Filipp Piatov / 06.10.2013 / 22:25 / 5 / Seite ausdrucken

Per ordre de Mutti

Sehr geehrter Herr Genscher,

ich habe Sie früher immer bewundert. Ich wusste nie, wieso, aber der andächtige Ton, in dem in liberalen Kreisen von Ihnen gesprochen wurde, war sehr verführerisch. Natürlich, Ihr großer Moment auf dem Balkon. Der medialen Unsterblichkeit sind Sie damit recht nahe gekommen. Seit einiger Zeit stört mich jedoch etwas an Ihnen, und diesmal weiß ich sehr genau, was es ist.

Mit Ihren letzten Aussagen haben Seine Heiligkeit etwas übertrieben. Dass ein – laut eigener Aussage – liberaler Ehrenvorsitzender einem politischen Gegner den Austritt nahelegt und diskussionslos den zukünftigen Kurs prophezeit („für Europa und den Euro“), spricht Bände über den Zustand dieser Partei.

Ich bin noch jung, mögen Sie sagen. Mit 22 gegen einen Außenminister a.D. zu argumentieren, ist entweder anmaßend oder lächerlich. Mir fehlt Ihr Wissen, Ihre Weisheit und vor allem, Ihre Erfahrung.

Andererseits habe ich eine berechtigte Frage. Wie viel soll mir die Meinung eines 86-jährigen Politikers mit sicherer, inflationsunabhängiger Rente Wert sein, wenn es um wirtschaftliche und monetäre Stabilität in spe geht? Wir sitzen nicht im selben Boot, mein Herr.

Würden Sie in ein Auto steigen, dessen Fahrer es aus sicherer Entfernung steuert? Glaubwürdigkeit kommt nicht mit dem Alter, sondern mit der Waffe an der Schläfe, Herr Genscher.

Ich lasse mal das Argument außen vor, dass jeder seine Zeit hat, ebenso wie er wissen sollte, wann Schluss ist. Da Sie nach vielen Jahrzehnten in der Politik jedoch keinen Abnutzungsprozess bei sich feststellen können, will ich Ihnen die Freude nicht nehmen.

Aber ich kann ja zumindest versuchen, meinen naiven, nationalistischen Standpunkt darzulegen, im besten Wissen, nicht Ihrer – zugegebenermaßen nicht übermäßig toleranten und diskussionsfreudigen – Definition des Liberalismus zu entsprechen.

Ich hoffe, dass meine Argumente Ihnen nicht wie Hirngespinste und Verschwörungstheorien vorkommen. Vergessen wir mal, ob es richtig oder falsch war, den Euro einzuführen. Er ist da und mit dieser Situation müssen wir nun umgehen.

Angeblich bemühen wir uns um Friedenssicherung, weshalb wir die Griechen unter keinen Umständen aus der Eurozone lassen wollen. In sämtlichen Südländern herrschen jedoch Massenarbeitslosigkeit und Rezession, per ordre de Mutti durchgeführte Strukturreformen scheinen nicht zu fruchten. Dennoch wollen die Südländer nicht die Eurozone verlassen, auch wenn eine Währungsabwertung das einzige ist, was sie vor dem vollständigen Kollaps retten kann. Weshalb?

Der einzige Grund für den freiwilligen Verbleib der Südländer im Euro sind die absurden Rettungspakete, die einheimische Politiker und Ökonomen ruhig stellen.

Auf diese Rettungspakete haben die Länder jedoch keinen Anspruch. Nicht nur, weil oder sie hauptsächlich in Bankenrettungen fließen, sondern weil es schlicht und einfach nicht ihr Geld ist.

Dieses Geld müsse das Friedensprojekt EUROpa dem starken Deutschland jedoch Wert sein, weshalb wir wieder bei Punkt 1. sind und damit in einem Teufelskreis. Wir haben Angst vor Turbulenzen und finanzieren stattdessen den unausweichlichen Crash, denn jedes Land hat eine rote Linie: Ob 50, 70 oder 90 Prozent Jugendarbeitslosigkeit.

