Hansjörg Müller / 29.01.2012 / 17:43 / 0 / Seite ausdrucken

Ein Gespenst kehrt zurück nach Europa

Wer auf dem Amsterdamer Visserplein steht, der kann ein prächtiges, massives Backsteingebäude unmöglich übersehen: die Portugiesische Synagoge. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert, Hollands «Goldenem Zeitalter». In jener Epoche stieg die Republik der Vereinigten Niederlande zur führenden Handels- und Seefahrernation Europas auf. Gleichzeitig zog das kleine, streng calvinistische, aber tolerante Land Glaubensflüchtlinge aus dem Süden Europas an. Nach der Einführung der Inquisition in Portugal 1531 flohen spanische und portugiesische Juden nach Amsterdam. 400 Jahre später sollte das selbstverständliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ein jähes Ende finden. Am 10. Mai 1940 überfielen deutsche Truppen das neutrale Holland. An der Prinsengracht, am anderen Ende der Amsterdamer Altstadt, steht das Anne-Frank-Haus. Dort versteckte sich das jüdische Mädchen Anne Frank zusammen mit seiner Familie, die 1933 aus Deutschland in die Niederlande geflohen war. Am 1. August 1944 wurde die Familie Frank entdeckt und verschleppt. Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Heute ist das «Tagebuch der Anne Frank» Pflichtlektüre in niederländischen Schulen. Und doch scheint Amsterdam heute, 66 Jahre nach Ende der deutschen Besatzung, trotz aller Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit, für Juden kein sicherer Ort mehr zu sein. Frits Bolkestein, ein ehemaliger niederländischer EU-Kommissar, sieht für «bewusste Juden» in den Niederlanden heute keine Zukunft mehr. All jene, die an ihrer Bekleidung als
Juden erkennbar seien, also Orthodoxe, sollten ihren Kindern raten, in die USA oder nach Israel auszuwandern, sagte Bolkestein, der der rechtsliberalen Partei von Premier Mark Rutte angehört. Tatsächlich ist die Zahl antisemitischer Übergriffe in Holland 2009 im Vergleich zum Vorjahr um das Zehnfache gestiegen und seither auf einem ähnlich hohen Niveau geblieben. Bei den Tätern handelt es sich meist um marokkanische, seltener um türkische Muslime. Indonesier, noch immer die größte Gruppe unter den in Holland lebenden Muslimen, sind dagegen noch kein einziges Mal als Täter in Erscheinung getreten.

In Paris leben mehr Juden als in jedem westeuropäischen Land. Am 13. Februar 2006 wurde der 23-jährige jüdische Telefonverkäufer Ilan Halimi sterbend an einem Bahndamm im Pariser Vorort St-Geneviève des Bois gefunden. Sein Körper war durch Brand- und Stichwunden grausig entstellt. Später bekannte sich der 26-jährige muslimische Ivorer Yusuf Fofana zu der Tat. Fofana und seine Bande, die sich selbst «die Barbaren» nannten, hatten 450.000 Euro erpressen wollen. Sie glaubten, Juden seien reich. Vor Gericht ließ Fofana seinem Judenhass freien Lauf und brüstete sich mit seiner Tat: «Lieber einen Tag als Löwe leben als 100 Tage als Schaf.» Der Mord an Halimi war nur ein besonders schockierender Fall unter vielen. 2000 gab es in Frankreich 744 Gewaltakte und Drohungen gegen Juden, damals ein neuer Höchststand nach dem Krieg. 2004 und 2009 lag die Zahl der Delikte noch höher.
In einem Essay für das britische Magazin «Standpoint» erklärt Christopher Caldwell, wie sich das Verhältnis Frankreichs zu den Juden in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat. Nach der Gründung Israels 1948 waren beide Länder enge Verbündete; sie arbeiteten sogar bei der Entwicklung der Atombombe zusammen. Das änderte sich mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Charles de Gaulle bezeichnete die Juden nun als ein «elitäres Volk, selbstsicher und dominant». Die Sympathie der verschiedenen französischen Regierungen lag von nun an mehr und mehr auf der arabischen Seite. Das hatte auch innenpolitische Gründe: Frankreichbeherbergt die größte muslimische Minderheit Europas. Und während die Zahl der
Juden durch Auswanderung und Mischehen immer weiter abnimmt, nimmt die der Muslime,
heute ungefähr fünf Millionen, immer weiter zu. Anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2002 gab der Politologe Pascal Boniface der Sozialistischen Partei ganz offen den Rat, bei der Ausrichtung ihrer Nahostpolitik an die stetig wachsende Zahl muslimischer Wähler zu denken.

Linke Intellektuelle treten dem neuen Judenhass nicht entgegen – im Gegenteil: Ende 2010 veröffentlichte Stéphane Hessel ein Pamphlet mit dem Titel «Indignez-Vous!» («Empört Euch!»). Seine grösste Sorge, so schreibt Hessel, betreffe Palästina. «Es ist inakzeptabel, dass die Juden selbst Kriegsverbrechen begehen. Leider gibt es in der Geschichte kaum Beispiele für Völker, die aus ihrer eigenen Geschichte Lehren ziehen.» Sicher, man darf Israel kritisieren. Doch wenn Hessel schreibt, seine größte Sorge sei Palästina – so als gäbe es Darfur, Somalia, Kongo und andere Krisengebiete gar nicht, dann macht er sich unglaubwürdig. Dass mit dem 93-jährigen Hessel ausgerechnet ein Jude und ehemaliger Résistance-Kämpfer dazu beiträgt, den jüdischen Staat verächtlich zu machen, ist sicher eine der schwärzesten Komödien der jüngsten französischen Geschichte. Ein europäischer Einzelfall ist es jedoch nicht. 2001 sagte Günter Grass: «Israel muss nicht nur besetzte Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden.» Nun kann man mit Recht fordern, dass Israel sich aus besetzten Gebieten zurückzieht. Aber was meint Grass, wenn er sagt, Israel müsse «nicht nur besetzte Gebiete räumen»? Er kann nur das israelische Kernland meinen. Folglich spricht er dem Judenstaat das Existenzrecht ab.

Mittlerweile, so berichtet Christopher Caldwell, besucht ein Drittel der jüdischen Schüler im
Großraum Paris jüdische Schulen, ein weiteres Drittel geht in katholische Bildungseinrichtungen. Staatliche Schulen, so scheint es, sind für Juden kein sicherer Ort mehr. Unterrichtseinheiten über den Holocaust können dort kaum noch durchgeführt werden, zu massiv ist der Protest, den arabische Schüler dagegen artikulieren. Es sieht so aus, als sei der Antisemitismus in die europäische Öffentlichkeit zurückgekehrt. Und Europa scheint
kapituliert zu haben.

Erschienen in der „Basler Zeitung“ vom 24. November 2011.

© Basler Zeitung

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