Es scheint lange her zu sein, dass die Idee eines geeinten freiheitlichen Europas die Bürger, Politiker und Märkte noch gleichermaßen begeisterte. Aus dem ehrgeizigen Projekt ist im Zuge der Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ein ökonomischer und politischer Scherbenhaufen geworden. Die Vergemeinschaftung der Schulden mit immer gigantischer werdenden Rettungsschirmen geht einher mit einem atemberaubenden Entmündigungsprozess: der einzelnen Staaten, der nationalen Parlamente und natürlich der Bürger. Verträge werden gebrochen, demokratische Verfahren ausgesetzt und unterlaufen und die Freiheit verbunden mit Selbstverantwortung bleibt auf der Strecke. Das Primat der Politik über die Ökonomie wollen die EU-Bürokratie, die europäischen Regierungschefs und ihre Finanzminister durchsetzen. Das Heil sehen sie in noch mehr zentraler Planung, Lenkung, Egalisierung und Vereinheitlichung. Obwohl uns die Geschichte gelehrt haben sollte, dass dies uns auf dem Weg zu Freiheit, Demokratie und Wohlstand gerade nicht weitergebracht hatte. Doch gerade in Krisenzeiten greifen Politiker gerne auf das von ihnen so geschätzte Instrument des Paternalismus zurück und wollen die Bürger in väterlicher Manier an die Hand nehmen und sie vormundschaftlich durch die Unbilden der Zeit führen.
Angesichts der wachsenden Zweifel an den Errungenschaften der westlichen Moderne, an unserem Erfolgsmodell von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft, ist es höchste Zeit, sich unserer Freiheitstraditionen neu zu vergewissern, nämlich uns selbst darüber aufzuklären, was Freiheit bedeutet und was sie uns heute wert ist.
Eine kleine Rückbesinnung darauf, wie die individuelle Freiheit in unserem Zivilisationsprozess im Wechselspiel mit der politischen und wirtschaftlichen Freiheit kontinuierlich gewachsen ist, scheint mir deshalb angebracht zu sein.
Die Geschichte der Freiheit
Wir haben es über die Jahrhunderte so weit gebracht, weil unsere Entwicklung angetrieben war von einem ständigen Wettbewerb des Wissens, der Ideen und der Erfindungen, die die Individuen hervorgebracht haben. Der Markt hat dabei als Entdeckungs- und Entmachtungsinstrument den Lebensstandard weltweit verbessert, den Menschen ein längeres und gesünderes Leben beschert. Es entstand ein immer differenzierteres soziales und rechtliches Regelwerk, das den Zusammenhalt und das Fortkommen der Gesellschaft ermöglichte. Doch ein Bewusstsein von dieser Erfolgsgeschichte, gar ein Stolz auf diese lange Entwicklung, scheint uns abhanden gekommen zu sein.
Seit der griechischen Polis durchzieht der sukzessive Freiheitsgewinn wie ein roter Faden unsere Zivilisationsgeschichte. Die Freiheit wurde erkämpft mit dem fortlaufenden Aufbegehren gegen die Unfreiheit und den Zwang: im sozialen, wirtschaftlichen, politischen, gedanklichen und privaten Felde.
Auch wenn die Griechen in der Mitte des achten Jahrhunderts v. Chr. noch weit entfernt waren von dem, was wir heute individuelle Freiheit nennen, war ihre Kreation der Polis ein zentraler Baustein für das westliche Freiheitsverständnis. Mit der Gleichheit vor dem Gesetz schuf die Polis den ersten Bürger in der Geschichte, der in einem von öffentlicher Vernunft regierten Staat handelt und seine Gesetze selbst macht. Den Griechen verdanken wir die politische Freiheit und die ideengeschichtliche Grundlage für das, was die englischen Philosophen später „government of law, not of men“ und „rule of law“ nannten – die Herrschaft des Gesetzes im Gegensatz zur Herrschaft von Personen über Personen.