Die gegen jegliche, auch ökonomische, Vernunft gehende Europolitik braucht durchaus eine Debatte. Auch, wenn Sie, Herr Genscher, sie aus der Partei verbannen wollen. Aber damit ist es genauso, wie mit dem Eurocrash. Sie können die Debatte nicht vermeiden, höchstens verschieben. Und seien wir mal ehrlich, Herr Ehrenvorsitzender. Im Nachhinein werden Sie all das sowieso gewusst haben.

Es grüßt Sie,

Filipp Piatov

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Narses Kalchas / 08.10.2013

@Schulz: Gerade einer Person ohne Eigeninteresse sollte misstraut werden. Und jeglicher Mangel einer gesunden Portion Angst (oder nennen wir es passender: Skepsis) zeichnet entweder einen fanatischen Selbstmordattentäter oder einen selbstverliebten Ignoranten (weiteres Paradebeispiel für einen kritikunfähigen Greis: der unfehlbare Günter Grass) aus. Solchen Personen schert das künftige Wohl und Wehe der Mitmenschen nicht. Und einer Person mit einer “nach mir die Sintflut” Einstellung zeichnet alles Mögliche aus, aber sicher nicht das “wir” unter irgendeinem Strich.

Frank Höhnisch / 07.10.2013

Mit dem Alter steigen zwar, zumindest im optimalen Fall, das Wissen, die Weisheit und die Erfahrung eines Menschen, nur leider sinkt irgendwann auch das Denkvermögen. Von einer schleichend einsetzenden Demenz - wie sie erst jüngst einen Bekannten von mir in Genschers Alter erwischt hat - ganz zu schweigen.

Michael Geier / 07.10.2013

Mögen diese auf den Punkt gebrachten Zeilen seinen von je her vollkommen überschätzten, wohl bis zum letzten Atemzug um seine (scheinbare) historische Wichtigkeit kreisenden und fernab der Realität lebenden Adressaten sein!!  Lieber haue ich nach Russland ab, als mich von Opa Genscher u. Co, permanent in dieses Wahnkonstrukt eines morbiden euoislamischen Gemischtwarenladens vergewaltigen zu lassen!  Wenn Sie dies zufällig lesen sollten, Herr Außenminister AD, schreiben Sie sich doch das bitte hinter Ihre berühmten Ohren!

Christian Schulz / 07.10.2013

Eine Sammlung von Vorurteilen. Bankenrettung. Wessen Geld wurde da gerettet? Das der Immobilien-und Aktienbesitzer? Nein, das Geld der kleinen Leute, das Geld der kleinen Kontoinhaber. Bleiben wir mal in Deutschland. Welche Banken gingen pleite? Staatliche Banken, politisch gewollte Banken ohne wirtschaftlichen Sinn, nicht die privaten Geschäftsbanken. Griechenland. Was nutzt denen ein Austritt aus der Eurozone? Das ergibt nichts anderes als eine Schattenwährung im Land. Wie zu Zeiten der DDR. Das Wesentliche wird es dann nur unter der Ladentheke oder gegen Schmiergeld geben, wenn man Euro hat. Jugendarbeitslosigkeit. Ja, sie ist zu hoch, allerdings nirgends bei 50%, eher bei 25%. Was auch zuviel ist. Statistik ist spannend und wichtig, nur muss man auch hinsehen was da und wie gezählt wird. Warum soll die Arbeitslosigkeit sinken, wenn die Importe in Euro bezahlt werden müssen, ohne dass die Wirtschaft leistungsfähiger wird? Warum soll ein griechisches Spielgeld ohne Wert etwas besser machen, wenn sich an den Verhältnissen nichts ändert? Das Auto steuern die politisch Interessierten und engagierten, egal wie alt sie sind. Nicht die, die sich allein in der digitalisierten Belanglosigkeit von Facebook verlieren und über die Ungerechtigkeit der Welt klagen. Überall wird “soziale Gerechtigkeit” gefordert, nur keiner kann mir erklären was das ist. Aber alle wissen, unterm Strich zähl ich. Genscher mag sein Schäfchen im Trockenen haben, ich finde er hat es auch verdient, und für ihn persönlich ist mit über 80 die Zukunft in 20 Jahren egal. Deshalb kann er nicht nur mit Erfahrung, sondern auch ohne Angst und ohne Eigeninteresse auf die Dinge sehen. Für ihn zählt unterm Strich nicht mehr das “ich”, sondern das wir. Da mag ein Argument für seinen Standpunkt liegen.

