Wolfgang Röhl / 08.06.2009 / 10:05 / 0 / Seite ausdrucken

Nineteen Eighty-Four. Ein Geburtstagsständchen

Vor sechzig Jahren, am 8. Juni 1949, erschien in London George Orwells Roman „Nineteen Eighty-Four“, vier Tage später in New York. Im ersten Jahr verkaufte er im Vereinigten Königreich 50 000 und in den USA rund 330 000 Hardcover. Wie viele Millionen bis heute gedruckt wurden, ist schwer zu sagen; wahrscheinlich eine zweistellige Zahl. Allein die Samisdat-Verbreitung – unter allen kommunistischen Regimes war das Buch verboten und begehrt - muss gigantisch gewesen sein. „Er mag nicht der beste Roman der Welt sein“, schreibt Robert Harris zum Jubiläum in der „Sunday Times“, „aber er ist sicher der einflussreichste.“ „1984“ wurde mehrfach für den Rundfunk bearbeitet, verfilmt, auf die Bühne gebracht. Und, vor allem, zitiert wie kein anderes Werk neben einem von Shakespeare. „Großer Bruder“, „Neusprech“, „Doppeldenk“ oder „Gedankenpolizei“ zogen als obligatorischer Schmäh in die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ein. Heutzutage wirkt die Orwell-Keule oftmals grotesk, davon später…

Die hektische Arbeit an dem Buch gab seinem Tbc-geschwächten Schöpfer den Rest. Der Journalist und Autor („Burmese Days“, „Animal Farm“), lebenslang neurotisch und hoch widersprüchlich, hatte sich zum Schreiben ausgerechnet auf der schottischen Insel Jura eingeigelt, wo es fast das ganze Jahr über feucht und kalt ist. Sechs Monate nach dem Erscheinen seinen Meisterwerks starb er, erst 46 Jahre alt. „Die Tragödie war“, so sein Freund Cyril Connolly, „dass er schon ein sterbender Mann war, als er endlich Ruhm und Reichtum erntete“.

Wie man zu „1984“ stand, das war immer auch ein politisches Statement. In den Diktaturen des Stalinismus konnte einen allein der Besitz des Buches in den Knast bringen. In England wütete die Labour Party dagegen, die sich in der Buch-Partei und deren Ideologie „Engsoz“ karikiert sah. Orwell, der wie viele Intellektuelle seiner Generation in jungen Jahren mit dem Kommunismus sympathisiert und im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft hatte, wiegelte öffentlich ab. Das Buch sei kein Angriff auf Labour oder auf den Sozialismus, sondern beschreibe die Gefahren „totalitärer Ideen“ im Allgemeinen.

Doch die vierschrötige Gestalt des Big Brother mit dem gewaltigen Schnauzer ähnelte schon rein äußerlich Stalin, nicht Hitler. Die Herrschaftsformen in „1984“, waren sie nicht eins zu eins dem Sowjetstaat entliehen? Die Partei im Buch, die unablässig die Vergangenheit umschreiben lässt (in einer solchen Fälscherabteilung arbeitet der Protagonist Winston Smith ), und der es nicht genügt, ihre Gegner zu liquidieren (sie müssen ihre Auslöschung selber bejahen), diese allgegenwärtige Krake mit ihrem virtuellen Feindbild „Goldstein“ alias Trotzki ist eben nicht die NSDAP und nicht die Falange Spaniens und nicht die Schwarzhemden Italiens. Sie ist, bis in Details, die KPdSU der Moskauer Schauprozesse auf technisch höherem Kontrollniveau.

Unter aufrechten deutschen Linken, nicht bloß unter Stalinisten, war das Buch bis in die siebziger Jahre hinein – na, sagen wir, verpönt. Es galt, wie sein weniger wirkungsmächtiges Pendant „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler, als Renegatenzeug, das man lieber überging – es nütze letztlich doch bloß „Strauß und dem Monopolkapital“. Strauß war über viele Jahre der ideale Butzemann, wie bis kürzlich George W. Bush. Immer, wenn den Linken was unangenehm war und sie eine Debatte abwürgen wollte, zogen sie Strauß aus dem Ärmel (der war übrigens auch, auf einem Plakat von Klaus Staeck, der wahre Profiteur, wenn nicht gar Hintermann, der RAF).

Ich habe „1984“ zuerst als Schüler gelesen; in der deutschen Ausgabe des Diana-Verlages. Auf dem Umschlag war eine öde Stadtkulisse zu sehen, im Vordergrund ein verwehter Zettel mit der Aufschrift „I love you“. Gebe gern zu, dass mich „1984“ gegen den Kommunismus mit imprägniert hat. Insofern ist, was mich betrifft, eingetreten, was die Gegner von „1984“ von Anfang an befürchtet hatten. Orwells Geniestreich war, seine politische Horrorvision als Roman anzulegen, in dem sogar kurzzeitig ein Quantum Trost aufflackert. Robert Harris: “Hätte er Non-Fiktion geschrieben, wäre das Buch schon vor Jahren vergessen gewesen.“

Bekanntlich ist die Welt summa summarum heute weit von Nineteen Eighty-Four entfernt. Ärgerlich, wenn Leute, die sich in ihren, von 60 Jahre Freiheit und Frieden offenbar völlig aufgeweichten, Birnen nicht mal ansatzweise vorzustellen vermögen, wie es in einer Orwellschen Diktatur zugeht (das Modell existiert ja noch zumindest in einem Staat – Nordkorea – höchst real); wenn solche Leute also vom „Orwellstaat“ schwätzen, weil in irgendeiner U-Bahnstation eine Überwachungskamera hängt, die Schläger, Messerstecher und Räuber identifizieren soll. Die ihr persönliches Datenprofil inklusive ihrer erotischen Präferenzen fröhlich auf StudiVZ oder Facebook stellen, einsehbar für jedermann, aber jederzeit gegen eine Volkszählung auf die Straße gehen würden. Die nach mehr nach Undercover-Agenten, Lauschangriffen und Staatsschutz schreien, wenn es um die NPD geht, aber dieselben Aktionen gegen die SED-Nachfolger als „Big Brother-Praktiken“ verdammen. Die irgendwelche idiotischen, rechtswidrigen, aber denn doch nicht direkt ins Straflager führenden Bespitzlungen der Mitarbeiter von Lidl, Bahn oder Telekom schon für Orwell in Reinkultur halten.

Mit solchen Leuten würde ich gern mal nach Zimmer 101 gehen. Nur ganz kurz.

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