Pudel oder Rambo?

Die Wahlen im Sommer in England werden spannend. Soll man sagen, England, du hast es besser? Hierzulande muss man noch über ein Jahr lang mit einer ausgelaugten, zerstrittenen und ratlosen Regierung leben.

Rishi Sunak stand vor Nummer 10 Downing Street im strömenden Regen – wie ein begossener Pudel oder wie ein Mini-Rambo, der allen Widrigkeiten trotzt. Die Entscheidung darüber gibt es am 4. Juli, wenn England auf Anordnung des Premierministers ein neues Parlament wählen wird. Zur Überraschung fast aller, zum Entsetzen vieler konservativer Parteifreunde und zur Freude der seit 14 Jahren oppositionellen Labour-Partei, die in den Umfragen sage und schreibe 20 Punkte vor den Torys liegt. Anders als Wetter-Rambo Sunak trat Labourchef Keir Starmer drinnen im Trockenen vors Mikrofon und wirkte auch so.

Spröde, ein wenig bleich, als habe ihm die freudige Nachricht einen Schock versetzt, und staatstragend vor einer mit Union Jacks geschmückten Wand. Er verkörpert die Labour-Partei von heute, entrevolutioniert bis zur Spießigkeit, mit einer Art leitendem Angestellten an der Spitze, und – so hofft man – gerade deshalb vertrauenswürdig genug, um den sich abzeichnenden Wahlsieg sicher über die Ziellinie zu bringen. Sein Kontrahent und – glaubt man den Umfragen – fast hoffnungsloser Underdog wirkt gegenüber dem ultravorsichtigen Labour-Mann wie ein Hasardeur, der alles auf eine Karte und auf den großen Überraschungsgewinn setzt. Alle haben mit einer Spätherbstwahl gerechnet, Sunak hat Freund und Feind nun ein Frühsommer-Datum vor die Füße geworfen. Das ist England. Der Premierminister darf – innerhalb der ihm zugewiesenen fünf Jahre – selber bestimmen, wann er gerne wiedergewählt werden möchte. Er muss nur zum König gehen, höflich, aber fest um Auflösung des Parlaments bitten, und auf geht’s.

Soll man sagen, England, du hast es besser? Hierzulande muss man noch über ein Jahr lang mit einer ausgelaugten, zerstrittenen und ratlosen Regierung leben. Und mit einem Kanzler, der selbst dann nicht vorzeitig wählen ließe, wenn er dürfte, denn die Angst geht um in Berlin. Das gilt in einem gewissen Sinn auch für Rishi Sunak. Im Moment erfreut sich seine Regierung zwar einiger günstiger Wirtschaftszahlen. Niedrige Inflation, steigende Löhne. Die Berliner könnten, litten sie nicht unter hochgradiger Selbstgerechtigkeit, neidisch sein auf das Brexit-Land, das sich trotz des Einsamkeits-Defizits am Scheinriesen Bundesrepublik vorbeischleicht. Allerdings fürchtet Sunak offenbar, dass der aktuelle Lichtblick nicht von Dauer sein könnte.

Es geht ums Ganze

Dass die Wirtschaft wieder zu schwächeln beginnen könnte. Und vor allem: Dass über die Sommermonate wieder ganze Regatten an Flüchtlingsbooten über den Kanal auf die Insel zusteuern und das Versprechen der Torys, energisch die Grenzen zu sichern, wieder zum Märchen machen. Und nicht zu vergessen: Die Rebellen in der eigenen Partei würden Sunak auch in den künftigen Monaten keine Ruhe lassen. Das schnelle Wahldatum bringt auch sie zum Verstummen. Denn jetzt geht es für alle ums Ganze.

Wie auch immer, es werden sechs spannende Wochen, die Labour als ein Geschenk des Himmels betrachten wird. Denn bei der letzten Parlamentswahl waren die Konservativen mit Boris Johnson wie ein Orkan über Englands Sozialdemokraten hinweggefegt und hatten eine Mehrheit von 80 Abgeordneten ins Parlament befördert. Doch dann hatte die Partei des furiosen Boris durch schwere Brexit-Nachwehen, partei-internere Raufereien und einen flotten Premierministerverschleiß ihren scheinbar bombensicheren Vorsprung verspielt.

Eine Nachwahl nach der anderen ging verloren, und die Meinungsumfragen verbreiteten unter den Konservativen Furcht und Schrecken. All die im Dezember 2019 hinzugewonnen Sitze drohten dahinzuschmelzen. Dutzende Konservative bangen seither um ihre prominenten Plätze in Englands attraktiver Haupt- und Weltstadt und müssen sich seelisch auf eine Rückkehr in die Provinz einstellen. Und in England bedeutet in vielen Teilen des Landes Provinz tatsächlich Provinz.

