Hansjörg Müller / 07.02.2014 / 23:02 / 0 / Seite ausdrucken

Ein Anfall von Ehrlichkeit

Die Bonmots, Spitzen und Sottisen, die über das diplomatische Gewerbe umgehen, sind Legion. „Diplomatie ist die Kunst, mit hundert Worten zu verschweigen, was man mit einem einzigen sagen könnte“, schrieb der französische Lyriker Saint-John Perse, im bürgerlichen Leben selbst Diplomat, während der italienische Schriftsteller Giovanni Guareschi festhielt, ein Diplomat sei ein Mensch, der offen ausspreche, was er nicht denke. Als prototypischer Repräsentant seines Standes wird nicht umsonst häufig Charles Maurice de Talleyrand herumgeboten, der französische Edelmann, der von Ludwig XVI. über diverse revolutionäre Regierungen und Napoleon bis zum restaurativen Bürgerkönig Louis Philippe jedem Regime seine Dienste zur Verfügung stellte. Ein Lügner und Intrigant, der mit Engelszungen redet und dabei stets den Dolch im Gewande trägt, so stellt sich das Volk einen Diplomaten vor.

Sagt allerdings ein Diplomat doch einmal, was er denkt, ist es auch wieder nicht recht. Dann kommt es vor und hinter den Kulissen zu den kompliziertesten Irrungen und Wirrungen und die Presse ruft: „Skandal!“ Einen solchen hat dieser Tage die amerikanische Spitzendiplomatin Victoria Nuland losgetreten. Die UNO solle die Dinge in der Ukraine „zusammenkleben“, forderte Nuland und fügte auch gleich noch ihre Einschätzung der Rolle Brüssels im Konzert der Mächte hinzu: „Fuck the EU“, frei übersetzt: „Scheiss auf die EU“ sagte die 54-jährige Europabeauftragte der Obama-Regierung in einem Gespräch mit US-Aussenminister John Kerry und Geoffrey Pyatt, der als US-Botschafter in Kiew residiert.

Peinlicherweise gelangte ein Mitschnitt des Gesprächs ins Internet, wo er nun in diversen Versionen auf dem Portal Youtube von aller Welt angehört werden kann. Wie dies geschehen konnte, ist vorderhand unklar; Obamas Sprecher Jay Carney deutete an, die Russen könnten dahinter stecken. In Europa war die Aufregung naturgemäss gross: „Absolut unakzeptabel“ seien Nulands Äusserungen, liess die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verlauten. Das US-Aussenministerium versicherte, Nuland habe sich bereits entschuldigt.

Dabei müsste man Victoria Nuland zugutehalten, dass sie in Kiew einen Anfall von Ehrlichkeit erlitten hat. Ihre Wut auf die Europäer, die zwar überall mitreden wollen und oft als schärfste Kritiker der Amerikaner auftreten, den USA jedoch gerne die militärische Führung im westlichen Bündnis überlassen, dürfte in Washington von vielen geteilt werden. In Brüssel sollte man der Undiplomatin indes dankbar dafür sein, dass sie für einmal aus der Rolle fiel und Klartext sprach, denn wie sagte der französische Staatsmann Félix Faure: „Diplomatie ist die Kunst, einen Hund so lange zu streicheln, bis Maulkorb und Leine fertig sind.“

Zuerst erschienen in der „Basler Zeitung“

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Hansjörg Müller / 23.11.2017 / 18:00 / 0

Hang on, Berlin busy

Verglichen mit anderen europäischen Ländern und gemessen an seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung ist Deutschland in weiten Teilen der britischen Presse eher untervertreten. Das westliche…/ mehr

Hansjörg Müller / 02.10.2017 / 16:05 / 8

Ein Besuch in der “Islamischen Republik Tower Hamlets”

Von Hansjörg Müller. Es scheint, als sei es im Rathaus von Tower Hamlets nicht überall ratsam, laut zu reden. "Willkommen in Grossbritanniens dysfunktionalstem Bezirk", raunt…/ mehr

Hansjörg Müller / 16.08.2017 / 15:25 / 4

Wegschauen bis zum Gehtnichtmehr

Die skandalösen Vorgänge, die Grossbritannien derzeit beschäftigen, haben sich über Jahre hingezogen. Dasselbe gilt für ihre Aufklärung: Am Mittwoch befand ein Gericht in Newcastle 17…/ mehr

Hansjörg Müller / 23.04.2017 / 06:25 / 0

Der neue Klassenkampf: Bodenpersonal gegen Raumfahrer

Interview. Hansjörg Müller sprach mit David Goodhart. Diejenigen, über die wir an diesem Nachmittag reden, sieht man an David Goodharts Wohnort nicht: Wer in Hampstead…/ mehr

Hansjörg Müller / 12.11.2016 / 06:20 / 0

Wenn Donald die Brechstange wegpackt

Donald Trump ist eine politische Blackbox. Für Journalisten macht ihn das attraktiv: Man kann endlos darüber spekulieren, was er als Präsident wohl tun wird. Zwar…/ mehr

Hansjörg Müller / 10.06.2016 / 06:15 / 2

Brexit: Reden wir doch mal mit den Briten statt über sie

Wer sich als britischer Historiker dieser Tage politisch äussert, scheint gar nicht vorsichtig genug sein zu können: Einen Reporter von Le Devoir aus Montreal hat…/ mehr

Hansjörg Müller / 24.05.2016 / 09:05 / 1

Österreich: Der weniger problematische Obskurant hat gewonnen

Es fiel schwer, in diesem Wahlkampf Partei zu ergreifen. Alexander Van der Bellen, Österreichs neuen Bundespräsidenten, verband mit seinem Gegner Norbert Hofer mehr, als beider…/ mehr

Hansjörg Müller / 26.04.2016 / 10:45 / 3

Bundespräsidentenwahl: Österreich lechts und rinks

Auf das Wahlergebnis folgte – wie meist – der Moment der Phrasendrescherei: Heinz-Christian Strache, der Chef der rechten FPÖ, trat vor die Kameras, überdreht, das…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com