Israel wird ständig ermahnt und gescholten, dabei geht es vor allem um Zivilisten. Doch wie sieht die kriegsrechtliche Lage eigentlich aus? Nun, Israel hat sehr viel mehr Spielraum, als man meinen könnte. Selbst Angriffe auf Zivilisten, die nicht direkt an den Feindseligkeiten beteiligt sind, sind rechtlich nicht absolut verboten. Prof. Uwe Steinhoff forscht zur Ethik der Gewalt.
Wenn Sie von einer mordlustigen Bande angegriffen werden, die Ihnen den Kopf abschlagen will, werden Sie wahrscheinlich nicht amüsiert sein, wenn der humanitäre Beobachter Sie von der Seitenlinie aus gleich im Anschluss an seine pflichtschuldige Verurteilung der Attacke dazu mahnt, sich bei Ihrer Verteidigung „zurückzuhalten“. Ein Leser, der hier eine Analogie zum Gaza-Israel-Konflikt vermutet, mag darauf hinweisen, dass erstens Notwehr sehr wohl Beschränkungen unterliegt und zweitens militärische Gegenmaßnahmen und belagerungsähnliche Methoden nicht nur Angreifern, sondern auch unschuldigen Zivilisten schaden. Mit anderen Worten: Israel mag entschuldbar verärgert sein, kann sich aber nicht zu Recht über Forderungen nach Zurückhaltung beschweren.
Israel könnte sich jedoch zu Recht beschweren, wenn bestimmte vorgeschlagene Beschränkungen, wie es derzeit geschieht, in den Status definitiv verbindlicher rechtlicher und moralischer Regeln erhoben werden, obwohl sie tatsächlich auf den fraglichen Konflikt nicht anwendbar sind – oder zumindest nicht annähernd so eindeutig wie behauptet.
So ist aus Sicht des humanitären Völkerrechts, d.h. des Kriegsrechts, die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten hier nicht anwendbar. Die Hamas-„Kämpfer“ sind weder Mitglieder einer anerkannten bewaffneten Streitkraft, noch haben sie sich bei ihren Massentötungen an die Anforderungen gehalten, die Artikel 4a (2) der Dritten Genfer Konvention an irreguläre bewaffnete Gruppen stellt, darunter „ein festes, aus der Ferne erkennbares Erkennungszeichen zu haben“, „Waffen offen zu tragen“ und „ihre Operationen in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges durchzuführen“.
Das Zusatzprotokoll I (das bestimmte Schutzbestimmungen des Kriegsrechts auf „Befreiungsbewegungen“ ausdehnt) ist weniger strikt, verlangt aber immer noch, dass solche Streitkräfte „einem internen Disziplinarsystem unterliegen, welches unter anderem die Einhaltung der in bewaffneten Konflikten geltenden Regeln des Völkerrechts durchsetzt“. Dies ist bei der Hamas offensichtlich nicht der Fall.
Israel hat es also nicht mit einer Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten zu tun, sondern zwischen Zivilisten, die gezielt angegriffen werden dürfen und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Zivilisten, die „direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen“, wie es in der juristischen Formulierung heißt, sind legitime Ziele, d.h. sie können absichtlich angegriffen werden, ohne dass ihre Rechte damit verletzt werden. Die „unmittelbare Teilnahme“ schließt Zivilisten ein, die Waffen für die „Kriegsanstrengungen“ herstellen oder sie an die Frontlinien oder Abschussorte liefern.
Darüber hinaus könnten in diesem Konflikt sogar Zivilisten, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, im Prinzip legalerweise gezielten Angriffen ausgesetzt werden. Der Grund dafür ist, dass Israel nicht Vertragspartei des Zusatzprotokolls I ist, das unter anderem sogenannte „Kriegsrepressalien“ gegen (nicht direkt an den Feindseligkeiten beteiligte) Zivilisten in nicht besetzten Gebieten ausschließt (für besetzte Gebiete waren sie bereits ausgeschlossen). Kriegsrepressalien sind vorsätzliche „Verstöße“ gegen eine Regel des Kriegsvölkerrechts, die mit dem Ziel begangen werden, die gegnerische Partei zu veranlassen, ihre vorigen Verstöße gegen dieselbe oder eine andere Rechtsnorm einzustellen. Sie sind keine wirklichen Verletzungen des Völkerrechts, wenn sie eben dieses Ziel verfolgen, ein letztes Mittel darstellen und verhältnismäßig sind.