Die Entscheidung liegt in den Portemonnaies

Jetzt fragen sie sich: Ist die schnelle Juli-Wahl eine Chance oder droht die vorzeitige Heimkehr? Rishi Sunak, ein superreicher Oberschichtler mit indischem Migrationshintergrund, riskiert allenfalls Reputation. Aber er hofft natürlich, als Underdog die Sensation zu schaffen und damit zum Tory-Helden zu avancieren. Er hofft ganz sicher auch auf die sichtbare Blässe seines Labour-Kontrahenten. Während Sunak sich mit dem Wahl-Coup den Nimbus der kämpferischen Entschlossenheit verschafft hat, wirkt Keir Starmer eher wie ein Mann ohne Eigenschaften. Auch auf die Brexit-Frage, die immer mehr Briten beschäftigt, gibt er ausweichende Antworten. Aber sein maßvoll sozialdemokratisches Programm wirkt vernünftig, im Gegensatz zu den wirtschaftspolitischen Eskapaden der Torys während der letzten Jahre.

Ob Starmers Mangel an Charisma eine Schwäche oder womöglich doch eine Stärke ist, wird sich im Laufe der kommenden sechs Wochen zeigen. Letzten Endes hängt das Wahlergebnis nicht von irgendwelchen abstrakten Wirtschaftszahlen ab, sondern davon, wie es in den Portemonnaies der Wähler zum Anfassen aussieht, mit welchem Gefühl sie vom Einkauf nach Hause kommen und wie sie in die Zukunft blicken. Und bisher sieht es noch so aus, als seien die abstrakten Zahlen noch nicht im konkreten Leben vieler Briten angekommen. Das stärkt Starmers Hoffnung auf einen Wechsel ins Grundsolide nach einer konservativen Berg- und Talbahn.

In die Gleichung sind noch die Liberaldemokraten und die Reform-UK-Partei mit der Brexit-Galionsfigur Nigel Farage im Hintergrund einzubeziehen, die für Unwuchten sorgen können. Aber das englische Direktwahl-System fördert ganz entschieden die beiden Großen. Und über beide lässt sich sagen: Brexit hin oder her – in der Sicherheitspolitik, die zur Zeit vor allem Europa beschäftigt, ist England nicht nur ein verlässlicher, sondern ein energisch zupackender Partner. Das wird so sein, egal ob der nächste Premierminister Keir Starmer oder Rishi Sunak heißt. Beide werden unserem Kanzler zeigen, was ein echter Brite ist.     

 

Rainer Bonhorstgeboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung.

Foto: Simon Walker / HM Treasury via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Lutz Liebezeit / 24.05.2024

Unser Parlament so wie die meisten Winzparteien bestehen nur noch aus Aktivisten. Es wird sich distanziert, bis der Arzt kommt, es geht nicht um ein politisches Programm, das vermittelt werden soll, sondern darum, das Programm des anderen zu verhindern. Das ist das vollkommen Klischee, welches sich hier abspielt, Volt, Piraten, FDP, SPD, Grüne, Linkspartei, CDU - das ist alles dasselbe. Die bestehen nur aus dem Lärm, den sie machen. Ich hätte gerne mal einen Grund, warum ich die FDP wählen sollte? Weil die für Freiheit ist? Freiheit vom Grundgesetz? Politiker sind weder Aktivisten noch Freiheitskämpfer, die kriegen ihr Geld dafür, daß sie Verantwortung übernehmen, und zwar dafür, die Grundrechte zu verwirklichen. Und nicht dafür, die Grundrechte zu verhindern.

Hubert Geißler / 24.05.2024

“Brexit hin oder her – in der Sicherheitspolitik, die zur Zeit vor allem Europa beschäftigt, ist England nicht nur ein verlässlicher, sondern ein energisch zupackender Partner. Das wird so sein, egal ob der nächste Premierminister Keir Starmer oder Rishi Sunak heißt. Beide werden unserem Kanzler zeigen, was ein echter Brite ist. ” Von seiner Majestät Armee und Navy hört man allerdings auch eher Deprimierendes. Da gab es kürzlich einen genialen Vorschlag, um die Bundeswehrmisere anzugehen. Also in Pistorius Gehörgang: Man könnte für den zweiten Tag Munition kaufen!. Das wär dpoch schon mal eine Lösung.  “

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