In Fortsetzung der von den Griechen hervorgebrachten Herrschaft des Rechts schufen die Magistratsbeamten und Rechtsgelehrten des Römischen Reichs in nur wenigen Jahrhunderten ein hochentwickeltes System des Privatrechts, die eigentliche historische Grundlage der modernen westlichen Rechtssysteme. Das römische Recht ermöglichte erstmals, das Privateigentum zu definieren. Die darin postulierte Unterscheidung von Mein und Dein ist letztlich die Voraussetzung für die Entstehung der unabhängigen individuellen Person, der persona, von der Cicero (106 v. Chr.–43 v. Chr.) sprach.
Mit der Aufwertung der einzelnen Person gegenüber dem Kollektiv war dies ein Meilenstein in der Entwicklung des abendländischen Humanismus. Für die Griechen war die Politik in der Polis und das staatsbürgerliche Engagement der ultimative Horizont menschlicher Tugend, die Person erfüllte sich in ihrer staatsbürgerlichen Existenz und war der Gemeinschaft der Polis unterworfen. Die individuelle Freiheit als ein schützenswertes Gut existierte in der griechischen Vorstellung noch nicht. Erst die Römer werteten mit der Einführung des Privatrechts das Individuum auf – seine Existenz und seine Rechte erschöpften sich seither nicht mehr ausschließlich in der staatbürgerlichen Tätigkeit.
Diese sukzessive Wertschätzung des Individuums war die Grundlage für die nachfolgenden jüdischen und christlichen Vorstellungen vom Menschen als einer Person, die moralisch für sich selbst verantwortlich und in ihrer Einzigartigkeit von Gott geschaffen ist. Die Idee von der Gleichheit der Menschen vor Gott ermöglichte eine radikal persönliche und nicht mehr stammesbezogene, kollektive Beziehung zu einem göttlichen Wesen. Doch Inquisition, Hexenverfolgungen und der erbitterte Kampf gegen Häretiker, Ketzer und Ungläubige zeigten, dass sich die Emanzipation des Individuums immer wieder auch gegen große Widerstände der Kirchen und Religion durchsetzen musste. All dies konnte indes die weitere Entfaltung der Freiheit nicht aufhalten.
„Die Renaissance barg dann in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Kultur verdankt“, so der Philosoph Friedrich Nietzsche 1878: d.h. Gedankenfreiheit, Traditionskritik, Bildungswillen, Wahrheitssuche und die Entfesselung des Individuums. Ausdrücklich bezogen sich die Philosophen und Künstler der Renaissance auf das alte Griechenland und Rom und verstanden ihre Epoche als eine Art „kulturelle Wiedergeburt der Antike.“ Sie knüpften damit an Freiheitsvorstellungen an, die im Ständewesen des Mittelalters verlorengegangen waren. Seit der Renaissance entwickelte der Einzelne Zug um Zug die Fähigkeit, sich selbst als Individuum zu erkennen, sich und andere als je separate Größe zu sehen.
Diese Haltung berührte nicht nur die Sprache und Literatur, sondern alle Felder der Kunst, Wissenschaft und der Lebensführung. Mit der Aufwertung der einzelnen Person und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten schufen die Humanisten der Renaissance den Anfang des modernen Individualismus und waren gleichsam Vorboten des Liberalismus – wie man es an den Werken von Leonardo da Vinci, Botticelli oder Albrecht Dürer wunderbar nachvollziehen kann.
Auch Kirche und Religion blieben von diesem Aufbruch in die Freiheit nicht unberührt. Die Reformation und der einsetzende Säkularisierungsprozess – nämlich à la longue die Trennung von Staat und Kirche – beschleunigten die Weiterentwicklung der politischen, wirtschaftlichen und individuellen Freiheit.
Dieser Individualisierungsschub des 15., 16. und 17. Jahrhunderts in Europa verwandelte das Bild vom Menschen auf ganz umfassende Weise. Das autonome Denken drängte zunehmend das autoritäre zurück und die innere Autorität wurde wirksamer als die äußere: in der Herausbildung des persönlichen Gewissens. Neugierde und Entdeckungslust, begleitet von Skepsis gegenüber vormals unumstößlichen Wahrheiten, spornten diese Entwicklung an.
