Hansjörg Müller / 18.11.2014 / 07:30 / 0 / Seite ausdrucken

Pensionär im Angriffsmodus

Wer dachte, Edmund Stoiber habe sich sieben Jahre nach seinem Rückzug aus der Politik darein ergeben, ein ruhiges Rentnerleben im heimischen Wolfratshausen zu führen, hat sich getäuscht. Und zwar gründlich. Aus der Nähe betrachtet sieht der langjährige bayrische Ministerpräsident, CSU-Chef und frühere deutsche Kanzlerkandidat zwar merklich gealtert aus (weniger Haar, höhere Stirn), doch das heisst nicht, dass er nun weniger angriffslustig wäre als zu seiner Zeit als aktiver Politiker.

Schlicht ist der Besprechungsraum in Stoibers Büro am Rand der Münchner Altstadt, am Boden Parkett, an der Wand einige wenige Fotos, die den Hausherrn unter anderem mit dem kalifornischen Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger und Frankreichs früherem Präsidenten Nicolas Sarkozy zeigen. Eher preussisch-schmucklos als bayrisch-barock also, ganz so, als wollte der 73-Jährige das Bild des aktenfressenden Technokraten, das deutsche Medien so gerne von ihm zeichneten, auch als Pensionär weiter kultivieren.

Aber was heisst schon Pensionär? Viel Zeit hat Stoiber nicht, in drei Stunden geht schon sein Flug nach Berlin, wo er einen seiner zahlreichen Talkshow-Auftritte absolviert. Es muss also schnell gehen und Stoibers überhastete, oft parodierte Redeweise, das Verschlucken von Vokalen, der Aufbau furchterregender Schachtelsätze, deren Ende wohl nicht einmal er selbst immer abzusehen vermag, all das verstärkt den Eindruck hektischer Betriebsamkeit.

Wie so viele aktive Alte hat Stoiber ein Ehrenamt übernommen: 2007 beauftragte die Europäische Union, für nicht wenige Bürger Inbegriff des bürokratischen Molochs, den eben abgetretenen Ministerpräsidenten, Schneisen ins Dickicht der Gesetze und Direktiven zu schlagen. Nicht weniger als 300 Verbesserungsvorschläge hat Stoiber seither gemacht. Im September ging sein Brüsseler Mandat zu Ende.

War er erfolgreich? Oder zeigt nicht allein schon die ungeheure Zahl von Vorschlägen, dass Stoibers Mission eine unmögliche war? Allein die Frage bringt ihn in Rage: «Wenn Sie das als Sisyphusarbeit bezeichnen, geben Sie von vornherein auf», sagt er, ungeachtet dessen, dass er selbst es war, der die griechische Sagengestalt bei seinem ersten Auftritt in Brüssel als Vergleichsgrösse heranzog.

«Unsere Welt wird ja immer komplexer, Gesetze haben ja einen Sinn», doziert er. Die Politiker, so Stoiber optimistisch, seien ja «immer in Bewegung und wollen immer das Leben verbessern». Die Kehrseite des edlen Strebens: Immer mehr Regeln und Kontrollen würden beschlossen, um die Kosten der Umsetzung habe sich die Politik bisher jedoch kaum gekümmert.

Um das zu ändern, will Stoiber Gremien schaffen. Worte wie «Normenkontrollrat» und «impact assessment center» schwirren durch den Raum. Will da einer noch mehr Bürokratie aufbauen, um die Bürokratie abzubauen? «Aber es gibt ja keine andere Lösung!», ruft Stoiber aus. «Oder Sie lassen es halt laufen.» Der Gedanke, dass es auf dieser Welt unlösbare Probleme geben könnte, dass das stetige Wachstum der Bürokratie ein nicht zu brechendes Lebensgesetz sein könnte, kommt ihm nicht. Als Technokrat ist er ein Mann mit Sinn für das Machbare und keiner, der über die tragischen, ausweglosen Seiten des menschlichen Daseins sinniert.

