Henryk M. Broder / 16.09.2008 / 00:41 / 0 / Seite ausdrucken

Hildegard von Bingen, Gott und ich

Dankesrede zur Verleihung des Hildegard-von-Bingen-Preises

Als mein Freund und Kollege Malte Lehming, Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“, die Nachricht auf den Tisch bekam, ich sei der diesjährige Träger des Hildegard-von-Bingen-Preises, schaute er sofort bei Wikipedia nach und schickte mir den Eintrag per E-Mail. Der, fand Malte Lehming, komme ihm bekannt vor. Er fasste ihn mit den Worten zusammen: „Wegweiser, Heiliger, Visionen, aus eigener Kraft zu Kenntnissen in der Lage sein, ungebildet, faszinierend, starkes Selbstbewusstsein, Interessendurchsetzung: Das bist genau Du, mein Guter, herzlichen Glückwunsch!“

Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, mich mit Hildegard von Bingen zu vergleichen, von der ich bis vor kurzem nur wusste, dass sie sich mit etwas beschäftigt hat, was man heute „alternative Medizin“ nennen würde. Meine angeborene Bescheidenheit verbietet es mir, mich in der Nähe einer Heiligen zu positionieren. Außerdem habe ich es der Schulmedizin zu verdanken, dass ich heute vor Ihnen stehe, nachdem mich der alternative medizinische Hokuspokus beinahe das Leben gekostet hätte. Das Einzige, was mich mit Hildegard von Bingen verbindet, sind Visionen. Wobei ihre von ganz anderer Art waren, als meine es heute sind. Da ich auf Diät bin, muss ich immerzu an Cremeschnitten, Sachertorten, Kaiserschmarrn, Millirahmstrudel, Topfenknödel und Palatschinken denken.

Freilich: Auch Hildegard von Bingen war dem Irdischen zugetan. Anders als die Mönche im Kloster Disibodenberg, wo sie seit ihrer Kindheit lebte, lehnte sie die Askese ab, lockerte für ihre Gefolgschaft die Speisebestimmungen und kürzte die Gebets- und Gottesdienstzeiten, um mehr Zeit für profane Verrichtungen zu haben. Sehr sympathisch finde ich auch, dass sie sich selbständig machen und ein eigenes Frauenkloster gründen wollte, was am Widerstand der Mönche scheiterte, die nicht allein in Disibodenberg bleiben wollten, was wiederum für die Mönche und deren Auffassung von einem erfüllten Leben spricht.

Noch schicker, als mir den Hildegard-von-Bingen-Preis zu verleihen, wäre es nur noch, Hildegard von Bingen mit einem Henryk-Broder-Preis zu ehren und dies damit zu begründen, sie habe, ebenso wie ich, immer nur das getan, was sie tun wollte, und sich wenig um die Meinung ihrer Umwelt gekümmert. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass Hildegard von Bingen mit der Vergabe eines nach ihr benannten Preises an Peter Sloterdijk nicht einverstanden gewesen wäre. Sie hätte sich maßlos darüber aufgeregt, dass ein Zeitgeist-Philosoph geehrt wird, der die Terroranschläge vom 11. September einen „Kleinzwischenfall der Geschichte“ genannt hat, über den nur auf den hinteren Seiten der Zeitungen berichtet werden sollte. Wer angesichts von fast dreitausend Toten so etwas denkt, sagt und schreibt, dem ist ein Platz in der Hall of Shame der Geschichte sicher.

Womit wir die Pflicht erledigt hätten und bei der Kür angekommen wären. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen etwas über Gott und mich zu erzählen. In meiner Jugend war ich ein bekennender Atheist. Ich las Voltaire, Panizza, Spinoza, Bertrand Russell, Karlheinz Deschner und überlegte, ob Giordano Bruno Broder nicht ein viel schönerer Name wäre als der, den mir meine Eltern gegeben hatten. Später wurde ich Agnostiker, aus Gründen der Logik: Wenn man nicht beweisen kann, dass es Gott gibt, kann man auch nicht beweisen, dass es ihn nicht gibt. Und heute, älter und reifer geworden, glaube ich an Gott. Ich bin überzeugt, dass es ihn gibt, mag er nun Christ, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu, Zarathustraner, Mann, Frau oder ein Alien sein. Ich glaube nur nicht an den gütigen, gerechten, allmächtigen Gott. Der Gott, an den ich glaube, ist ein Sadist und ein Zyniker, ein Witzbold und ein Chaot.