Moderne Freiheit
Dieses neue Selbstbewusstsein war eng verbunden mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Städten und dem Aufstieg der großen Handelshäuser, wie jener der Hanse, Fugger und Medici. Der nationale und internationale Handel wuchs stetig. Markt, Kapital, Wettbewerb und Konkurrenz gewannen an Bedeutung und ebneten à la longue den Weg zum Kapitalismus. Individueller Unternehmergeist begann sich zu entfalten. Befreit aus der Vormundschaft des alten korporativen Ständesystems und der Kirche suchte der Einzelne nun sein Glück und wurde Herr seines Schicksals.
Die Entfaltung der Geld- und Marktwirtschaft ging mit der Herausbildung des modernen Individuums Hand in Hand. Erst das Geld ermöglichte die Befreiung aus persönlicher Herrschaft und schuf die Möglichkeit, ein individuelles Leben zu führen, neue Freiheiten zu entdecken und auszuschöpfen. Das Geld stiftete eine Entfernung zwischen Person und Besitz, zwischen Haben und Sein, indem es das Verhältnis zwischen beiden zu einem vermittelten machte. Zugleich schuf der Geldverkehr eine neue starke Bindung zwischen Mitgliedern desselben Wirtschaftskreises. Daraus konnte ganz allmählich eine Kultur der Eigenverantwortung und der freiwilligen Zusammenschlüsse entstehen.
Selbst in seinen einfachsten Erscheinungsformen erinnert der Markt noch heute an das Selbstbestimmungsrecht und die rechtliche Gleichrangigkeit der Einzelnen. Der Aufklärer John Locke hat Ende des 17. Jahrhunderts in seinem Second Treatise of Government dieses Prinzip des „selfownership“, des Eigentums an sich selbst, formuliert. Es ist das personale Recht, über sich selbst, den eigenen Körper und die Ergebnisse der eigenen Arbeit zu verfügen.
Dieses gleiche Recht eines jeden Individuums auf Selbstbestimmung hat John Stuart Mill vor rund 150 Jahren, 1859, in seiner berühmten Schrift Über die Freiheit noch weiter ausgefeilt. John Stuart Mill verdanken wir die Erweiterung des „alten“ Begriffs der politischen Freiheit. Für die alten Griechen und Römer erschöpfte sich die Freiheit in der Demokratie und der Teilhabe ihrer Bürger. Doch die Französische Revolution hatte gezeigt, wie schnell die vorgeblich politische Freiheit in Unfreiheit und gnadenlosen Terror umschlagen kann: Wenn Individuen sich der Diktatur einer Volontée generale à la Jean-Jacques Rousseau, also dem Gemeinwillen eines Staates, zu unterwerfen haben. Demgegenüber machte Mill die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung stark.
Die freie Entwicklung der Persönlichkeit war für den Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill die Hauptbedingung der Wohlfahrt. Gegen Konformismus, Gleichförmigkeit und die Tyrannei der öffentlichen Meinung setzte er die Eigenwilligkeit des Individuums: seine Freiheit des Denkens, des Fühlens und des Geschmacks, die Unabhängigkeit seiner Meinung und Gesinnung, die Freiheit, einen eigenen Lebensplan zu entwerfen und zu tun, was ihm beliebt, so lange er niemandem etwas zu leide tut oder anderen schadet.
Weder der Staat noch die Gesellschaft haben demzufolge das Recht, sich in die privaten Angelegenheiten und Handlungen der Individuen, die nur sie selbst etwas angehen, einzumischen oder sie gar zu sanktionieren. Von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite sind demnach Sanktionen nur zulässig, wenn diese Handlungen andere schädigen. Keiner darf zu seinem Glück gezwungen werden. Damit widerspricht Mill ganz vehement einem Paternalismus, der mit Hilfe rechtlicher und moralischer Reglementierungen die Individuen zum Zwecke ihres Wohlergehens fürsorglich lenken und umhegen will.
