Immer diese mysteriösen Fälle. Man liest davon in der Zeitung: Ein Mann kommt von der Arbeit nach Hause, wie jeden Tag. Holt eine Pistole aus dem Keller und erschießt wortlos seine Frau. Manchmal müssen auch die Kinder dran glauben. Anschließend springt er aus dem Fenster oder stellt sich der Polizei. Alle stehen vor einem Rätsel. Der Mann ist niemals polizeilich aufgefallen. Er hatte einen guten Job, war kerngesund. Seine Nachbarn beschreiben ihn als freundlich und hilfsbereit. Was ist geschehen? Welcher Teufel ist in diesen Mann gefahren? Seit Samstag, dem 12. Oktober, glaube ich eine Ahnung zu haben, wie so etwas passieren kann.
Am Samstag nämlich, to kill some time, habe ich in einem Wiesbadener Hotelzimmer zur Prime Time einen Teil der ARD-Sendung „Das Herbstfest der Träume – die überraschende Show mit Florian Silbereisen“ gesehen.
Darin traten Unterhaltungsandroiden wie Andrea Berg, Lena Valaitis, Michael Morgan und die ewig alte Mireille Mathieu auf. Die Sängerin Isabel Varell trällerte mit der Moderatorin Birgit Schrowange im Duett das Lied „Wir wär’n so gern im Kaufhaus eingesperrt“. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war eine Art Ballett der „Volksmusikspatzen“ aus Berlin. Die Kinder waren als Igel oder Pilze verkleidet und wurden schlumpfmäßig von einem Vadder namens Ross Antony angeführt, der vor ihnen und um sie herum hopste, irgendetwas emittierte, das wohl ein Stimmungshit werden wollte, dabei die Beine wie ein Blöder schmiss und derart schwulenfeindlich-brühwarm rüberkam wie Mr. Kidd und Mr. Wint aus dem James Bond-Klassiker „Diamantenfieber“.
Kurz, was sich da entwickelte, war ein Höllentanz des Infantilismus, so unsagbar albern, so brutal jedwedes Restgefühl für Geschmack, Anstand und Würde verletzend, dass eine ins Publikum schweifende Kamera Mühe hatte, begeisterte Mienen für Kurzeinblendungen einzufangen. Selbst ein Teil des Klatschviehs im Saal, welches immerhin freiwillig zur Aufzeichnung des schaurigen Reigens herbeigeeilt und festlich aufgebrezelt war, schien zu bemerken, dass hier eine Grenze überschritten wurde. Die Grenze vom Normal-Kretinösen, das sämtlichen „Volks“musikshows der Tele-Industrie notwendigerweise innewohnt, zum volldetschen und rundumbekloppten, im Grunde nur noch hartmedikamentös zu behandelnden Schwachsinn aus der Unterhaltungsmottenkiste eines Senderverbunds, dessen mächtigster Chefredakteur seine eigene Hochalimentierung und die seiner Kollegen durch den Zwangsgebührenzahler ernstlich und aktenkundig als „Demokratieabgabe“ bezeichnete.
Nun stellen derlei Schrott aber durchaus nicht nur Leute her, die in eine Anstalt gehören (und zwar in eine richtige, eine mit schönen weichen Gummizellen). Die Chefs und Redakteure der Produktionsgesellschaften und der Sender sind intellektuell schlichte, aber handwerklich versierte Zyniker, die ebensogut Propagandaopern für Kim Jong Un herstellen könnten. Zuschauer mit dem allerstinkigsten Pseudofolkloredreck grundzuversorgen, ist einfach ihr Job – privat können sie mitunter recht angenehm sein. Auch viele andere Mitwirkende im Hintergrund des irren Spektakels - Kameraleute, Toningenieure, Beleuchter, Schminkfrauen, Ausstatter, Cateringpersonal – sind erstklassige Profis. Da sitzt jede Einstellung, da passt jedes Kostüm - rein technisch gesehen.
Dass sie das Richtige im Komplettidiotischen tun, ist manchen schmerzlich bewusst. Wer sich mit ihnen zusammensetzt (gilt auch zum Beispiel für die Beteiligten an den berüchtigten Christine-Neubauer-Schundstreifen), kann nach dem zweiten oder dritten Bierchen die ehrliche Sehnsucht vernehmen, mal bei einer richtig guten Show oder einem gelobten TV-Spiel mittun zu dürfen. Der Hammermörder, der Hammermörder! Wie gerne wären sie bei dessen Dreh dabei gewesen! Ein Dutzend Mal habe ich im Laufe der Jahre von Fernsehschaffenden den Titel des legendären TV-Dramas gehört. Immer mit einem Seufzer unterlegt, der die rare und selbstredend verpasste Chance beschrieb. Doch Kabinettstücke wie „Der Hammermörder“ von 1990 gelingen dem pappsatten deutschen Staatsfernsehen nur alle Jubeljahr. Und TV-Shows, die das Niveau von RTL und Sat.1 nicht deutlich unterschreiten, sind im Programmschema von ARD und ZDF überhaupt nicht mehr vorgesehen.
Ich mag Fernsehleute. Jedenfalls die Malocher aus der zweiten und dritten Reihe. Sie haben es schwer. Sie ähneln Menschen, die im falschen Körper leben. Raus kommen sie nie und nimmer, Operation ausgeschlossen. Was aber muss in jemandem vorgehen, der eine Woche oder so bei den Proben zum „Herbstfest der Träume“ mitgewirkt hat? Wo der Regisseur vielleicht zum fünften Mal gebrüllt hat: Aus! Aus! Alles auf Anfang! Die Igel etwas mehr nach rechts! Ross, pass auf, dass du die Pilze nicht verdeckst!
Nach einer halben Stunde beim „Herbstfest der Träume“ ging ich ins Wiesbadener Altstadtviertel Schiffchen, um mich gebührend zu betrinken. Wenn ich mal wieder lese, dass ein unbescholtener Mensch aus heiterem Himmel etwas ganz und gar Grässliches getan hat, und wenn aus dem Artikel hervorginge, dass dieser Mensch vor seiner Tat auf der Payroll für eine Unterhaltungssendung der ARD oder des ZDF stand, wundern würde es mich nicht.
Mit einem guten Anwalt müsste er glimpflich davonkommen.