Vor kurzem habe ich, während ich an einer roten Ampel hielt, eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren gesehen, die mit beiden Händen eine rote Rose festhielt. Offenbar wartete sie auf jemanden, mit dem sie sich zu einem blind date verabredet hatte, und die rote Rose war das Erkennungszeichen. Sie hätte dem Mann auch sagen können: Du erkennst mich daran, dass ich 120 Kilo wiege, aber dann wäre es zu keinem blind date gekommen, also wählte sie die Rose. Der Mann, nach dem sie Ausschau hielt, hatte ihr gesagt, er werde einen tiefergelegten Opel Corsa fahren. Weil das junge Mädchen aber von Autos keine Ahnung hatte, war ihr auch nicht ein Kleinwagen aufgefallen, der langsam an ihr vorbeirollte und, ohne anzuhalten, davonbrauste. „Mein Gott“, dachte ich, „warum tust du das dem Mädchen an? Reicht es nicht schon, dass sie 120 Kilo wiegt und auf der Schule von allen ausgelacht wurde?“

Gelernte Gottesdiener, mögen sie auf einer theologischen Fakultät, einer Jeschiva oder einer Madrassa studiert haben, würden mir nun erklären, warum Gott dieses eine Mädchen ganz besonders gern hat und sie deswegen prüfen möchte. Und warum sie ihren Glauben und ihre Geduld nicht verlieren darf, denn eines Tages wird ein Auto neben ihr halten und sie zu einer Fahrt ins Glück einladen. Das will ich hoffen, nur würde ich nicht darauf wetten. Als meine Mutter in einem Viehwaggon saß, mit einem One-way-Ticket in der Hand, das sie geschenkt bekommen hatte, da hoffte sie auch, Gott möge ihr helfen. Der aber dachte nicht daran. Er schaute in aller Ruhe zu, wie die vollen Züge an der Endstation ankamen, wie die Reisenden entladen wurden und wie die Züge leer wieder wegfuhren. Er rührte auch keinen Finger, um den Passagieren der „Titanic“, der „Wilhelm Gustloff“ oder der „Estonia“ beizustehen. Und warum er in Srebrenica wegschaute, ebenso wie in Ruanda, Kambodscha und Darfur, das wird er eines Tages vor einem Internationalen Tribunal erklären müssen. An Gott zu glauben, ohne ihn für seine Taten und Unterlassungen haftbar zu machen, halte ich für unverantwortlich. Wer nicht an Gott glaubt, hat es einfacher. Ihm reicht es, wenn Radovan Karadzic der Prozess gemacht wird. Mir ist das nicht genug.

Solange ich Gott nicht auf Schadensersatz für meine verkorkste Kindheit verklagen kann, gebe ich mir Mühe, ihn wenigstens auszutricksen. Hielten zum Beispiel alle Juden einen Schabbat lang sämtliche Gebote ein, würde Gott sofort den Messias losschicken, das Ende aller Tage wäre da. Kein Jude, der täglich mit der Ankunft des Messias rechnet, und kein Christ, der sich nach der Wiederkehr des Erlösers sehnt, hat eine Ahnung, was das bedeuten würde. Die Bundesliga müsste mitten in der Saison eingestellt werden, die preisgünstigen Flachbildschirme bei Saturn blieben unverkauft liegen, die Benefiz-Gala „Cinema for Peace“ bei den Berliner Filmfestspielen müsste ausfallen.

Ich sorge dafür, dass dies nicht passiert, indem ich am Samstag Auto fahre, arbeite und natürlich nicht koscher esse. Vor kurzem habe ich sogar an einem Freitagabend beim „Haxn-Wirt“ getafelt. Ich sorge dafür, dass der Messias nicht kommt und der ganz normale irdische Betrieb weitergeht. Ich sorge dafür, dass Juden und Christen weiter ihre Kirchensteuern zahlen, dass die Priester und die Rabbis nicht arbeitslos werden, dass die Bahnhofsmission, die Caritas, das Müttergenesungswerk und die Aktion Mensch weiterarbeiten können. Und jedes Jahr der Hildegard-von-Bingen-Preis verliehen werden kann.