Mill vertraute auf die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, die jedem einzigartigen Individuum eigen sind. Durch Selbsterziehung, Selbstreflexion und Selbstveränderung kann es den Weg zur persönlichen Freiheit und eigenen Autonomie beschreiten. Es ist ein unendlicher Entwicklungsprozess, der keine Statik und keinen festen Zustand kennt. Denn „wo nicht der eigene Charakter, sondern Tradition oder Sitten anderer Leute die Lebensregeln aufstellen, da fehlt es an einem der hauptsächlichsten Bestandteile menschlichen Glücks, ja dem wichtigsten Bestandteil individuellen und sozialen Fortschritts.“
Das Wissen über die Welt und sich selbst ist an Erfahrung gebunden. Deshalb spricht Mill von „Lebensexperimenten“, die empirisch von jedem zu durchlaufen sind, um überhaupt ein Wissen über mögliche Konzepte des guten Lebens zu erlangen. Voraussetzung für die Herausbildung von Individualität und die Praxis eines eigenen Lebensplans ist deshalb die Freiheit eines jeden, zwischen verschiedenen Optionen unterscheiden und wählen zu können. Die individuellen Lebensexperimente sind das Salz der Erde und lassen die Menschheit fortschreiten. Denn wenn Individuen sich um ihr eigenes Glück und Wohlergehen kümmern, nehmen sie zugleich am gattungsgeschichtlichen Fortschritts- und Erkenntnisprozess teil. Die Menschen produzieren damit ein allgemeines und öffentliches Wissen über die Möglichkeiten des guten Lebens, über dessen Varianten dann natürlich auch lauthals gestritten werden kann. Ihre Antriebsquelle ist dabei der eigene Wunsch, selbst ein gelingendes, glückliches Leben zu führen.
Indem die Menschen entsprechend der Vielfalt der Charaktere und Meinungen ihren eigenen Lebensplan entwerfen und ihm folgen, schaffen sie überhaupt erst die Pluralität der Lebensstile, ein Kaleidoskop von Lebensmöglichkeiten, die alternativ zur Wahl stehen. Darin liegt die Voraussetzung für die Produktivität und Innovationskraft einer Gesellschaft. Die Menschen sind nicht perfekt und begehen ständig Irrtümer. Doch gerade in der Vielfalt ihrer Lebensexperimente, die sie intersubjektiv teilen, lassen sie sich zu Neuem anregen und lernen voneinander.
Der westliche Zivilisationsprozess war so erfolgreich, weil sich die Vernunft etablierte und den Glauben in Wissen verwandelte und anschließend dieser Vernunft die Skepsis und Kritik begegnete. Nach den Schrecken der Französischen Revolution antwortete die Romantik dem Kult der Vernunft und Hegels Weltgeist mit dem Hohelied auf das Individuum und seine Freiheiten. Sie rebellierte gegen die auf den linearen Fortschritt und die Rationalität verengte Marschrichtung der Aufklärung und attackierte zugleich deren Ideal von einer harmonischen, widerspruchsfreien und vollkommenen Welt.
Dank der romantischen Offensive kamen die Leerstellen, Aussparungen, Verleugnungen und Illusionen der Aufklärung ans Licht. Sie beförderte damit jene Elemente und Bausteine, die der individuellen Freiheit im modernen Sinne den Weg bereiten sollten: indem sie die konkrete Person auf die Agenda setzte. Die Romantik zeigte, dass die vernünftige Freiheit nur die eine Seite der Medaille ist und sie ohne ihren unvernünftigen Widerpart unvollständig bleiben muss. Mit ihrer Vernunftkritik hat sie einen entscheidenden Beitrag zur Erweiterung und Selbstaufklärung der Freiheit geliefert. Indem die Romantik für das unverwechselbare Individuum focht, holte sie zugleich das Dilemma zwischen Gleichheit und Freiheit, das das ganze 19. Jahrhundert bestimmte und uns bis heute beschäftigt, ins allgemeine Bewusstsein.
