Von Hansjörg Müller
Der Kontrast zwischen England und Frankreich könnte dieser Tage kaum größer sein: obwohl die Londoner Regierung Haushaltskürzungen angekündigt hat, die bis zu 40 Prozent betragen sollen, gibt es kaum Proteste. Ganz anders auf der anderen Seite des Kanals: dort hat Präsident Sarkozy gerade eine Rentenreform durch den Senat gebracht. Diese sieht eine Anhebung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre vor - ein äußerst moderater Einschnitt, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Lebenserwartung der Franzosen weltweit zu den höchsten zählt. Trotzdem könnten die Proteste kaum größer sein: drei Millionen Franzosen streiken; zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen die Streikenden - trotz der auf den Streik folgenden chaotischen Zustände, an die die Franzosen bereits gewöhnt zu sein scheinen.
Sarkozy hat seine Präsidentschaft als politischer Außenseiter angetreten. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten, sowohl denen in der eigenen Partei als auch den Sozialisten, hat er keine der prestigiösen Elitehochschulen der Republik besucht. Obwohl er demselben politischen Lager angehört wie sein Vorgänger Jacques Chirac, stellte sein Aufstieg einen eigentlichen Bruch mit dessen Politik dar: der neue Präsident schien ein Anhänger des angelsächsischen Modells zu sein; Kommentatoren sahen ihn als französische Margaret Thatcher und erwarteten entsprechend kühne Reformschritte. Davon ist nicht viel geblieben. Sarkozy kündigte zwar an, das französische Staatsdefizit innerhalb von drei Jahren halbieren zu wollen. Eine Antwort auf die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll, ist er bis jetzt jedoch schuldig geblieben.
Anders als Sarkozy entstammt David Cameron dem Establishment. Margaret Thatcher und John Major, die beiden letzten konservativen Premierminister, hatten sich aus dem Kleinbürgertum nach ganz oben gearbeitet. Im Vergleich mit ihnen wirkt Cameron beinahe wie ein Tory aus dem 19. Jahrhundert. Angesichts seines brachialen Sparprogramms sollte ein solcher Regierungschef für weite Teile der Bevölkerung ein geradezu klassisches Feindbild abgeben. Was also macht Cameron besser als Sarkozy? Zum einen hat Cameron das Problem taktisch geschickter angegangen: gleich zu Beginn seiner Amtszeit kündigte er drastische Einschnitte an. Sein Gedanke dabei mag gewesen sein, den Bürgern erst einmal das Schlimmste zu versprechen. Wer mit Kürzungen von 40 Prozent rechnet, wird am Ende froh sein, wenn dann doch nur 15 Prozent eingespart werden. Auch in 10 Downing Street wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Eines aber ist sicher: Cameron wird Einsparungen in einem Ausmaß vornehmen, wie es in Frankreich, aber auch in Deutschland schlechterdings unmöglich wäre.
Der wütende Protest, der Frankreich lahmlegt, ist keineswegs ein Aufstand der Armen und Mittellosen. Vielmehr ist es die Mittelschicht, die hier versucht, althergebrachte Privilegien zu verteidigen. Die französische Arbeitnehmerschaft stellt heute praktisch einen exklusiven Club dar, in den es sehr schwer ist, Einlass zu finden. Wer einmal drin ist, kann kaum noch entlassen werden. Und er genießt soziale Leistungen wie die 35-Stunden-Woche oder eben die Frühverrentung, die kaum mehr finanzierbar sind. Draußen bleiben müssen vor allem die Jungen, etwa Muslime aus den Banlieues, aber auch junge Akademiker. Vor diesem Hintergrund bleibt es ein unverständliches französisches Paradox, warum gerade Studenten und Gymnasiasten an vorderster Front enthusiastisch mitstreiken.
Die französischen Probleme sollten auch Deutschland beunruhigen. Möglicherweise steuert Frankreich auf griechische Zustände zu. Bei ihrem Versuch, den Euro-Stabilitätspakt zu verschärfen, hat Angela Merkel gerade eine krachende Niederlage erlitten. „Ohne Frankreich geht nichts in der EU“, versuchte die Kanzlerin ihr Nachgeben als einen Akt der Vernunft darzustellen. Ohne Deutschland allerdings auch nicht - und so könnte man auch der Ansicht sein, Frau Merkel habe einfach schlecht verhandelt. Die deutschen Medien betrachteten das Ereignis vor allem unter innenpolitischen Gesichtspunkten: die Kanzlerin habe ihrem Außenminister Westerwelle, der auf eine härtere Gangart gedrängt hatte, gezeigt, „wer Koch ist und wer Kellner“, höhnte ein Kommentator im Deutschlandfunk, wo man jede Niederlage der verhassten, weil „neoliberalen“ FDP mit wenig verhohlener Schadenfreude kommentiert. Auf europäischer Ebene sind die Rollen anders verteilt. Hier ist Frau Merkel die Kellnerin.
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/