Marx soll mal gesagt haben, er könne die Marxisten nicht ausstehen, weil sie sein Werk trivialisieren. Gibt es einen Gott, könnte er wahre Größe zeigen und etwas Ähnliches über seine Fußtruppen verkünden, auch mal eine Gegendarstellung oder Richtigstellung verschicken, etwa wenn der amerikanische Politiker John Edwards, nachdem er eine außereheliche Affäre zugeben musste, sagt: „Gott und meine Ehefrau haben mir vergeben.“ Dann sollte Gott, notfalls per SMS, erklären: „Was Deine Frau tut, ist ihre Sache, aber lass mich aus dem Spiel!“

Dass sich Gott so etwas bieten lässt, ohne böse zu werden, spricht nicht für ihn, aber für meine Annahme, dass er ein Zyniker ist. Ihm ist eben alles recht, solange sein Name richtig buchstabiert wird. Dabei lässt er durchaus mit sich reden. Man muss es nur versuchen, wie Abraham, als er Sodom und Gomorra retten wollte. Hätte es geklappt, wäre die Bibel um eine schöne Geschichte ärmer. Weil es aber nicht geklappt hat, hat es seitdem niemand mehr unternommen.

Was die Sache mit Gott noch mehr kompliziert, ist der Umstand, dass es seit der Aufklärung auch säkulare Religionen gibt, deren Anhänger zwar nicht an Gott, dafür aber an die klassenlose Gesellschaft, die permanente Revolution oder die Klimakatastrophe glauben. Der Kommunismus war eine Ideologie mit allen Kennzeichen einer Religion, nur viel dogmatischer als jede kirchliche Organisation. Heute gilt das für die Öko-Bewegung: Da gibt es die Apokalyptiker, die sich im Glauben an das baldige Ende der Welt zusammenschließen, es gibt die Hohepriester der Bewegung wie Al Gore, deren Wort über jeden Zweifel erhaben ist, es gibt die Ketzer, die Widerspruch anmelden, es gibt die Sünder, die ihren Müll nicht trennen und mit dem Flugzeug in die Karibik reisen - und es gibt Ablasshändler wie Greenpeace, die den Sündern mit Hilfe einer Spende die Gelegenheit geben, guten Gewissens in einem Land Rover zum Einkaufen zu fahren. So bekommt ein Leben im Überfluss, aber ohne Transzendenz wieder einen Sinn. Jeder, der eine Energiesparlampe benutzt, leistet einen Beitrag zur Rettung der Welt.

Im selben Maß, in dem das Christentum und das Judentum sich versachlichen (dem Islam kann man diesen Vorwurf derzeit nicht machen), nimmt das Bedürfnis nach Ersatzreligionen zu, die einen von Zweifeln nicht kontaminierten Glauben anbieten, der tatsächlich Berge versetzen kann. Barack Obamas Parole „Yes, we can!“ ist nicht nur extrem simpel, sondern zugleich auch religiös aufgeladen. Früher hätte man gesagt: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Und der unter Umweltschützern extrem beliebte Satz: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ ist zwar radikaler Unsinn, taugt aber als alternatives Vaterunser.

