Henryk M. Broder / 21.04.2015 / 13:02 / 0 / Seite ausdrucken

Im Lande der Ringer und Schachspieler

Unterwegs in Armenien und Nagorno-Karabach

Wie es der Zufall so will, kamen Kim Kardashian und ich gleichzeitig in Jerewan an. Sie quartierte sich mit ihrer Entourage im Marriott am Platz der Republik ein, ich machte es mir im Hyatt bequem, ebenfalls am Platz der Republik, wenn auch einen Stern bescheidener.  Kim Kardashian ist wohl die berühmteste Armenierin aller Zeiten, noch berühmter als der inzwischen 91 Jahre alte Charles Aznavour, der eigentlich Asnawurjan heißt.

Während Aznavour von älteren Armeniern wie ein Gott verehrt wird, ist Kim Kardashian das Idol der Jüngeren. Hunderte warten seit Stunden im Regen vor dem Eingang des Marriott, um sie einmal in natura zu sehen. Derweil darf kein Sterblicher das Hotel betreten, die Gäste wurden angewiesen, die Lobby zu meiden und den Hinterausgang zu benutzen. Auch die Medien sind hin und weg. Radio, Fernsehen und Zeitungen halten jeden Schritt und jedes Wort von Kim Kardashian fest. Sogar die Zeitung „Menschen-rechte“, 1989 gegründet, macht mit Kardashian auf. Der Sprecher des armenischen Parlaments, Galust Sahakjan, sagt: „Die ganze Welt schaut auf Armenien. Wir sind sehr stolz auf unsere Kim.“

Es führt kein Weg zum Ararat

Gleich zu Beginn meines Besuches lerne ich zweierlei. Fast alles in Armenien heißt Ararat. Der weltbekannte Cognac, eine Zigarettensorte, eine Bank, eine Ketchup-marke, eine Zeitung, eine TV-Station, zahllose Cafes, Clubs und Restaurants, Konfitüren, eingelegte Gurken, Fruchtsäfte und Kekse. Der heilige Berg Ararat, wo der Legende nach Noah mit seiner Arche gelandet ist, steht freilich auf der „falschen“ Seite, in der Türkei, und kann nur aus der Ferne bewundert werden, ein majestätisches Massiv, das den Armeniern so viel bedeutet wie der Berg Sinai den Juden und Santiago de Compostela den Katholiken. Es führt aber kein Weg zum Berg Ararat, die Türkei hält die Grenze geschlossen. Daher kommt es vermutlich, dass ein Armenier, der zur Toilette muss,  sagt: „Ich gehe jetzt zum türkischen Konsulat.“ Eine Art Wortrache des armenischen Davids am türkischen Goliat.

Da ein Treffen mit Kim Kardashian aussichtslos scheint, besuche ich eine Schule am Rande der Innenstadt, die nach Ruben Vardanjan benannt wurde. Den kennt jedes armenische Kind. Vardanjan, 1929 in der Sozialistischen Sowjetrepublik Armenien geboren, war ein sagenhafter Ringer und Sportlehrer. Von 665 Kämpfen in 16 Jahren gewann er 627, er war zehn Mal armenischer Meister und zwei Mal Champion der Sowjetunion. Als er 1996 starb, hatte er auch eine lange Karriere als Trainer und Schiedsrich-ter bei internationalen Wettbewerben und Olympischen Spielen hinter sich. Ihm hat es das kleine Armenien zu verdanken, dass es zu einer Großmacht in der Disziplin Ringen wurde.

Hunderte von Jungs im Alter zwischen 10 und 18 Jahren wollen in Vardajans Fußstapfen treten. Dafür trainieren sie täglich auf einer riesigen Matte, die jedes Mal vor Schmerz aufheult, wenn einer der jungen Ringer hinknallt. Auch Arthur Abraham („King Arthur“), der Profiboxer, der bei seiner Geburt im Jahre 1980 Awetik Abrahamjan hieß und seit 1995 in Deutschland lebt, hat mit dieser Matte Bekanntschaft gemacht. Sagen zumindest Arthur und Vahan, die vor der Halle stehen, weil man drinnen nicht rauchen darf. Warum ausgerechnet die Armenier eine so große Lust am Ringen haben? „Keine Ahnung“, sagt Arthur, „es ist eben so“. – „Weil es ein richtiger Männersport ist“, sagt Vahan, „und Armenier sind noch richtige Männer“.