Axel Wahlder / 07.10.2013

Der Staat hat immer eine Super-Option, welche eine Privatperson nicht haben kann - Währungsreform. Wenn ein, sagen wir, Thaler künftig gegen 1000 umgetauscht wird, dann dreht die Geschichte von vorne an. Wundervoll, nicht war?

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Filipp Piatov / 28.04.2015 / 13:28 / 14

Das weltfremde Anspruchsdenken deutscher Studenten

Deutsche Studenten haben es wirklich nicht leicht. Die Wohnungspreise steigen, vor allem in den angesagten Studentenvierteln. Dank des Bachelorsystems ist die Universität zu einem Vollzeitjob…/ mehr

Filipp Piatov / 29.11.2014 / 09:49 / 9

Russia Today enthüllt: Der Westen ist an allem Schuld

Der Arzt und Nobelpreisträger Albert Schweitzer glaubte, dass auch die bestorganisierte und frechste Propaganda auf Dauer nichts gegen die Wahrheit vermag. Seine These wird nun…/ mehr

Filipp Piatov / 09.10.2014 / 15:53 / 20

AfD - Zwischen Islamisten und Linken

Den islamistischen Judenhass hatte man abgehandelt. Gesehen, gehört, eingeordnet und ganzheitlich verurteilt. Wer „Juden ins Gas“ schreit, hat in Deutschland keinen Platz, da war man…/ mehr

Filipp Piatov / 05.02.2014 / 17:18 / 2

Liebe Ukrainer,

Liebe Ukrainer, angesichts der angespannten Situation in Ihrem Land sehe ich mich dazu verpflichtet, Ihnen zu schreiben und im Namen meiner Nation die vollumfängliche Solidarität…/ mehr

Filipp Piatov / 04.02.2014 / 14:43 / 0

Platon Lebedew - Im Schatten der Ikone Chodorkowski

Keine Pressekonferenz, keine internationalen Reporter. Zuhause empfängt Platon Lebedew ein russisches Fernsehteam, zwei Stunden vor Redaktionsschluss. Seine Kinder hatten ihn am Freitagabend abgeholt und nach…/ mehr

Filipp Piatov / 31.01.2014 / 15:27 / 5

Janukowitsch treibt die Ukraine in den Bürgerkrieg

Janukowitsch hat es geschafft, alle zu verwirren. Ratlos ließ er die Oppositionsvertreter zurück, die der Macht plötzlich so nahe waren, wie nie zuvor und gleichzeitig…/ mehr

Filipp Piatov / 11.01.2014 / 12:58 / 1

SPD - Putins beste Freunde

Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition trägt die klare Handschrift der SPD. Doch nicht nur darauf beschränkt sich der Einfluss der Sozialdemokraten. Wie das Auswärtige Amt…/ mehr

Filipp Piatov / 10.11.2013 / 11:41 / 3

Das Sowjetprinzip oder wer darf ich sein?

Neulich in der U-Bahn. Neben mir sitzen zwei alte, russische Damen. Beide tragen Wintermäntel, Wollmützen und überdimensionierte Brillen, Winterkollektion 1917 eben. Aber mal Scherz beiseite,…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com