Wer dem Judenmord applaudiert...
Israel ist nicht das einzige Land, das Vorbehalte gegen die Abschaffung von Kriegsrepressalien hat. Solche Vorbehalte wurden unter anderem auch von den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland geäußert. Angesichts dieser Vorbehalte bedeutender Staaten ist die oft zu hörende Behauptung, ein absolutes Verbot kriegerischer Repressalien sei jetzt jus cogens nicht glaubwürdig. Ebenso zweifelhaft ist die Behauptung, Gaza sei besetztes Gebiet. Schließlich hat sich Israel schon vor langer Zeit zurückgezogen, und der Gazastreifen wird nun von der Hamas regiert. All dies bedeutet freilich nicht, dass es Israel ipso facto erlaubt ist, gezielte Angriffe auf Zivilisten durchzuführen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten beteiligt sind, aber es bedeutet sehr wohl, dass solche Angriffe rechtlich nicht absolut verboten sind.
Genauso wenig verboten ist eine Blockade des Gazastreifens ohne die Erlaubnis, „humanitäre Hilfe“ zu leisten. Das Verbot, die Zivilbevölkerung auszuhungern, ist zwar jetzt wohl Teil des jus cogens, doch scheint die Mehrheitsmeinung zu sein, dass sich dieses Verbot auf das absichtliche gezielte Aushungern der Bevölkerung bezieht, während das „kollaterale Aushungern“ im Zuge des Aushungerns feindlicher Truppen weiterhin legitim wäre. Im Übrigen lässt sich ein Vorsatz nicht beweisen, indem man auf rachsüchtige Verlautbarungen ausgewählter Politiker verweist (und die gegenteiligen Erklärungen anderer Politiker ignoriert); vielmehr muss der Vorsatz aus Taktik und Strategie abgeleitet werden, und die Aufforderung an eine Bevölkerung, ein belagertes Gebiet zu verlassen, lässt sich kaum mit der angeblichen Absicht vereinbaren, sie auszuhungern. Darüber hinaus ist das Abschalten der Stromversorgung selbstverständlich nicht dasselbe wie Aushungern.
Natürlich dürfen weder Blockaden oder Repressalien noch irgendeine andere militärische Maßnahme unverhältnismäßig sein. Doch Verhältnismäßigkeit ist das am schwersten zu greifende Prinzip des Kriegsrechts. Da das Gesetz selbst wenig konkrete Anhaltspunkte dafür liefert, was verhältnismäßig ist und was nicht, ist es unerlässlich, ethische Überlegungen heranzuziehen, um eine Bewertung vornehmen zu können.
Ein grundlegendes Element der Moral ist der Grundsatz der Gegenseitigkeit. Es wird manchmal in der Goldenen Regel ausgedrückt „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“, ist aber in seiner negativen Form sogar noch plausibler und stringenter, was bedeutet, dass die eigenen moralischen Rechte davon abhängen, dass man die gleichen Rechte Anderer respektiert. Ein Mörder kann sich nicht beschweren, wenn Andere ihm das antun, was er so gerne Anderen antut. Ebenso haben Zivilisten, die dem Abschlachten von Frauen und Kindern applaudieren, wie es viele vor kurzem im Gazastreifen getan haben, ihren Anspruch auf berechtigte Beschwerde verwirkt oder zumindest gemindert, wenn der Gegner sich weigert, ihrem Leben mehr Gewicht beizumessen, als sie selbst dem Leben unschuldiger Anderer zugestanden haben. Dies verschiebt die Verhältnismäßigkeitsbeschränkungen in einer Weise, die den israelischen Verteidigungskräften (IDF) mehr moralischen Spielraum verschafft.
Nichts davon bedeutet, dass die IDF diesen Spielraum nutzen sollten. Sie werden es wahrscheinlich nicht. Dies würde jedoch bestätigen, dass zivilisierte Nationen und bewaffnete Streitkräfte im Gegensatz zu Mörderbanden manchmal über ihre Pflicht hinausgehen.
Uwe Steinhoff ist Professor und Head am Department of Politics and Public Administration der Universität Hongkong. Seine gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf die Ethik der Gewalt, die Natur von Rechtfertigungen, globale Gerechtigkeit, Einwanderung und das Recht auf Ausschluss. Ein weiteres Thema ist die Redefreiheit, für die er entschieden eintritt.