Etwa 100 Kilometer nordöstlich von Jerewan liegt die Stadt Dillijan, 1500 Meter über dem Meer, umgeben von Bergen und Wäldern. Die Armenier nennen die Gegend „unsere kleine Schweiz“. Dillijan hat etwa 15.000 Einwohner, ein Dutzend Hotels und viele Mineralquellen, deren Heilwasser in Flaschen vermarktet wird.

Die Rolle der Frau in Armenien

Am Rande des Ortes befindet sich eine nagelneue Schule, in der man außer Ringen alles lernen kann. Mathematik und Philosophie, Geschichte und Natur-wissenschaften, Kunst und Musik. Das Dillijan-College gehört zum „United World Colleges“- Netzwerk, das 1962 gegründet gegründet wurde, um junge Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen zu bringen, damit sie mit- und voneinander lernen. Trotz der idealistisch anmutenden Zielsetzung ist das UWC mit seinen 15 Schulen in Europa, Asien, Südafrika, Nord- und Mittelamerika heute eine renommierte Institution. Es vergibt das so genannte „Bakkalaureat“, was etwa dem deutschen Abitur entspricht, nur dass es interna-tional anerkannt wird und die Absolventen keine Zusatzprüfungen ablegen müssen, wenn sie außerhalb ihres Herkunftslandes studieren wollen.

In Dillijan sind es 96 Schüler/Studenten aus 48 Ländern, 16 bis 18 Jahre alt. Eine von ihnen ist Maike Pfeiffer aus Freiburg, wo sie das Droste-Hülshoff-Gymnasium besucht hat. Nach einem halben Jahr als Austausch-schülerin im australischen Perth kam sie in Freiburg nicht mehr zurecht und wollte „wieder weg“, am liebsten nach Honkong oder Costa Rica. Sie bewarb sich beim UWC, und als man sie wissen ließ, dass in Dillijan noch ein Platz frei wäre, da musste sie „erst einmal nachsehen, wo Armenien liegt“. Im September 2014 kam sie in Dillijan an, heute, acht Monate später, sagt sie: „Mir geht es hier extrem gut.“ Und das, „obwohl alles ganz anders ist als zu Hause“ und sie „zweimal so viel arbeiten muss wie früher in Freiburg“.

Der reguläre Unterricht geht montags bis freitags von viertel nach Acht bis viertel nach Drei, dann müssen die Hausaufgaben gemacht werden, und am Wochenende stehen „Aktivitäten“ auf dem Programm: Campen, Klettern, Wandern, Armenisch-Kurse und Besuche in Gemeinden außerhalb von Dillijan, wo es passieren kann, dass Maike Pfeiffer aus Freiburg „für viele Einheimische der erste Mensch ist, der nicht aus Armenien oder Russland kommt“. Weswegen sie darauf achten muss, wie sie sich anzieht, denn „die Rolle der Frau in Armenien“, vor allem auf dem Lande, ist doch eine ganz andere als daheim im Breisgau. „Es braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen.“

Dennoch hat sie es noch keinen Moment bereut, dass sie für zwei Jahre nach Dillijan gekommen ist. Sie weiß noch nicht, was und wo sie später studieren wird, nur eines steht fest: „Mit dem Bakkalaureat in der Tasche habe ich beste Chancen, an jeder Universität angenom-men zu werden.“

Die Mutter aller christlichen Kirchen

Die Idee, in Dillijan eine internationale Schule einzurichten, hatte ein Exilarmenier, der zufällig genauso heißt wie der armenische Super-Wrestler: Ruben Vardanjan. Ein Geschäftsmann, der in Russland lebt und weltweit aktiv ist. Er überredete ein Gruppe von Investoren dazu, seinem Beispiel zu folgen und sich an einem Non-Profit-Unternehmen zu beteiligen. Deren Namen stehen auf einer großen Metalltafel am Eingang zum College.

So etwas gibt es öfter in Armenien. Viele kulturelle und soziale Projekte werden von Diaspora-Armeniern finanziert. Drei Millionen Armenier leben in ihrer „historischen Heimat“ am Fuße des Ararat, sechs bis sieben Millionen in aller Welt, in Russland, in den USA, Kanada, Australien, Frankreich, Deutschland. Und egal, welchen Pass sie in der Tasche haben, sie bilden eine Nation, deren Basis die armenische Kirche ist. Im Jahre 301 von Gregory dem Erleuchteten gegründet, ist sie die Mutter aller christlichen Kirchen. Zwölf Jahre später, 313, nahm der weströmische Kaiser Konstantin der Große das Christentum an und erklärte es zur Staatsreligion in seinem Reich. Die armenische Kirche hat immer ihre Unabhängigkeit bewahrt. Der Glaube ist der Kern der armenischen Identität, noch stärker und umfassender als z.B. bei den Juden und den Polen, die sich ebenfalls über religiöse Tradition definieren.

