Rainer Bonhorst / 17.05.2020 / 14:00 / 16 / Seite ausdrucken

Die systemrelevante Übersterblichkeit

Jede Krise schafft sich ihre eigene Sprache. Auch Corona konfrontiert mich medial mit einigen linguistischen Überraschungen. So frage ich mich neuerdings: Welches Verhältnis habe ich zur „Übersterblichkeit“? Ist meine „Reproduktionrate“ so wie sie sein sollte? Wie steht es um meine „Systemrelevanz“? Und wie ist es um die „Massen-Immunität“ bestellt? Und schließlich: Ist der „Lockdown“ eine neue Modefrisur?

Wer will ausschließen, dass der Lockdown demnächst bei den Friseuren vielleicht als moderne Variante des früheren Vokuhila Einzug hält: oben glatt und unten Locken? Die Friseure waren ja lange genug vom Lockdown betroffen. Aber wenn ich die Sache richtig verstehe, so dient der Lockdown vor allem dazu, die Übersterblichkeit in den Griff zu bekommen. 

Die Übersterblichkeit? Sie ist dieser Tage in aller Munde, aber für mich ist sie ein neues Phänomen, auch wenn sie für eingeweihte Medizin-Statistiker ein alter Hut sein mag. Wie also muss ich mir so eine Übersterblichkeit vorstellen? Verhält sie sich zur Wald- und Wiesensterblichkeit wie der Übermensch zum Normalo? Ist, wer in der Statistik der Übersterblichkeit erscheint, ein Übertoter? Ist er vielleicht das, was man in der Umgangssprache mausetot nennt? Gibt es, als naturwissenschaftlich notwendigen Kontrapunkt zur Übersterblichkeit auch eine Untersterblichkeit?

Vielleicht hilft ja die Reproduktionsrate weiter. Auch sie soll durch den Lockdown unter Kontrolle gebracht werden. Die Reproduktionsrate? Bisher habe ich gedacht, dass die Reproduktion fürs Kinderkriegen zuständig ist. Je nachdem wie viele Kinder produziert werden, könnte man von einer Unterreproduktion oder von einer Überreproduktion sprechen. In der Corona-Krise aber hat die Reproduktionsrate eine ganz andere Bedeutung angenommen. Wie ich lese, höre und sehe, beschreibt diese alternative Reproduktionsrate, wie viele Gesunde ein Corona-Befallener mit seinem Virus ansteckt. Wenn die Rate eine Eins ist, dann steht es unentschieden. Rutscht sie unter Eins, gewinnen die Gesunden. Steigt sie über Eins, gewinnen die Viren. Es sieht so aus, als sei die Virus-Reprodukionsrate eine entfernte Verwandte der Übersterblichkeit. Denn die tritt offenbar genau dann ein, wenn die Viren gewinnen.

Ich fürchte nämlich, nicht systemrelevant zu sein

Bisher bin ich (toi, toi, toi) diesen beiden Neusprech-, beziehungsweise Fachsprech-Varianten nur medial und zum Glück nicht persönlich begegnet. Umso mehr beschäftigt mich ein anderes, durch Corona wieder aktuell gewordenes Problem. Ich fürchte nämlich, nicht systemrelevant zu sein. Das hat mich bisher nicht weiter gestört. Bisher waren ja nur unsere Banken systemrelevant, als sie sich an den Rand einer Übersterblichkeit manövriert haben und drohten, das ganze Finanzsystem mit in den Abgrund zu reißen. Klar, dass wir Steuerzahler den armen systemrelevanten Banken aus der Patsche helfen mussten, in die sie sich und uns hinein gezockt haben.

Corona hat die Systemrelevanz jetzt auf eine viel breitere, geradezu universelle Basis gestellt. Zur Zeit will fast jeder systemrelevant sein, damit wir Steuerzahler ihm aus der Corona-Patsche helfen: Autogiganten und kleine Bäckereien, Luftfahrtriesen und Luftikusse, Staatstheater und Rock'n'Roller. Sie alle pochen auf Systemrelevanz. Einige werden wahrscheinlich sogar eine Systemüberrelevanz für sich beanspruchen.

Ich nicht. Als alter weißer Mann im Rentenalter habe ich keinerlei Systemrelevanz. Nicht mal eine Null-Acht-Fuffzehn-Relevanz, geschweige denn eine Überrelevanz. Ich bin, offen gestanden, systemunterrelevant. Ich versuche, mit meiner Unterrelevanz gelassen umzugehen. Systemrelevanz ist schließlich nicht alles. 

Hauptsache, ich bin bisher von der Übersterblichkeit verschont geblieben. Hat das mit dem Lockdown zu tun? Oder könnte es sein, dass ich im Besitz einer Massen-Immunität bin? Eher nicht. Die Massen-Immunität soll ja hauptsächlich in Schweden vorkommen. Vor allem bei den jungen Schweden. Die alten Schweden tun sich mit der Massen-Immunität wahrscheinlich schwerer. Die haben nun mal eine ungünstige Reproduktionsrate und neigen zur Übersterblichkeit. Allerdings sind sie auch nicht systemrelevant. 

