Hinterher ist man immer schlauer. Als die Amerikaner Ende Oktober 2002 anboten, den in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz aus dem Gefangenenlager Guantanamo Bay freizulassen und nach Deutschland abzuschieben, winkten die Deutschen ab. Das war rückblickend ein schlimmer Fehler: juristisch, politisch und menschlich. Der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier leitete die Runden, in denen dieser Fehler begangen wurde. Er muss sich deshalb zu Recht unbequeme Fragen stellen lassen.
Gegen Kurnaz lag nichts Konkretes vor, das hatten die US-Dienste längst ermittelt. Seine Familie lebte in Bremen, die Türkei wollte ihn nicht - gute Gründe, den damals 20-Jährigen wieder einreisen zu lassen. Fairerweise muss man den damals Handelnden aber zugestehen, dass es durchaus auch gute Gründe gab, Kurnaz zurückzuweisen. Die Bundesregierung fühlte sich mitverantwortlich für die Attentate vom 11. September 2001. Die Täter um Mohammed Atta hatten in Hamburg gelebt, praktisch vor der Nase deutscher Behörden. Entsprechend sensibilisiert waren diese im Jahr darauf, wenn es um Islamisten ging.
Und es bestand kein Zweifel, dass Kurnaz Islamist war. Wie hätte ein Bremer Junge auch sonst Ende 2001 auf die Idee kommen können, sich ausgerechnet in Pakistan einer Koranschule anzuschließen? Deswegen gab es im Herbst 2002 gegen Kurnaz Bedenken. Vor allem aber: Er ist kein Deutscher. Für sein Wohlergehen wäre zuallererst die Türkei zuständig gewesen.
Der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung wurde 2002 also nicht in Berlin erfüllt, zumindest nicht allein. Doch mittlerweile ist klar, dass die rot-grüne Bundesregierung sich nicht besonders anstrengte, um die Fehlentscheidung von 2002 zu korrigieren. Mit Nachdruck ist der Fall Kurnaz erst von der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel angesprochen worden - mit seiner vergleichsweise zügigen Entlassung als Ergebnis. Briefwechsel des Auswärtigen Amts mit Kurnaz’ Anwalt legen nahe, dass der damalige Außenminister Joschka Fischer in dem Fall wenig unternahm. Und als Fischer schrieb, der deutsche Einfluss sei gering, müsste er gewusst haben, dass Kurnaz in Guantanamo von deutschen Ermittlern verhört worden war.
Fischer steht mit Ex-Bundeskanzler Schröder prominent für das unmoralische doppelte Spiel der rot-grünen Regierung. Nach außen konnte spätestens im anti-amerikanischen Wahlkampf 2002 kein Wort scharf genug sein - hinter den Kulissen ließ man Kurnaz (und andere) in Guantanamo sitzen. Dass Fischer, im Gegensatz zu Schröder, „Graustufen“ im Antiterrorkampf verteidigt und in der Regel auf antiamerikanischen Populismus verzichtete, hat ihm in der eigenen Partei so manchen Gegner beschert. Ist Fischer deshalb das eigentliche Ziel der „undichten Stellen“, die interne Vermerke an das Magazin „Stern“ weitergaben - zumal in einem Fall, an dem nichts neu ist?
Doch unabhängig von politischen Ränkespielen bleibt es unentschuldbar, dass Rot-Grün mehrere Chancen nicht nutzte, Unschuldige aus Guantanamo zu befreien - Kurnaz ist ja nicht der einzige Fall. Dass dies ausgerechnet einer Regierung scheibchenweise nachgewiesen wird, die das Unrecht von Guantanamo öffentlich brandmarkte und politisch nutzte, ist besonders skandalös.
(Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger, 14.12.06)