Deswegen ist es ganz selbstverständlich, dass in Masis die Feier zum 100. Jahrestag der Pogrome von 1915 vom Bischof der örtlichen Diözese, Navasard Kchojan, mit einem Gottesdienst im Freien eröffnet wird. Erst nachdem er einen neuen Kreuzstein eingesegnet hat, haben die anderen Honoratioren das Wort, darunter auch der Mann, der den Kreuzstein gestiftet hat, ein Exil-Armenier aus Moskau, der in Masis geboren wurde.

Jeder trauert auf seine Art

Die Stadt, eine halbe Autostunde südlich von Jerewan, wurde Anfang der fünfziger Jahre von der sowjetischen Verwaltung aus dem Boden gestampft. Und so sieht sie auch aus, ein Nachruf auf sozialistische Architektur und Lebensweise. Die herunter gekommenen fünfstöckigen Wohnblocks im Zentrum werden nur von der Hoffnung der Einwohner auf bessere Zeiten zusammen gehalten. In Deutschland würde man von einem „sozialen Brenn-punkt“ sprechen, hier ist es die übliche postsozialisti-sche Tristesse, die ihre Nachhaltigkeit demonstriert.

Dennoch ist die Feier sehr bewegend. Tausende von Armeniern sind gekommen, um ihrer ermordeten Angehörigen zu gedenken. Die Straßen sind mit Fahnen der Staaten gesäumt, die den Massenmord an den Armeniern als Völkermord anerkannt haben: Die Schweiz und Frankreich, Belgien und Italien, Kanada und Holland, Uruguay und der Libanon, alles in allem 22 Nationen. Zwei, die sich als erste mit den Armeniern solidarisieren müssten, sind nicht dabei, Deutschland und Israel. Die Regierungen in Berlin und Jerusalem wollen die guten bzw. schlechten Beziehungen mit der Türkei nicht aufs Spiel setzen, vermeiden deswegen den Begriff Völkermord und sprechen lieber von einer „Katastrophe“, als hätte es 1915 ein Erdbeben gegeben, das viele Leben gekostet hat. Ein Taktieren, das an Schäbigkeit nicht zu übertreffen ist. Die Armenier wissen es und wundern sich. Aber es liegt keine Wut in der Luft, es wird getanzt und gesungen, und es werden armenische Gedichte rezitiert. Jeder trauert auf seine Art.

Mir fällt ein großer schwarzer Lexus-SUV auf, der unweit der Bühne parkt. Er hat vorne kein Kennzeichen, und hinten eines, das den armenischen ähnelt. Es ist der Dienstwagen des Präsidenten von Nagorno-Karabach,  klärt mich der Mann auf, der neben dem SUV steht. „Sind Sie sein Fahrer?“, frage ich. „Nein, ich bin sein Bürochef, mein Name ist David Babajan.“

Badajan, 1973 geboren, hat Geschichte und Politik studiert, spricht Englisch besser als die meisten Engländer und ist ein Experte für Chinas geopolitische Interessen. Vor kurzem hat das Journal of International Affairs der Yale University einen Artikel von ihm zu diesem Thema veröffentlicht. „New Silk Roads in the Southern Caucasus: Chinese Geopolitics in a Strategic Region“.