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Hans-Peter Dollhopf / 17.05.2020

Herr Bonhorst, Sie schreiben: “Im Rentenalter habe ich keinerlei Systemrelevanz.” Ach, wirklich? Wie herrlich Sie doch alt sind! Wollen wir nicht tauschen? Vorhin gerade zahlte ich am Bankautomaten an die Verbrecherbande von ARDy, ZeDeF und del’Radio, die mich seit Jahren immer und immer wieder brutal bedrohen und nötigen! Weil meine Lenkraketen-Bestellung aus China über eBay noch immer noch auf sich warten lässt, verfüge ich aber weiterhin nicht über die benötigte Feuerkraft, deren Hauptquartier zusammen mit ihnen selbst ein für alle Mal auszuknipsen. Jedenfalls wissen die aus meiner Verwendungszweck-Angabe auf meinem Lösegeldüberweisungsschein, dass ich es schade finde, dass sie immer noch nicht einfach tot sind. Ich selbst dagegen bin aber für die von systemischer Relevanz! Und muss darum leben. Weil ich denen ihre Schmarotzer-Existenz zahle! Ich, mit all den Millionen anderen, zu aber 87 % zu den gernedochGEZlen Gehörenden. Also: wäre ich tot, würden die eine Geldeinnahmequelle weniger haben. Aber: wären die tot, würde ich jeden Monat 17 EUR sparen! Also? Also darum kann irgendeine Übersterblichkeit in diesem GEZahle-Volk jedenfalls von diesen an der GEZ-Nadel Hängenden in keiner Weise gewünscht sein! Und darum werden deren angliederte Sendeanstalten auch immer schön brav den Teufel an die Wand malen, damit so viele wie nur möglich gesund und munter bleiben mögen mit Maske und Abstand und Lock Up den ... GEZ-Beitrag leisten können mögen. Egal, ob einer derweil durch die Maßnahmen existenziell ruiniert ist, denn wozu gibt es für “solche” ebenfalls den verlängerten Zwangs-Apparat “Vollstreckung”, aber voll, ey? Auspressen, Zaster her bis zum, ebbes, gehtgarnicht mehr.

Ferdi Genüge / 17.05.2020

Hefe-Hamsterkäufer zeigen sich solidarisch mit der systemrelevanten Bäckerzunft, denen sie seit Anfang März in Scharen noch mehr brothungriger Kunden zuführen. :-) Vielleicht gibt es ja auch so den einen oder anderen Brotteigprofessionellen, der da mithamstert. Aber das ist jetzt wirklich eine Verschwörungstheorie. ;-)

Lieselotte Schuckert / 17.05.2020

Hallo, Herr Bonhorst, wenn ich Ihnen als ebenfalls nicht systemrelevante Frau sagen darf, dass ich es geradezu hinreissend finde, dass Sie nicht systemrelevant sind, und wir hoffentlich die Aussicht haben, eines natürlichen Todes sterben zu dürfen, um nicht in die Übersterblichkeitsstatistik zu geraten, dann haben wir doch was gekonnt.  (hoffentlich können Sie uns bis bis in weiter Ferne noch mit einigen derartigen Geschichten erfreuen).

Gerhard Doering / 17.05.2020

Vorsicht Satire Übersterblichkeit,so erkläre ich es mir, ist wenn ein militärischer Konflikt Opfer fordert welche nicht eines natürlichen Todes verstarben.Das mag in Friedenszeiten kaum möglich sein und selbst eine Selektion durch Straßenverkehr schafft keine zuverlässige Übersterblichkeit.Und nun kommen die Seuchen ins Spiel.Da helfen uns nur die Chinesen aus der Patsche,welche in ihren Labors ein geeignetes Virus entwickelten,nenne wir es der Einfachheit halber “Übersterblichkeitsgen”.Dafür,sowie für die große Transformation, welche wir allein nicht schaffen, zahlen wir den Chinesen lumpige 300 Millionen Euro Entwicklungshilfe jährlich.Normale Sterblichkeit plus Versterben vorgeschädigter “Untoter"ergeben die Summe aus welcher sich die Zahl der Übersterblichkeit ergibt.Und nächstes Mal zum Thema “Untersterblichkeit”

Gertraude Wenz / 17.05.2020

Lieber Herr Bonhorst, köstlich, köstlich! Es gibt tatsächlich etwas Untersterbliches, geradezu Unsterbliches: die menschliche Dummheit!

Markus Reiss / 17.05.2020

Ein amüsanter Artikel. Danke für die Schmunzelfalten in meinem ebenfalls systemunrelevanten Gesicht in diesen dunklen Zeiten des wirtschaftlichen und seelischen Corona-Infarktes.

Andreas Rochow / 17.05.2020

Ein frischer Text eines frischen Unruheständlers, der keine Spur von Übersterblichkeit ahnen lässt. Danke, verehrter Rainer Bonhorst.

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