt für Muskeln wie Nerven gleichermaßen. Daher sind Ruhezeiten eine Frage der Gesundheit; wer hier spart, wird eine sehr viel höhere Rechnung bekommen. Es geht aber um noch mehr: Ruhezeiten geben unserer Zeitempfindung überhaupt erst Rhythmus und Struktur. Ohne diesen Taktschlag der Ruhetage wäre unser Leben ein Brei. Das Wechselspiel von Stillstand und Bewegung, von Arbeit und Freizeit, von Dienst und Schnaps ist nämlich ein direkter Ausdruck der Wellenförmigkeit des Seins.
Und hier stoßen wir in höhere philosophische Sphären vor, die hinter der aktuellen Sonntagsöffnungsdebatte liegen. Es geht ums binäre Prinzip: der Alltag braucht sein Gegenteil, sonst gerät die Welt aus dem Lot. Diesseits dieses Prinzips läßt sich um die konkrete Ausgestaltung streiten. Die Siebener-Frequenz zum Beispiel ist ziemlich willkürlich gewählt, wie überhaupt jeder Kalender politische Herrschaftsansprüche in der Dimension der Zeit reflektiert. Vorgegeben ist bloß, daß ein Jahr 365 Tage hat und daß währenddessen der Mond zwölfmal um die Erde kreist. Ob man deswegen an bestimmten Augenblicken in Berlin Schnittblumen, aber keine Topfpflanzen, Benzin, aber kein Auto kaufen darf, hat damit eigentlich nicht viel zu tun.
Die Kirchen beharren aber darauf – die protestantische, wie es scheint, mehr als die katholische, aber das mag am Blickpunkt Berlin liegen, wo ein rot-roter Senat sich große Mühe gibt, jede Form christlicher Tradition zu tilgen. Vielleicht jedoch liegt es auch daran, daß in katholischen Ländern wie Frankreich der Sonntagsruhe weniger geachtet wird, weil selbst für Gott in Frankreich der Tag mit frischen Croissants beginnen und mit anderen frischen Lebensmitteln weitergehren müßte. In unserem Nachbarland wurde der selbe Ladenöffnungsstreit bereits vor zwanzig Jahren ausgetragen, und man hat dort weder eine allgemeine Verrohung der Sitten noch einen signifikant stärkeren Abfall vom Glauben im Zusammenhang mit liberalen Ladenöffnungszeiten feststellen können. In der Tat war es auch gar nicht die Kirche, die am entschiedensten für die christliche Sonntagsruhe kämpfte. Es war die kommunistische Gewerkschaft.