Kleinbürger, das sind immer die anderen. Kein vernünftiges Kind träumt davon, einmal Kleinbürger zu werden. Es möchte entweder eine Schokoladenfabrik besitzen, also Großbürger sein. Oder es träumt sich als Lokführer, ein Beruf, der in unseren Kinderbüchern noch rechtschaffen rußig ist („Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, „Henriette Bimmelbahn“), also heroisch-proletarischen Charakter hat. Der Kleinbürger ist das Sandwich-Kind der Soziologie, eingeklemmt und fast unsichtbar zwischen Großbürgertum, Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft. Wer jetzt einwendet, dass es eine solche „Arbeiterschaft“ doch gar nicht mehr gebe, ersetze das Wort durch „Nagelstudio-Assistentin“ bzw. „Telefonladen-Verkäufer mit Migrationshintergrund“.
Neigt der Kleinbürger von Natur aus zur Übellaunigkeit? Ich muss diese Frage mit „ja!“ beantworten. Bevor mir himmelschreiende Arroganz vorgeworfen wird, möchte ich darauf hinweisen, dass ich das kleinbürgerliche Milieu aus ureigener Anschauung kenne, mithin mitten hinein geboren wurde. In seiner milieutypischen Enge und dem Wissen, nicht die Weltläufigkeit und die Grandezza der Wohlhabenden zu besitzen, sich aber auch nicht auf dem Bildungsschmuck der mittleren Lage oder der Scheißegal-Haltung des untersten Sediments ausruhen zu können, ist das Kleinbürgertum in beständigem Argwohn gefangen. Die Inschrift über dem Tor zu seinem Geistesknast lautet: „Man hat uns die Butter vom Brot genommen!“. Läuft der Laden einmal wider Erwarten rund, muss sich der Kleinbürger sorgen, dass ihm in Zukunft die Butter vom Brot genommen werden könnte. Damit wäre ich bei meinem eigentlichen Thema: Dem Kleinbürger und der Kulinarik.
In seinen Memoiren „Geschichte eines Deutschen“ fragt sich der Publizist und Historiker Sebastian Haffner, weshalb das deutsche Kleinbürgertum Adolf Hitler in Scharen nachgelaufen ist, während sein französisches und englisches Pendant der totalitären Versuchung widerstand. Dabei kommt er unter anderem auf die Genussfähigkeit von Deutschen, Briten und Franzosen zu sprechen. Sinngemäß schreibt Haffner, dass die Tristesse eines typisch deutschen Kleinbürgerlebens erheblich von dessen Unfähigkeit her rühre, kleine Alltagsfreuden zu kultivieren. Haffner spricht in diesem Zusammenhang sogar von Würde: Während sich der französische Kleinbürger essend und trinkend mit der Welt versöhnt, versteht es der Brite, durch hingebungsvolles Gärtnern oder einen leidenschaftlich betriebenen Sport über seine kümmerliche Existenz hinauszuwachsen.
Nun ist der Gedanke uralt, dass Heiterkeit und Genussfähigkeit eine unabdingbare Basis für das gute Leben und somit auch für guten Bürgersinn sind. Der griechische Philosoph Epikur war dieser Meinung, und sogar der Sachse Friedrich Nietzsche, dessen Leben im Schweizer Pensionszimmer überaus spartanisch war, erkannte dort: „Die Mutter aller Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.“ Das erinnert mich an Beobachtungen bei einer französischen Gastfamilie in Chinon. Das Familienoberhaupt war Wachmann in einem Atomkraftwerk. Über der Frage „was essen wir heute abend?“ und den entsprechenden Einkäufen verstrich der halbe Samstag. Die andere Hälfte ging fürs Kochen und die Frage „und welche Flasche dazu?“ drauf. Meist blieb es bei der einen Flasche Wein zum Essen, besoffen habe ich dort niemanden gesehen.
