Obwohl das Scheitern der Initiatoren der Volksabstimmung vom Sonntag in Berlin eindeutig ist, lässt sich schlecht sagen, wer nun die wirklichen Gewinner und Verlierer sind. Das lässt sich schon deshalb schwer einschätzen, weil man kaum sagen kann, worum es bei dem Referendum eigentlich ging. Vordergründig war das Thema die Schließung oder Erhaltung des Innenstadtflughafens Tempelhof. Mit diesem verbindet man im ehemaligen Westberlin eine symbolisch befrachtete Bedeutung, vor allem als dem Flughafen der Luftbrücke. Die Luftbrücke wiederum symbolisiert das Durchhalten der von Stalin und seinen Lakaien belagerten Frontstadt Westberlin, ihre Standfestigkeit im Kalten Krieg. So gesehen, geht es zumindest um mehr als um die Zukunft eines Flughafens.
Im Grunde geht es um die Deutung der Geschichte, um die Hoheit darüber. Das zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Wahlbeteilung und die Abstimmungsergebnisse nach Bezirken. Die höchste Wahlbeteiligung und die meisten Ja-Stimmen für den Weiterbetrieb des Flughafens kommen aus den bürgerlichen Bezirken des ehemaligen Westens der Stadt. Kernbereich der Zustimmung war Steglitz-Zehlendorf. Das geringste Interesse ist erwartungsgemäß aus dem Osten zu melden, aus Mitte, aber auch aus der berüchtigten Zone des homo sovieticus, aus Marzahn, und naturgemäß aus dem Kiez der sozialversicherten Rebellen in Kreuzberg.
Von Marzahn aus gesehen, ist Tempelhof weit weg, jedenfalls nicht näher als der ehemalige Ostflughafen Schönefeld, den der Berliner Senat favorisiert. In Marzahn betrachtet man die Tempelhofangelegenheit als West-Problem, als West-Luxusproblem. Immer wieder zeigt sich in den Berliner Debatten, auch über die Flughafenfrage hinaus, die Fremdheit zwischen Ost und West, die unterschiedliche Geschichte. Dabei vergisst man, dass auch vor dem Zweiten Weltkrieg die Interessenlage in der Stadt kaum auf einen Nenner zu bringen war. Auch damals hatten die einzelnen Bezirke nicht viel miteinander zu tun. Auch damals hatten sich Weddinger und Grunewalder wenig zu sagen. Berlin war immer schon ein Konglomerat. Gewissermaßen nicht nur Stadt sondern auch Agglomeration. Selbst das mythisierte Goldene-Zwanziger-Leben spielte sich nur auf einem Bruchteil des Territoriums ab.
Vergleicht man Berlin mit London oder Paris, fällt einem regelmäßig eine nur scheinbare Marginalität auf, die ungewöhnlich große Fläche der Stadt. Das großformatige Territorium gleicht wohl die Differenzen und Inkompatibilitäten aus, es verdünnt aber auch den Grad der Urbanität. Berlin hat kein richtiges Umland, von dem es sich durch einen urbanen Charakter absetzen könnte. Nirgends, weder in London noch in Paris, ist das Umland so dünn besiedelt als im Berliner Raum. Brandenburg ist weder ein Gegengewicht noch eine Ergänzung zu Berlin. So ist Berlin nicht nur Stadt, es ist auch sein eigenes Umland. Marzahn ist Umland, aber auch Zehlendorf.
Berlin hat aber nicht nur ein Problem mit seinen Rändern sondern auch mit seinem Zentrum. Und das nicht allein aus politischem Grund. Nicht erst die Teilung der Stadt durch den Kalten Krieg und Ulbrichts Mauerbau haben dieses Problem geschaffen, Berlin hatte bereits davor einen Osten und einen Westen, den Alexanderplatz und den Kudamm. So gesehen, ist der Alex nicht bloß DDR und Fernsehturm und auch der Kudamm ist mehr als die Fifties und das Theater des Westens.
Wenn das alteingesessene Bürgertum der Stadt zum Instrument des Plebiszits greift, so hat das zwar mit dem Nachkriegswestberlin und seiner kalten Abwicklung zu tun, aber auch mit der generellen Defensive, in die das Bürgerliche seit der Vereinigung geraten ist. Nach den schweren Krisen des politischen Filzes in den neunziger Jahren, die am deutlichsten mit dem Skandal um die Landesbank und ihre geschlossenen Fonds, von denen Politiker und Lobbyisten aller Richtungen profitierten, einschließlich die Millionäre von der PDS, zu tage trat, kam es in der Folge zu der bis heute im Halbschlaf regierenden Koalition aus Sozialdemokraten und SED-Erben. Der neue Grotewohl heißt Wowereit. Es ist der Politiker Deutschlands mit dem kürzesten Programm: Liebe Genossinnen und Genossen, ich bin schwul und das ist auch gut so, Sie wissen Bescheid. Damit hat er zwar nicht die politische Landschaft revolutioniert, aber um ein Haar den Duden in Verlegenheit gebracht, den Sonderband Wörter und Wendungen.