Oft ist es bei Ex-Politikern ja so, dass sie unbekümmerter plaudern, als sie dies in aktiven Zeiten taten, so dass das, was sie sagen, eher spannender und überraschender ist. Gerade andersherum verhält es sich bei Edmund Stoiber: Galt er früher als deftiger Bierzelt-Redner, der gegen die Herren in Brüssel wetterte, so ist er heute ein entschiedener Verteidiger des Bestehenden. «Keiner klatscht im Bierzelt – stört Stoiber nicht», schrieb der Berliner «Tagesspiegel» mit einem Anflug von Bewunderung über einen Auftritt des Ex-Ministerpräsidenten. Lange vorbei sind die Zeiten, als Stoiber «das blonde Fallbeil» genannt wurde und als Generalsekretär der CSU auch schon einmal vor der «durchmischten und durchrassten Gesellschaft» warnte, welche die SPD anstrebe – eine Aussage, für die er sich später entschuldigte.

Heute ist Stoiber ein Muster an politischer Korrektheit. Selbst was die üblichen Reizthemen anbelangt, ist er kaum mehr aus der Reserve zu locken: Probleme mit der Personenfreizügigkeit? 2004, als die EU acht osteuropäische Länder aufnahm, habe er sich darüber Sorgen gemacht, doch die Befürchtung, dass osteuropäische Einwanderer in Scharen kämen, habe sich schliesslich ja doch nicht bewahrheitet.

Meinen Einwand, in Grossbritannien werde die Einwanderung aus Europa nächstes Jahr aller Voraussicht nach zum Hauptthema im Wahlkampf werden, wischt Stoiber beiseite: Kompromisse bei der Personenfreizügigkeit werde es nicht geben, das sähen auch Länder wie Deutschland so, die Grossbritannien auf jeden Fall in der EU halten wollten. «Merkel hat dem britischen Premierminister Cameron ja signalisiert: ‹Das wars dann.›» Die Abgehobenheit von den Sorgen der Bürger, durch die sich die Brüsseler Politikerkaste auszeichnet, scheint bereits auf Stoiber abgefärbt zu haben: Dass selbst der frühere Premier John Major, einer der wenigen EU-Freunde in Grossbritanniens Konservativer Partei, ein zuwanderungsbedingtes Bevölkerungswachstum von sieben Prozent in einer Dekade als problematisch bezeichnet, scheint ihm entgangen zu sein.

Es ist ein sehr deutsches Politikverständnis, das Edmund Stoiber pflegt. «Weil die Welt sich ändert» lautet der Titel seiner 2012 erschienenen Autobiografie, ganz so, als müsste eine vorausschauende Elite einem geistig trägen Volk erklären, warum nur die EU Antworten auf die Gefahren der Globalisierung geben kann. Als ich die Schweizer Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative anspreche, seufzt Stoiber hörbar auf: «Die dauernde Volksgesetzgebung in der Schweiz, das macht denen echt Schwierigkeiten.» Man meint, echtes Mitgefühl für die geplagten Damen und Herren im Berner Bundeshaus herauszuhören.

Beinahe ein wenig unwirsch reagiert Stoiber, als ich die Probleme des Euro anspreche. Die «akute Eurokrise» sei ja vorbei, nachdem Ende 2012 der Europäische Stabilitätsmechanismus eingeführt worden sei. Und auf längere Sicht? Besteht das Problem der EU nicht eben darin, dass, um das dauerhafte Überleben des Euro zu sichern, ein Mass an politischer Integration erreicht werden müsste, das die Mehrheit der Bürger schlicht und einfach nicht will? Solche Fragen machen Stoiber ungeduldig: «Sie benutzen die alten, klassischen staatsrechtlichen Begriffe, in denen man hier nicht denken sollte», belehrt er mich. «Die EU ist natürlich kein Bundesstaat, aber sie ist auch mehr als ein Staatenbund. Sie ist ein Staatenverbund sui generis, wie das Bundesverfassungsgericht sagt.»

Ähnlich unklar wie das Wesen der EU bleibt auch die Antwort auf das, was Stoiber «die grosse Frage» nennt: «Was ist die Idee, die Faszination Europas?» Nur was die Vergangenheit anbelangt, vermag er sie zu beantworten: «Das war nach zwei Weltkriegen natürlich Frieden.» Er habe noch die zerstörten Städte und die Flüchtlinge aus dem deutschen Osten gesehen. Aber für die Generation seiner Kinder und Enkel gelte dies schon nicht mehr.