Man kann dem Menschen das Verlangen, sich über seine eigene Existenz zu erheben, sie ins Unendliche zu verlängern, nicht verübeln. Es ist wohl eine anthropologische Konstante. Die einen fliegen zum Mond, die anderen wollen das Klima retten. Niemand will lediglich ein Sandkorn im Sturm der Geschichte sein. Seltsam dabei ist nur, was schon Gilbert Keith Chesterton, der Schöpfer von Pater Brown, bemerkt hat: Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern allen möglichen Unsinn. Dass man soziale Gerechtigkeit durch ökonomische Gleichheit herstellen kann; dass Wohlstand und Arbeit voneinander unabhängige Faktoren sind; dass einseitige Abrüstung Kriege verhindert und den Frieden garantiert; dass Armut die Ursache für Terrorismus ist; dass Selbstmordattentäter fehlgeleitete Idealisten sind; dass Stereoanlagen und ihre Tiefkühltruhen mit sauberem Strom laufen, der von einem Windrad generiert wurde, während der Nachbar, der eine Etage darüber wohnt, seine Kaffeemaschine und seine Mikrowelle mit schmutzigem Strom betreibt, der aus einem Atomkraftwerk kommt; dass freilaufende Hühner mit glücklichem Lächeln im Gesicht sterben, während die in den Legebatterien von einem besseren Leben träumen - am liebsten als Schweine in einem koscheren jüdischen Haushalt, wo sie dann eines Tages eines natürlichen Todes sterben würden.

Zugleich herrscht eine unstillbare Sehnsucht nach der Apokalypse, die von allerlei Schamanen und Scharlatanen bedient wird: von Franz Alt bis Johan Galtung, von Al Gore bis Günther Jauch, von Mutter Beimer über DJ Bobo bis Jean Ziegler und Bob Geldof. Nur Umweltminister Sigmar Gabriel verhält sich antizyklisch, wenn er, begleitet von Journalisten, mit der Bahn zu einem Termin fährt und seinen Fahrer mit dem Wagen nachkommen lässt. Er trat auch bei der letzten Bonner Artenschutzkonferenz im Mai auf, bei der fünftausend Teilnehmer aus 190 Ländern zwölf Tage lang berieten, wie man das Artensterben stoppen könnte. Laut Gabriel verschwinden weltweit täglich 150 Arten, er hätte aber auch 1500 oder 15 000 sagen können, weil die eine Zahl ebenso wenig nachprüfbar ist wie die andere. Und als die Konferenz vorbei war, atmeten nicht nur der tibetische Raupenkeulenpilz und die sibirische Knoblauchkröte erleichtert auf, auch die rheinische Gastronomie und Hotellerie waren mit dem Verlauf der Konferenz sehr zufrieden.

Währenddessen hatte ich eine Vision: eine Konferenz zugunsten der vom Aussterben bedrohten Menschen in Darfur. Aber was ist schon ein Völkermord gegen das Artensterben? Unter Umständen eine radikale ökologische Maßnahme, denn manche Umweltschützer sind durchaus der Meinung, dass es der Erde besser ginge, wenn sie von weniger Menschen bewohnt oder gar ganz unbewohnt wäre. Deswegen wird es in vier Jahren wieder eine Artenschutzkonferenz geben, und auch das Morden in Darfur wird weitergehen.

Ich weiß, solche Sätze klingen anmaßend und pathetisch, aber sie müssen sein, denn es geht um Gott, und der ist es auch: anmaßend und pathetisch und dazu noch ungerecht und gemein. Deswegen ist es eine heilige Pflicht, dem Allmächtigen in den Arm zu fallen. Ich sagte es schon: Auf Gott ist kein Verlass. Auf sein Bodenpersonal auch nicht. Während wir hier so gemütlich zusammensitzen und plaudern, werden in vielen Staaten Menschen diskriminiert, verfolgt und getötet, die nichts verbrochen haben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie auf eine besonders schreckliche Geschichte aufmerksam zu machen: die Lage der Baha’i in Iran. Sie ist mit der Situation der Juden im „Dritten Reich“ vor 1939 vergleichbar.

Die etwa sieben Millionen Baha’i gehören mehr als zweitausend Ethnien an, die größte Baha’i-Gemeinde mit mehr als zwei Millionen Angehörigen gibt es in Indien, die zweitgrößte mit mehr als 800 000 in Amerika. In Iran, dem Geburtsland des Baha’ismus, leben etwa 400 000 Anhänger des Religionsstifters Bab, der 1850 in Täbris hingerichtet wurde. Es handelt sich also um eine sehr junge Religion, gerade 150 Jahre alt.

