Sophie Dannenberg
In der aktuellen Debatte um Sexismus wird vor allem das Argument der Machtausübung der Männer gegenüber Frauen hervorgehoben. Männer seien sexistisch, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Das stimmt so nicht. Der sexuelle Grenzübertritt ist facettenreicher. Und natürlich betrifft er nicht nur Frauen. Auch Männer können sich gruseln, wenn Geschäftsfreunde sie zum gemeinsamen Puffbesuch auffordern oder Bekannte ungefragt mit sexuellen Erlebnissen prahlen. Im übrigen gibt es obszöne Gespräche auch zwischen Männern und Frauen, ohne dass hier Flirt oder Anmache im Vordergrund stünden.
Ein schönes Beispiel liefert die Fernsehserie „Dexter“, die auf einem Polizeirevier spielt. Eigentlich geht es um Dexter, der Forensiker und insgeheim Serienkiller ist. Viel interessanter für uns ist aber das Verhalten der Polizistin Debra, seiner Schwester. Während Dexters sterile Morde mit der Zeit langweilig werden, schockt Debra ihre männlichen Kollegen und die Fernsehzuschauer unentwegt mit versauten Sprüchen. „Geh Bauklötze scheißen und fick mich damit“ ist noch einer der harmloseren. Die Folge: Die Männer im Revier betrachten sie nicht etwa als Freiwild, sondern als eine der ihren. Der Sexismus hat hier eine schützende Funktion für die Frau und dient dazu, den Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht hervorzuheben, sondern zu negieren, und zwar so weit, dass Debra schließlich Chefin dieser Männerwelt werden kann. Vermutlich ahnungslos haben die Drehbuchautoren eine wichtige soziale Funktion des Sexismus beschrieben: die der Harmonisierung. Wenn man versaut miteinander redet, gehört man dazu und zusammen. Angestrebt wird nicht etwa Sex, sondern Solidarität. Ich will damit klarmachen, dass Anzüglichkeit nicht immer Anmache bedeuten muss.
Ein weiteres Beispiel: Der Film „Good Will Hunting“ beschreibt die Liebesgeschichte zwischen einer Harvardstudentin und einem hochbegabten Bauarbeiter. Als er sie seinen Prekariats-Freunden vorstellt, erzählen die erstmal dreckige Witze. Sie erzählt daraufhin den allerdreckigsten und wird von da an voll anerkannt. Sie hat bewiesen, dass sie nicht nur ein echter Macho ist, sondern genauso volksnah. Damit hat sie sexuelle und soziale Spannungen im Handstreich abgebaut.
Der Herrenwitz erweist sich also als äußerst effektiver Katalysator nicht nur des gender mainstreaming, sondern auch der klassenlosen Gesellschaft. Möglich, dass Brüderle bei jener Begegnung an der Bar weder flirten noch die „Erotik der Macht“ ausspielen, sondern Anerkennung demonstrieren wollte, von Kerl zu Kerl. Wenn ein Mann zu einer Frau so plump spricht wie zu seinen Skatkumpels, dann sieht er sie nicht als Frau, sondern als seinesgleichen.
Solchen Missverständnissen hat möglicherweise die Frauenbewegung Vorschub geleistet, indem sie eine Anpassung an das Männliche betrieb, anstatt die Aura der Andersartigkeit zu stärken. Zugleich bewegen sich Frauen noch nicht lange und nicht sicher genug auf diesem männlichem Terrain, um die Subtexte richtig entschlüsseln zu können. Das ist wohl einer der Gründe, warum die Sexismus-Debatte noch immer nicht aufhören will. Sexualität ist eine Sprache mit vielen, teilweise widersprüchlichen Bedeutungsebenen, archaisch und artifiziell zugleich.
Zurück zur Machtfrage. Wenn ich die zahlreichen verbalen sexuellen Übergriffe Revue passieren lasse, die ich bislang selbst erlebt habe, dann kamen die wenigsten von oben, sondern von Männern, die eindeutig sozial schwächer waren, also von Bauarbeitern, arbeitslosen türkischen Jugendlichen, angeheiterten Konzertbesuchern aus der Provinz. Der letzte, der mir, als ich mit dem Fahrrad vorbeifuhr, einen ekligen Spruch hinterherjohlte, war Gemüselieferant. Ich will hier keine Bauarbeiter, arbeitslosen Türken, Dorfbewohner oder Gemüselieferanten abwerten und auch nicht behaupten, dass die feinen Leute so was nicht täten. Ich will nur der Frage Raum geben, warum so viele sexuelle Übergriffe von unten kommen und ob Sexismus nicht viel mehr mit Ohnmacht als mit Macht zu tun hat.
Derjenige, der sich einen Übergriff leistet, weiß, dass er das nicht darf - und es gerade deswegen tut. Er begeht damit einen revolutionären Akt. Er handelt im Rahmen eines Klassendenkens und begehrt auf. Dieser Akt hat nicht primär mit Frauenfeindlichkeit zu tun. Er richtet sich nicht gegen eine Frau, sondern gegen eine höhere Klasse. Und er zielt auf die Frau, weil sie zufällig schwächer ist als der Mann, der dem Angreifer dafür die Fresse bügeln könnte. Die Frau ist jene weiche Flanke der Reaktion, die man am leichtesten treffen kann.
Als ich mit dem Fahrrad einen U-Turn machte und den Gemüselieferanten zur Rede stellte, wurde er kleinlaut und entschuldigte sich. Ich sprach von oben herab, und er verstand. Oben und unten waren wieder klar definiert. Das war Klassenkampf, und ich war der Sieger.