Eros und Vernunft
Bekanntlich war dieser Weg in die Freiheit ein schmerzvoller und immer wieder mit Rückschritten gepflasterter Weg, angetrieben von der Vernunft, aber zugleich von ihrer anderen dunklen Seite, der Irrationalität, nämlich der Phantasie, den Wünschen und dem Erfindungsgeist. Denn was die Individuen in einer Gesellschaft zusammenhält, sind nicht nur ihr Wille, rationale Zwecke, Kalküle, soziale Regeln und ein der Freiheit verpflichtetes Vertragswerk in Gestalt unserer demokratischen Verfassungen, sondern das sind auch Gefühle, soziale Beziehungen und schöpferische Imaginationskräfte. Das dynamische Wechselspiel zwischen Rationalität und Irrationalität sorgt dafür, dass sich beide weiterentwickeln und Neues entsteht.
Denn der Eros, nämlich die Lebens- und Erkenntnistriebe – wie wir sie seit Platon und Sigmund Freud kennen –, der Eros ist jene Kraft, die unser persönliches Leben trägt und der individuellen Freiheit den Ansporn gibt. Er verkörpert die Lust und die Neugierde auf das Leben, auf die Welt, auf andere Menschen. Zuweilen zieht er sich zurück, ist müde und erschöpft vom Kampf gegen die Feigheit, überrumpelt von Bänglichkeit. Oder gerät ins Straucheln, sieht den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen angesichts der überbordenden Möglichkeiten, zwischen denen er wählen kann. Doch der Eros bleibt die untergründige Antriebskraft unserer Zivilisationsgeschichte. Die individuelle Freiheit kann sich indes nur entfalten, wenn sich das Individuum seiner Potenzen und Möglichkeiten ebenso bewusst wird und zugleich auch seine Widerstände und Ängste gegenüber der Freiheit erkennt.
Der Aufklärung und ihrer Kritik verdanken wir den technischen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt, der Moderne den Kapitalismus und die Demokratie. Es war ein Emanzipationsprozess für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, der in ständiger Transformation gründete. Dem revolutionären Bruch folgte der Neuanfang, der alsbald kritisiert wurde und wiederum einen Wechsel der Paradigmen einleitete. Ideen wurden verworfen und andere aus grauer Vorzeit wieder hervorgeholt. Der Aktion folgte die Reaktion. Aus dem Feudalismus erhob sich die Demokratie, dem aufsteigenden Kapitalismus begegnete die Arbeiterbewegung und dem Patriarchat die Frauenbewegung. Der europäische Kolonialismus forderte antikoloniale Bewegungen heraus. Die Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts konnten überwunden werden, weil der Widerstand gegen sie à la longue stärker war und sich eine antitotalitäre Tradition entwickelte. Auch wenn die Geschichte gezeichnet ist von Katastrophen und Rückfällen in die Barbarei, konnte dieser fortschreitende Prozess der Befreiung von niemandem aufgehalten werden.
Unsere bisherige Geschichte war so erfolgreich, weil sich wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit immer gegenseitig bedingen und vorantreiben. Ohne die Neugierde, Risikobereitschaft und mutige Schaffenskraft der Individuen hätten wir heute weder Wohlstand noch Demokratie.
Freiheit offensiv verteidigen
Das Bewusstsein für diese Zusammenhänge ist aber weitestgehend verlorengegangen. Stattdessen wachsen die antikapitalistischen Ressentiments. Zum rapiden Ansehensverlust des Kapitalismus trugen obendrein noch viele Marktakteure bei. Denn wirtschaftliche Freiheit bedeutet Eigentum, Wettbewerb, Vertrags- und Gewerbefreiheit, aber eben auch Haftung, d.h. Verantwortung. Unternehmen, Banken und Staaten müssen für ihre Schulden und ihre Misswirtschaft geradestehen. Man kann nicht ewig auf Pump leben und die Schuldenspirale immer höher drehen. Dann platzt irgendwann auch die Blase der öffentlichen Haushalte.