Wein in Cola-Flaschen
Die Republik von Nagorno-Karabach ist ein relativ junges Gebilde, das außerhalb des Kaukasus kaum jemand kennt. Als Armenien noch eine Sozialistische Sowjetrepublik war, lag Nagorno-Karabach auf dem Gebiet des benachbarten Aserbaidschan,  eine armenische Enklave (oder Exklave, je nach Blickrich-tung)) wie das deutsche Büsingen inmitten des Schweizer Staatsgebietes. Zu Zeiten der Sowjetunion spielten Grenzen zwischen den einzelnen Republiken keine Rolle, die Brüdervölker waren einander in erzwungener Freundschaft zugetan. Mit dem Ende der Sowjetunion aber brachen lange unterdrückte und geleugnete ethnische Konflikte wieder aus, es kam zu einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der von 1991 bis 1994 dauerte und mit einem Waffenstillstand endete, der in Moskau ausgehandelt wurde. Auf beiden Seiten gab es Tausende von Toten und Vertriebenen. Es kam auch zu ethnischen Säuberungen. De facto hatte das kleinere und schwäche-re Armenien das größere und stärkere Aserbaidschan besiegt. Die Grenzen von Nagorno-Karabach wurden erweitert, die frühere Insel mit dem armenischen Fest-land territorial verbunden. Allerdings –  es fand kein Anschluss an und keine Wiedervereinigung mit Armenien statt. Stattdessen wurde in Stepanakert, der Hauptstadt von Nagorno-Karabach, die Republik Nagorno-Karabach ausgerufen. Sie hat eine eigene Fahne, eine eigene Hymne und eine eigene Armee, druckt eigene Briefmarken und stellt ihren Bürgern eigene Pässe aus. Ist also ein richtiger Staat – bis auf einen kleinen Schönheitsfehler. Bis jetzt hat kein Land Nagorno-Karabach anerkannt, nicht einmal Armenien. Allerdings unterhält die Regierung von Nagorno-Karabach eine konsularische Vertretung in der armenischen Hauptstadt Jerewan, die Visa für Touristen ausstellt.

„Kommen Sie uns doch mal besuchen“, sagt David Badajan. „Sehr gerne“, sage ich und sitze schon zwei Tage später mit einem Kollegen aus Luxemburg in einem Minibus unterwegs nach Stepanakert. Der Weg führt über verschneite Pässe und marode Straßen durch eine Landschaft, die so schön ist, dass man anhalten und Gott zu seiner Schöpfung gratulieren möchte. Nur die vielen Schlaglöcher, die den Fahrer zu einer Slalomtour zwingen, stören das Fahrvergnügen. Dabei ist es eine Verkehrsader, die Armenien mit dem Iran verbindet. Entlang der Strecke stehen Kioske, die Getränke und Snacks anbieten. Die Händler wissen, was die Iraner mögen und haben armenischen Rotwein in bauchige 2.5-Liter Cola-Flaschen abgefüllt. Die iranischen Grenzer müssen blind sein und keine Nasen haben. Oder sie dürfen auch mal einen Schluck aus der Pulle nehmen.


Ein Volk, verteilt auf zwei Staaten

Als wir endlich in Stepanakert ankommen, dämmert der Tag seinem Ende entgegen. Der Präsident der Republik Nagorno-Karabach, Bako Sahakjan, erwartet uns in seinem Amtssitz im Zentrum der Stadt. Das Haus war mal Hauptquartier der kommunistischen Partei von Nagorno-Karabach, während des Krieges wurden hier die Verletzten behandelt. Es ist etwa doppelt so groß wie das Weiße Haus und kommt uns für ein Land, das halb so groß ist wie Mecklenburg-Vorpommern, etwas überdimensioniert vor. Ebenso wie das Parlament von Nagorno-Karabach auf der gegenüber liegenden Straßenseite, in dem 33 Deputierte 155.000 Bürger vertreten, das macht einen Abgeordneten auf weniger als 5.000 Einwohner, vermutlich ein Weltrekord.

Der Präsident, 1960 in Stepanakert geboren, hat Jura studiert, war Chef der Polizei und des Sicherheits-dienstes und „hatte nie vor, in die Politik zu gehen“. Aber 2007 stellte er sich doch zur Wahl und gewann. Fünf Jahre später wurde er wiedergewählt. Er gehört keiner Partei an, trägt eine kurze, dunkelblaue Woll-jacke, raucht dünne Zigaretten der Marke DIZAK und macht einen sehr entspannten Eindruck. Nagorno-Karabach, sagt er, sei kein Teil der armenischen Republik, aber sehr wohl ein Stück Armenien. „Wir sind ein Volk, verteilt auf zwei Staaten.“ Er lobt den Willen der Menschen in Nagorno-Karabach, einen eigenen Staat aufzubauen, man strebe die „internatio-nale Anerkennung“ an, wisse aber, dass es noch lange dauern könne, bis Nagorno-Karabach in die UNO aufgenommen werde. Man fange „ganz unten“ an. Immerhin hätten einige US-Bundesstaaten Nagorno-Karabach inzwischen anerkannt, dazu das Parlament des Baskenlandes und des australischen Bundesstaates New South Wales. Nach einer dreiviertel Stunde werden wir höflich hinaus komplimentiert. Der Präsident von Nagorno-Karabach hat einen langen Tag hinter sich und möchte nach Hause.

