Aus meinem neuen Essay-Band “Freiheit in der Krise?”
Roland Tichy
Noch haben wir gar nicht begriffen, welche Wucht die Krise wirklich entfalten kann: Millionen junger Menschen haben den Duft des Wohlstands kennengelernt – was geschieht, wenn der feine Duft verweht? Sie werden sein Verschwinden nicht tatenlos hinnehmen. In den damals demografisch jungen Gesellschaften Europas hat die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre zu einer Radikalisierung beigetragen, die mit die Ursache des Zweiten Weltkriegs wurde. Der Aufstand der Jungen, die sich plötzlich um ihre Zukunft bedroht sehen, kann sich heute wiederholen. Zugegeben: In Deutschland ist davon wenig zu spüren. Rentner keifen, aber revoltieren nicht, jugendliche Stürmer und Drängler fehlen schon demografisch. Denn die überalterte Gesellschaft ist weniger unruhig, weniger explosiv. Vorerst federn wir die Krise mit dem Instrumentarium des Sozialstaats ab. Aber aus der Kurzarbeit kann schnell Arbeitslosigkeit werden; die Renten sollen weiter erhöht werden – aber die Generation der heutigen Beitragszahler muss damit rechnen, dass ihre Renten daher noch schneller als erwartet schrumpfen und ihre private Altersvorsorge erodiert. Damit könnte die Finanzkrise die gesellschaftliche Stagnation und den Abstieg vom Wohlstandsgipfel beschleunigen.
[…]
Wurde jemand gezwungen, sein Geld in Island anzulegen, bei Lehman Brothers zu investieren? Es hat Fehlberatung gegeben – aber die Infantilisierung oder Selbstentmündigung einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich grundsätzlich als Opfer ohne Selbstverantwortung sehen, hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Wir wollen immer mehr, aber nichts dafür tun, nichts verstehen. Die Finanzmärkte sollen uns bereichern, ohne dass wir ihr Wirken bearbeiten. In Deutschland fehlt jede breite Ausbildung zum Thema private Finanzen. Der Kauf eines Sofas wird genauer überlegt als der eines Zertifikats, wir wälzen Autokataloge und überblättern Geschäftsbedingungen. Geld gilt als schmutzig, Spekulation als undeutsch und verwerflich. Diese romantische Haltung muss einer nüchternen, informierten Einstellung weichen. Ohne moderne Kapitalmärkte gibt es keine leistungsfähige Wirtschaft. Exzesse sind zu begrenzen, aber statt einer statischen, rückwärtsgewandten Regulierung werden wir dynamische, die sich verändernden Entwicklungen begleitende Regulierung brauchen, die von einem tiefen Verständnis der Dynamik mehr geprägt ist als von einem verständnislosen Vollzug gestriger Vorschriften.
Der komplette Text steht in:
Freiheit in der Krise?
Der Wert der wirtschaftlichen, politischen und individuellen Freiheit
Humanities Online, Frankfurt 2009
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