Wir brauchen deshalb einen starken, aber schlanken Staat, der seinen ordnungspolitischen Aufgaben nachkommt und der Versuchung widersteht, der bessere Unternehmer sein zu wollen. Ein Staat, der sich in seiner Interventionslust zurückhält und dafür sorgt, dass verfasste Regeln eingehalten werden. Der als Rechtsstaat die innere und äußere Sicherheit seiner Bürger garantiert und sich jeglicher Übergriffe auf das private Leben und die individuellen Freiheiten seiner Bürger enthält. Ein Staat, der sich seiner Neutralität bewusst ist und weder Recht noch Politik moralisiert. Der kein Tugendwächter, Erzieher und Moralapostel ist. Ein Staat also, der die Grundversorgung und das Existenzminimum seiner Bürger garantiert, für Chancengerechtigkeit sorgt, aber die Eigeninitiative seiner Bürger gerade nicht in paternalistischer Fürsorge erstickt.
Das Gegenstück zum Paternalismus bilden Selbstverantwortung, Eigensinn und Selbstsorge, aus denen neues Selbstvertrauen, Stolz und Würde und damit neue Lebensqualität für den einzelnen Bürger wie auch für Staaten erwachsen können. All dies sind Voraussetzungen, um die Freiheit zu entfalten, neue Freiräume zu entdecken und sie auf dem Weg zu Mündigkeit und Selbstbestimmung auszuloten. Die permanente Verstaatlichung der Verantwortung entsolidarisiert hingegen die Gesellschaft. Solidarität wird damit an Vater Staat und dessen Fürsorge delegiert, weil man sich nicht mehr gegenseitig helfen muss. Um unsere Wirtschafts- und Freiheitskrise zu meistern, sind ein neuer bürgerlicher Eigensinn, Phantasie, Selbsttätigkeit und kreative Dissidenz gegenüber der „sozialen Tyrannei“ der Mehrheit gefragt. Das erfordert bis heute Mut, nämlich die in unserem Rechtsstaat garantierte Meinungsfreiheit auch tatsächlich gegenüber dem Mainstream und der Political Correctness tätig auszuschöpfen, an bequemen Gewissheiten und Tabus zu rütteln.
Krisen fordern zur Selbstvergewisserung heraus: nämlich uns darüber klarzuwerden, was uns wirklich wichtig ist. Wir sollten diese Chance nutzen, die individuelle Freiheit als Herzstück der westlichen Zivilisation stark zu machen, für sie ein Sentiment zu wecken. Doch Selbstbestimmung und Mündigkeit lassen sich nicht herbeizaubern. Sie müssen von jedem Einzelnen mühsam immer wieder neu errungen werden: als Wirtschaftsbürger, politischer Bürger und Individuum, das seine persönliche Freiheit nutzen lernt.
Die Ambivalenzen und Widersprüche, in die uns die Freiheit verwickelt, kann uns jedoch niemand abnehmen, die müssen wir selbst aushalten. Doch wir sind so erwachsen geworden, dass wir keine Tugendwächter brauchen, weder den Staat noch eine Ideologie, die uns moralisch oder politisch vorschreiben, wie wir zu leben haben und wie unser Glück auszusehen hat. Es gibt keine bestimmte Konzeption des guten Lebens, die für alle gültig wäre, aber das Recht eines jeden, frei und gleich geboren, sein jeweiliges Glück zu verfolgen. Dies ist ein offener Prozess ohne Erfolgsgarantie, aber mit der Möglichkeit, Freiheitsräume zu erweitern. Als unser höchstes Gut und Lebenselixier sollten wir die Freiheit offensiv verteidigen, um sie immer wieder neu mit List, Lust und Wonne ergreifen zu können.
Zuerst erschienen auf NOVO-Argumente