Schach als Pflichtfach

Um die Armenier und den armenischen Nationalismus zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Region werfen. Im Osten grenzt das Land an Aserbeidschan, im Westen an die Türkei. Zu beiden Nachbarn gibt es keine Beziehungen, die Grenzen sind dicht. Im Norden liegt Georgien, für Armenien das Tor zur Welt. Und im Süden der Iran. Die Grenze ist durchlässig, aber die gegenseitige Liebe sehr unterentwickelt. Armenien ist keine Musterdemokratie, es gibt Armut, Korruption und Misswirtschaft, aber es wird niemand eingesperrt, weil er anderer Ansicht ist als die Regierung, niemand gehängt oder gesteinigt, weil er gesündigt hat. Für die Armenier ist der Iran „das Reich des Bösen“. „Es zieht uns nichts hin“, sagt eine junge Armenierin, die als Tourguide und Übersetzerin arbeitet. Sie war noch nie im Iran. Wozu auch?

Umgekehrt verhält es sich anders. Iraner kommen gerne nach Armenien, zum Shoppen und Schauen. In den Auslagen liegen Waren, die es im Iran nicht gibt, der Wein ist gut und preiswert, und die Frauen laufen unverschleiert rum. „Die Europäer machen sich keine Vorstellung davon, was es bedeutet, solche Nachbarn zu haben“, sagt David Babajan, der Politologe, „wenn wir überleben wollen, müssen wir strategisch denken und versuchen, den anderen einen Schritt voraus zu sein“.

Strategisch denken, darauf kommt es auch beim Schach-spiel an. Schach ist, neben Ringen, der zweite National-sport der Armenier. Es ist Pflichtfach an den Grund-schulen. Jedes armenische Kind muss mindestens drei Jahre lernen, wie Schach gespielt wird. Die besonders Begabten machen dann auf einer der Spezial-Schulen weiter, an denen nur Schach gelehrt wird.
In Jerewan gibt es sechs solcher Schulen, die älteste trägt den Namen des zehnfachen armenischen Schach-meisters Genrich Gasparjan. Vierzehn Lehrer bringen 450 Schülern die Kunst des Schachspiels bei, wobei Mädchen mit weniger als zehn Prozent in der Minderheit sind. „Die Eltern wollen lieber, dass sie ein Instrument lernen“, sagt Norayt Movsisjan, 65, der seit über 30 Jahren Schach unterrichtet. Er selbst hat drei Kinder, die alle Schach spielen. Seine Tochter Naira, inzwischen 38, ist eine Großmeisterin. Sie hat früh angefangen, ebenso wie die neunjährige Raja, die gerade den gleichaltrigen Marsel zum Wahnsinn bringt, weil sie eine Partie nach der anderen gewinnt. Über ihr an der Wand hängen die Porträts der Großmeister Tigran Petrosjan, Garri Kasparow und Levon Aronjan, sie scheinen mit der Leistung der jungen Kollegin sehr zufrieden.

Drei Armenier und acht Handys

Vor dem Moscafe in der Abovjan Straße, zwischen dem alten Kino Moskau und dem Grand Hotel Royal Tulip, sitzen drei junge Männer an einem Tisch und rauchen Wasserpfeife. Vor ihnen liegen acht Handys. Als könnten sie Gedanken lesen, fragt einer, ob ich mich nicht zu ihnen setzen und mitrauchen möchte. Ich lege meine beiden Handys zu den anderen und bin sofort integriert.  Edward, mit 21 der Älteste, bestellt noch eine „Nargila“ für mich. Er studiert seit zwei Jahren Jura. Hajk, 18, hat grade mit dem Studium der Betriebswissenschaft angefangen. Hamlet, 16, hat noch ein Jahr bis zum Abitur, danach will er lernen, wie „Marketing“ geht.

Die drei kommen fast jeden Tag ins Moscafe, rauchen Nargila, trinken Mineralwasser und reden über Gott und die Welt. Als sie geboren wurden, war Armenien schon unabhängig, den Kommunismus kennen sie nur aus Büchern, das Schicksal ihrer Vorfahren löst sich allmäh-lich im Dunst der Geschichte auf. Aber bei dem Geden-ken am 24. April werden sie dabei sein. Und auch am Abend davor, wenn „System of a Down“, die armeni-sche Rockband aus Kalifornien, auf dem Platz der Republik ein Open-Air-Konzert geben wird.