Wowereit ist der unangefochtene regierende Bürgermeister - so sein offizieller Titel - der Erlebnisstadt Berlin. Er ist Mister Paris Hilton von Berlinale und Karneval der Kulturen. Routinierter Eröffner von Events und Büffets. Seine Politik besteht darin, keine Politik zu machen. Noch nie hat eine Berliner Stadtregierung so wenig getan als diese. Damit ist sie aber auch Ausdruck der allgemeinen Lethargie und nicht zuletzt repräsentativ. Ihre Anhängerschaft bildet eine solide Mehrheit, die sich aus den unterschiedlichsten Schichten rekrutiert. Die einzelnen Gruppen, die das Regierungslager in Berlin mittragen, reden im übrigen kaum ein Wort miteinander. Es ist zunächst einmal das Spießer-Milieu aus dem Westen, das traditionell sozialdemokratisch wählt, und schon bessere Zeiten gesehen hat, mit einem Willy Brandt als Bürgermeister. Dazu kommt jener Osten, der sich gerne von seiner Ex-Nomenklatura vertreten lässt, angeblich wegen der Ost-Identität, was auch immer das heißen mag, jenseits des homo sovieticus. Nicht zu vergessen, Teile des Altrebellentums aus dem Westen. Kurz, all jene, die der nicht nur anatomisch irrigen Annahme anhängen, dass das Herz links schlägt.
Der seltsamste Bestandteil dieser Gesamtszene aber ist die Neue-Mitte-Fraktion. Es sind die Aufsteiger der jüngeren Generationen, die in einem anarchischen Wirtschafts- und Kulturgetriebe Fußgefasst haben, die Erfolgreichen aus dem Abiturienten- und Akademiker-Präkariat, die Erben von Achtundsechzig und des Vermögens von Oma und Tante, die das programmatische Bedürfnis haben, zum anerkannten guten Teil der Menschheit zu gehören. Es sind die, die noch Brokdorf mitbekommen haben, und irgendwie Verständnis für Attac aufbringen. Sie stufen die USA im Gespräch als gefährlich ein, reisen aber ganz gern nach New York, nach Manhattan. Sie haben sich am Prenzlauer Berg, in Mitte und am Friedrichhain eingerichtet. Als Prada-Meinhof, sozusagen.
Sie alle sind die Träger einer Stadtregierung, die den Bankrott vor sich herschiebt, als handele es sich dabei um eine bewährte Gehhilfe. Dieses Berlin ist nicht Hauptstadt, weil es Hauptstadt wäre, sondern um einen Sonderstatus einzuklagen, die Subvention durch den Bund, also Deutschland. Das Zweckbündnis der linken Kräfte des Herzens in Ost und West bedient letzten Endes den Kreislauf der Sozialkassen. Berlin hat eine schwindelerregende Zahl von Hartz-IV-Empfängern und noch mehr Angestellte zu versorgen. Der größte Arbeitgeber ist der Verkehrsbetrieb BVG. Die Wahrheit ist, beim jetzigen Stand der Dinge und bei der jetzigen politischen Untätigkeit wird die Stadt ihren Schuldenberg niemals abbauen können.
Das aber beschäftigt praktisch niemanden und schon gar nicht die Helden der Spaßgesellschaft. Schließlich bleibt der Staat qua Selbstdefinition kreditwürdig, die Insolvenz ist im Stadtrecht ja nicht vorgesehen, nirgends. So kann im Grunde nicht viel passieren. Und hip ist Berlin ohnehin. Die Hotelbetten sind regelmäßig gut belegt, die Party läuft. Was will man mehr? Dass der Tanz auf dem Vulkan bereits begonnen hat, selbst wenn sein Konzertmeister Max Raabe heißt, wem sagt man das? Schließlich spielen drei Opernhäuser am schicken Abgrund. Und dass das Pseudo-Proletariat der Stadt für die Prolls im Roten Rathaus stimmt, weil es den Namen ideologisch deutet, obwohl er auf nichts weiter als auf den Backsteinbau zurückzuführen ist, wen stört’s?
Verloren haben am Sonntag die Gegner der Spaßgesellschaft, die, die es ernst meinen mit Wirtschaft und Leistung, mit der Zukunft unserer Gesellschaft, sie haben am Sonntag symbolisch verloren, tatsächlich haben sie schon lange verloren. Klaus Wowereit aber ist Paris Hilton. An ihm käme man zur Not noch vorbei, an ihr nicht. Berlin ist eine Reise wert, eine Studienreise.