Wenn es eine Religion gibt, die auf Glauben und Vernunft basiert, in der Frauen vollkommen gleichberechtigt sind, in der Bildung und Erziehung geschätzt werden, die in Theorie und Praxis gewaltlos ist, dann ist es der Glaube der Baha’i. Sie haben keinen Klerus, jeder Baha’i regelt sein Verhältnis zu Gott in eigener Verantwortung, das Gebet ist vor allem eine meditative Übung. Was praktizierte Nächstenliebe und Respekt vor anderen Konfessionen angeht, sind die Baha’i allen Konkurrenten weit voraus.

Dass sie im Iran der Mullahs und Ajatollahs nicht einmal ihres Lebens sicher sind, hat vor allem zwei Gründe. Erstens war der Bab ein Schiit, der sich „selbständig“ gemacht hat, deswegen gelten die Baha’i als Häretiker, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Zweitens steht das spirituelle Zentrum der Baha’i im israelischen Haifa, eine wunderschöne weitläufige Parkanlage, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Allein deswegen gelten die Baha’i als verkappte Zionisten und Agenten Israels. Und während Christen und Juden, sofern sie keine Zionisten sind, zu den geschützten religiösen Minderheiten gehören, gelten die Baha’i nicht einmal als Dhimmis, Bürger zweiter Klasse. Die Baha’i sind de facto vogelfrei.

Im Mai dieses Jahres wurde die Führung der Baha’i-Gemeinde verhaftet - unter dem Vorwand, mit Israel kollaboriert zu haben. Derweil liegt dem Teheraner Parlament ein Gesetzentwurf vor, wonach der Abfall vom Islam mit dem Tod bestraft werden soll. Die Baha’i können es sich also aussuchen, ob sie als israelische Spione oder als Ketzer verfolgt werden möchten - was am Ende auf dasselbe hinausläuft.

Die guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Iran werden durch solche Nebensächlichkeiten nicht getrübt, so wie sie von den wiederholten Drohungen des iranischen Präsidenten Ahmadineschad nicht gestört werden, das zionistische Besatzungsregime aus dem Buch der Geschichte zu entfernen - wie die korrekte Übersetzung des auch von der iranischen Nachrichtenagentur kolportierten Satzes, Israel solle von der Landkarte getilgt werden, lautet.

Während aber deutsche Firmen angesichts der deutschen Geschichte ihre Geschäfte mit Iran ein wenig verschämt betreiben, geht ihnen das Schicksal der Baha’i völlig an der Bilanz vorbei. Das bisschen schlechte Gewissen, zu dem sie sich den Juden gegenüber verpflichtet fühlen, wäre den Baha’i gegenüber ja auch völlig unangebracht, denn mit denen hatte das „Dritte Reich“ ja nichts vor. Ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass die Vorstände der großen deutschen Unternehmen nicht einmal wissen, dass es die Baha’i gibt.

Was wiederum an den Baha’i selbst liegt. Obwohl sie wirklich schlecht behandelt werden, sprengen sie weder sich noch andere in die Luft, verbrennen keine Fahnen, fackeln keine Botschaften ab, enthaupten keine Geiseln vor laufenden Kameras, entführen keine Flugzeuge, sind nicht einmal in der Lage, Raketen zu basteln, um ihre Nachbarn zu beschießen. Selbst schuld, wenn sie nicht beachtet werden.

In Kürze wird wieder eine neue Runde im immerwährenden Kampf gegen das Böse von vorgestern eröffnet. Der 9. November, der deutsche Schicksalstag per se, steht vor der Tür, dann geht es am 27. Januar mit der Befreiung von Auschwitz weiter, danach kommt der Tag der Bücherverbrennung. Zusätzlich zu den alljährlichen Gedenktagen wird 2009 noch der siebzigste Jahrestag des Kriegsausbruchs begangen. Alles schön und gut gemeint, wenn auch recht wohlfeil. Je länger das „Dritte Reich“ tot ist, umso heftiger wird der antifaschistische Widerstand. Bringen Sie etwas Leben in die Erinnerungssülze, stehen Sie auf, und rufen Sie: „Und was ist heute mit den Baha’i?“

Man wird Sie für verrückt halten. Machen Sie es trotzdem. Hildegard von Bingen hätte es auch getan. Verlassen Sie sich nicht auf Gott, Sie wissen doch: Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!

 

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