Es muss schnell gehen jetzt, in 20 Minuten muss Stoiber losfahren zum Flughafen, und sein persönlicher Mitarbeiter Rainer Haselbeck, der beim Gespräch mit dabeisitzt, rutscht auch schon ein wenig nervös auf dem Bürostuhl hin und her. Schokoladenkekse und Filterkaffee, die vor uns auf dem Tisch stehen, rührt Stoiber nicht an. Wie war das im September 2002, als Stoiber als erster Bayer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hätte werden können und nur ganz knapp dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder den Vortritt lassen musste?

«Das ist im Moment bitter», räumt er ein, um im selben Moment noch einmal zu betonen, wie nah er der Kanzlerschaft war: Gerade einmal 6000 Stimmen hätten gefehlt, bei über 60 Millionen Wahlberechtigten könne man sagen, «das wäre noch drin gewesen». Es sei halt wie nach dem schönsten Lattenschuss im Fussball, «doch nach zwei, drei Wochen war das bereits abgehakt. Es musste ja weitergehen und in Bayern habe ich dann kurz darauf mit 60 Prozent der Stimmen gewonnen.»

Seine Verdienste um Land und Partei streicht Stoiber gerne heraus. Kein Wunder: Der Kanzlerschaft war er näher als sein grosses Vorbild Franz Josef Strauss, und eine Zweidrittelmehrheit bei einer bayrischen Landtagswahl, das hat auch kein anderer geschafft, weder vor ihm noch nach ihm.

Wenn er davon berichtet, dass seine CSU bei den Landtagswahlen 2008, also ein Jahr nachdem er «unter dem Druck der Partei» habe zurücktreten müssen, «nicht gerade gut» abgeschnitten habe, dann schwingt zumindest ein wenig Genugtuung mit. Günther Beckstein, Stoibers Nachfolger als Ministerpräsident, und Erwin Huber, sein Erbe als CSU-Chef, verloren damals die absolute Mehrheit und erzielten somit ein für Bayerns offiziöse Staatspartei geradezu schandenmässiges Ergebnis. «Über meine Nachfolger Huber und Beckstein habe ich in der Öffentlichkeit nie etwas Negatives gesagt», betont Stoiber ein wenig schmallippig.

Hält Edmund Stoiber sich selbst für unentbehrlich? Die Frage liegt nahe bei einem, der noch im Rentenalter glaubt, den Brüsseler Augiasstall ausmisten zu müssen, und in politischen Talkshows Hyperpräsenz markiert. «Dass ich so viele Interviews gebe, liegt daran, dass ich so viele Anfragen erhalte.» Es gebe halt wenige Elder Statesmen bei CDU und CSU.

Sicher, fünfmal beim Talkmaster Günther Jauch aufzutreten, das sei «schon fast zu viel, aber denen fällt halt anscheinend immer als Erster der Stoiber ein». Und was Brüssel betreffe: Man habe da eben eine sehr bekannte Person haben wollen, einen, der auch Zugang zu den nationalen Regierungen und Parlamenten hatte. «Wer nicht diesen Vorlauf gehabt hätte, der wäre nicht überall eingeladen worden», gibt sich Stoiber überzeugt. Dennoch, die Politik, die er beinahe 40 Jahre betrieben habe, vermisse er nicht.

Jetzt muss Stoiber aber wirklich gehen, Haselbeck drängt, doch etwas muss noch geklärt werden: In einer Ecke des ansonsten nahezu schmucklosen Raumes steht auf einem Lesepult ein riesiges Buch, einer mittelalterlichen Bibel ähnlich. Imposant wirkt es schon, aber auch ein wenig grotesk, denn bei näherem Hinsehen ist zu erkennen, dass Schloss und Einband nicht etwa aus Gold und Leder, sondern aus Plastik bestehen. Es handelt sich um eine illustrierte Geschichte des FC Bayern München, in dessen Aufsichtsrat Stoiber sitzt, eine exklusive Edition mit geringer Auflage, wie Haselbeck betont. Siege, Niederlagen und Unentschieden aus mehr als 100 Jahren sind in der FC-Bayern-Bibel verzeichnet.

Meine scherzhafte Frage, ob es sich um eine Grossdruck-Ausgabe handle, wird von Haselbeck geflissentlich überhört. Denn Edmund Stoiber, daran besteht kein Zweifel, ist auch mit 73 noch lange kein Mann fürs Altenteil.

Erschienen in der Basler Zeitung: http://bazonline.ch/ausland/europa/Pensionaer-im-Angriffsmodus/story/16468686

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