Frage an Radio Eriwan

Wie beendet man angemessen eine Reise nach Armenien kurz vor dem Jahrestag des Völkermordes? Natürlich mit einem Besuch bei Radio Eriwan. Den Sender gibt es wirklich, er heißt allerdings Öffentliches Radio und Fernsehen von Armenien.
Ruzan Arakelyan hat zu Sowjetzeiten als Reporterin für halbwegs unabhängige Zeitungen gearbeitet, von 2007 bis 2012 saß sie als Abgeordnete im armenischen Parlament. Nun produziert sie mit elf Mitarbeitern, zehn Frauen und einem Mann, eine tägliche Sendung für die armenische Diaspora, 20 Radio-Minuten über Kultur, Sport, Soziales. Das Programm heißt „Die Brücke“, und da immer weniger Auslands-Armenier Armenisch sprechen, wird es in 13 Sprachen ausgestrahlt, u.a. in Deutsch, Russisch, Spanisch und Türkisch. Ich möchte wissen, welche Nachricht sie demnächst hören und verbreiten möchte: „Armenien wird in die EU aufgenommen“ oder „Türkei gibt den Völkermord an den Armeniern zu“? Ruzan Arakelyan denkt einen Moment nach und sagt: „Es gibt wieder ein starkes und vereintes Armenien!“

Das Leben in Rosa

Meine letzte Fahrt durch das abendliche Jerewan lege ich in einem Taxi zurück. Es ist ein russischer Wolga, Baujahr 1965, von seinem ebenso alten Besitzer detail-genau restauriert. Ohne Servolenkung, ohne Klimaan-lage, ohne Navi. Aber mit einem CD-Player, aus dem Louis Armstrong „La vie en rose“ singt.

Was für ein Abschied! Armenien, wir sehen uns wieder!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 


 

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Henryk M. Broder / 12.03.2024 / 14:00 / 62

Christian Wulff: Liechtenstein? Nein, danke!

Unser beliebter Ex-Präsident Christian Wulff hat Angst, Deutschland könnte auf das Niveau von Liechtenstein sinken. Das kleine Fürstentum hat auf vielen Gebieten längst die Nase…/ mehr

Henryk M. Broder / 07.03.2024 / 16:00 / 19

Aserbaidschanische Kampagne verhindert Armenien-Debatte

Eine in Berlin geplante Buchpräsentation und Diskussion über bedrohtes armenisches Kulturgut konnte aus Sicherheitsgründen nur online stattfinden. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP)…/ mehr

Henryk M. Broder / 01.12.2023 / 15:00 / 28

Irre ist das neue Normal (7)

Geht es um Israel, die Palästinenser, das Pogrom vom 7. Oktober und den Krieg in Gaza, melden sich immer mehr Experten zu Wort, die beweisen,…/ mehr

Henryk M. Broder / 09.11.2023 / 14:00 / 59

Wehret den Anfängen? Dafür ist es jetzt zu spät!

Es ist alles schon mal dagewesen. In den Protokollen der Weisen von Zion, in den Gesetzen zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre,…/ mehr

Henryk M. Broder / 04.11.2023 / 12:00 / 48

Die Baerbock-Sprünge über den eigenen Schatten

Nach ihren Reisen in den Nahen Osten und nach New York, zur Stimmenthaltung bei einer gegen Israel gerichteten UNO-Resolution, kümmerte sich Außenministerin Annalena Baerbock um…/ mehr

Henryk M. Broder / 01.11.2023 / 14:00 / 112

Irre ist das neue Normal (5): Die Grenzenlose

Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus findet, dass wir eine Grenze zur Aufnahme von Flüchtlingen „noch lange nicht erreicht haben“. Dabei gibt es schon bei uns mehr…/ mehr

Henryk M. Broder / 30.10.2023 / 06:15 / 96

Irre ist das neue Normal (4): Ein deutscher Diplomat

Der deutsche Top-Diplomat Christoph Heusgen stellt sich im „heute journal" des ZDF hinter den UN-Generalsekretär Guterres und phantasiert über eine Zwei-Staaten-Lösung, die er zum „geltenden…/ mehr

Henryk M. Broder / 23.10.2023 / 15:00 / 34

Irre ist das neue Normal (2)

Früher war das Betreten des Rasens verboten, heute ist der „Generalverdacht“ ein vermintes Gelände. Zwei Beispiele aus dem Gruselkabinett der letzten Tage. Vor etwas weniger…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com