Eine genuin kleinbürgerliche Küche gibt es meiner Meinung nach nicht, auch wenn mir dazu Dinge wie „Falscher Hase“ oder „Arme Ritter“ einfallen, aber das ist rein assoziativ. Eine bürgerliche Küche dagegen gibt es bekanntermaßen, sie ist die in die weitere Gesellschaft diffundierte Küche des Adels, aus der sich neben bäuerlichen Einflüssen die kulinarische Tradition eines Landes entwickelte. Frankfurt am Main und Leipzig dürfen sich rühmen, im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Hochburgen der feinen Küche gewesen zu sein. Hamburg und München waren damals noch nicht die bürgerlich-urbanen Zentren, als die wir sie heute kennen. Berlin war wohl zu proletarisch und auch zu militaristisch, um in der Genussliga ganz oben mitspielen zu können. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Sebastian Haffner seine Geburtsstadt der 20er Jahre wohlgefällig als „Prototyp einer internationalen Metropole“ betrachtete. Mit den herrischen Preußen sei Berlin nicht in einen Topf zu werfen, Berlin und Preußen seien zweierlei.
Ein berühmtes Beispiel für die feine Leipziger Küche ist das „Leipziger Allerlei“, zu dessen Wiederauferstehung in den vergangenen Jahren einige junge Köche beigetragen haben. Davor sah es duster aus, denn während die große Leipziger Tradition daselbst in den Spülwasserschwaden der Betriebskantinen unterging, sperrte der Westen fahle Erbsen und Möhrchen unter dem Etikett „Leipziger Allerlei“ in Dosen. Schön war beides nicht. Für ein richtiges „Leipziger Allerlei“ braucht man frische Flusskrebse, die es früher reichlich in freier Wildbahn gab. Ersatzweise greift man zu ausgelöstem Krebsfleisch vom Fischhändler oder zu Dosenware, die manchmal gar nicht schlecht ist.
Dieses Rezept hat mir der Gastrosoph und Kochbuchautor Gerd Sollner verraten, dessen jüngstes Werk über die Familienrezepte der aus Hanau stammenden Gebrüder Grimm („Grimms Kochbuch“, Reprintverlag Leipzig, 19,90 Euro) einen authentischen Eindruck von der gehobenen bürgerlichen Küche des 19. Jahrhunderts vermittelt:
Leipziger Allerlei:
Für die Soße: 40 g Butter, 60 g Zwiebeln, 100 ml Weißwein, 100 ml Geflügelfond, 200 ml Sahne, Lorbeerblatt, 20 Mehlbutter.
Die Hälfte der Sahne steif schlagen. Die Zwiebeln schälen und in sehr kleine Würfel schneiden. Die Butter in einer Stielpfanne zerlaufen lassen, Zwiebeln und Lorbeerblatt anschwitzen. Mit dem Weißwein ablöschen und reduzieren lassen. Den Geflügelfond und die restliche Sahne zugeben. Mit etwas Mehlbutter abbinden und mixen. Zum Schluss die geschlagene Sahne zugeben.
Für das Gemüse: 6 Stangen weißer Spargel, 100 g Möhren, 100 g grüne Bohnen, 100 g (möglichst frische) Erbsen, 100 g Blumenkohl, 100 g Romanesco , 150 g Kohlrabi, 80 g Morcheln, 40 g Butter, 20 Flusskrebse oder 400 g Krebsfleisch, einige Wedel Estragon, etwas glatte Petersilie, Salz, Pfeffer, Cayennepfeffer.
Das Gemüse putzen, schälen und in mundgerechte Stücke schneiden. Die Kräuter putzen, waschen und abtropfen lassen, vier Bouquets zur Seite legen, den restlichen Teil fein schneiden. Die Morcheln putzen, sehr sorgfältig waschen und leicht ausdrücken. Die Butter in einer Pfanne erhitzen und die Morcheln darin anschwitzen. Mit Salz und Pfeffer würzen und warm stellen. Die Flusskrebse kochen, ausbrechen und ebenfalls warm stellen. Ersatzweise Krebsfleisch aus der Dose langsam erwärmen.
Das Gemüse nach und nach - entsprechend den Garzeiten - in eine Stielpfanne mit etwas Flüssigkeit und einem Teil der Soße geben und gar dünsten. Die restliche Soße zugeben, Kräuter und die übrige geschlagene Sahne unterheben. Nochmals mit Salz, Pfeffer und etwas Cayennepfeffer abschmecken. Das Gemüse auf vorgewärmte Teller geben. Die Flusskrebse bzw. das Krebsfleisch daraufsetzen und mit den Kräuterbouquets garnieren.