Die neuen Leiden der jungen Schneeflocken

Als ich aufs Gymnasium eingeschult wurde, kam ich in eine Streicherklasse. Das bedeutet, meine Klasse hatte zwei Stunden mehr Unterricht als normal, und in diesen zwei Stunden lernte jeder von uns ein Streichinstrument. Heute weiß ich – eine Anne-Sophie Mutter werde ich ganz sicher nicht. Allerdings waren die Jahre auch nicht umsonst, denn ich habe dort etwas ganz anderes gelernt. Da das Konzept mit dem Extra-Geigenunterricht nicht gerade viele Jungs angesprochen hat, kam bei uns ein wohl eher seltenes Geschlechterverhältnis zustande – mit drei Jungs und zwanzig Mädchen. In meiner Klasse gab also fünf Jahre lang ein Kollektiv von pubertierenden Teenagerinnen den Ton an – für mein damaliges Ich der reinste Horror. Aber nun weiß ich, welche Folgen es haben kann, wenn Frauen die Oberhand bekommen.

Mich wundert eigentlich keine politische Bewegung mehr, gewissermaßen hat meine Schulzeit mich perfekt auf Fridays for Future, #Metoo und all diese Trends vorbereitet, die meine Generation förmlich in sich aufgesogen hat, weil sie wie für sie gemacht sind. Die Generation Schneeflocke ist empfindlich, sie will sich nicht mit fremden Meinungen konfrontiert sehen, sie vereint sich im Anderssein. Denn das ist der Punkt: dieses Anderssein, aber trotzdem dazu gehören; eine gewisse Unsicherheit, gepaart mit der Angewohnheit sich zu wichtig zu nehmen; das Verlangen gesehen zu werden und gleichzeitig das Bedürfnis, sich anzupassen. Meiner Beobachtung nach bauen diese ganzen neuen Ansichten, dieses seltsame, widersprüchliche Verhalten, das große Teile der Gesellschaft und vor allem meine Generation heutzutage an den Tag legen, darauf auf.

Ein Ergebnis scheint diese inflationäre Annahme psychischer Krankheiten zu sein. Nicht ganz richtig im Kopf zu sein, scheint zuweilen als erster und entscheidender Schritt zum Anderssein willkommen. In meiner Klasse war es auch ein probates Mittel im ständigen Kampf um das meiste Mitleid. Dass man in der Pubertät unterschiedliche Phasen durchmacht, ist normal, aber viele haben das auf ein höheres Level getrieben. Ich weiß noch, wie wir im Biologieunterricht über Essstörungen wie Magersucht gesprochen haben und wie kurz darauf die Hälfte meiner Klasse vermeintlich magersüchtig war. Die eingebildet Kranken mussten ihr neues Leiden laut in die Welt hinaus verkünden und waren dabei so berechenbar.

Der Trend des Ritzens

Unser Lehrer zeigte uns Bilder von einem Patienten mit Magersucht und erklärte uns, dass es doch tatsächlich ungesund sei, wenn sich der Brustkorb und die Wirbelsäule so deutlich abzeichnen und dass diese Leute schnellstmöglich Hilfe brauchen. Prompt stand vor der nächsten Sportstunde eine Traube von Mädchen vor dem Spiegel, die sich allesamt lauthals darüber beschwerten, dass man bei ihnen ja gar keine Knochen sieht, sie also folglich übergewichtig seien und für den Rest des Tages absolut nichts mehr zu sich nehmen würden.

Unser Lehrer erklärte uns die Lebensmittelpyramide und warum eine ausgewogene Ernährung wichtig für den Körper sei, und schon planten meine Mitschülerinnen, welche Lebensmittel sie von nun an alle weglassen würden, um durch Nährstoffmangel den gewünschten Abnehmeffekt zu erreichen. Irgendwann war die Aufmerksamkeit, die sie für diese Aktionen bekamen, nicht mehr groß genug. Wenn jeder stündlich rausrennt, um sich zu übergeben, ist es irgendwann nichts Besonderes mehr.

Wie gerufen kam damals ein Fachtag zur Aufklärung und Früherkennung von Depressionen. Nun soll hier keineswegs geleugnet werden, wie wichtig es ist, Depressionen zu erkennen. Doch als Nebeneffekt servieren Veranstaltungen, in denen haargenau erklärt wird, welche Anzeichen solche Krankheiten haben, den kleinen geltungsbedürftigen Mädchen die Symptome wie auf dem Silbertablett. Alles, was die dann noch machen müssen, ist mitschreiben und nachspielen. Wobei das Mitschreiben auch nicht vonnöten ist, denn am Ende werden oft die dazu passenden Hochglanzbroschüren verteilt.

Wer glaubt, ein Haufen vermeintlich magersüchtiger Mädchen sei schon schlimm, der soll abwarten, was künstlich depressive Mädchen alles so auf Lager haben. Alles fing damit an, dass immer mehr von ihnen den halben Arm bandagiert hatten und passend dazu im Winter kurze Ärmel trugen, sodass natürlich jeder fragte, was passiert war. „Hab mich geschnitten“, war dann die Antwort, und so ging der Trend des Ritzens los. Später kamen die Verbände ab und unzählige Narben zum Vorschein. Immer noch mit kurzen oder hochgekrempelten Ärmeln trugen sie die stolz vor sich her, es sei denn, sie merkten, dass jemand sie anschaute – dann versteckten sie ihre Arme theatralisch hinter ihrem Rücken. Ich fühlte mich wie im Irrenhaus, und es gab keine andere Zeit, die mich für diesen ganzen Gefühlskram so abstumpfen ließ wie diese.

Anderssein durch Mitleid

Doch nicht nur Biologie ist ein gefährliches Fach bei uns gewesen. Eines der wichtigsten Schlüsselerlebnisse lieferte der Geographieunterricht. Davor hatten wir alle ein tristes Dasein gefristet und haben gegessen, was uns geschmeckt hat. Doch dann haben wir in Geographie einen Film zur Fleischindustrie geschaut, und meinen Schneeflöckchen ist aufgefallen, dass selbst die Gelatine in den Gummibärchen in Wahrheit nicht an Bäumen wächst, sondern ganz im Gegenteil von süßen kleinen Schweinchen stammt. Auf einen Schlag waren alle Vegetarier. Und wie das mit dem Vegetariersein nun mal so ist, reicht es nicht einfach nur aus, es zu sein, nein, man muss es auch leben. Zu dem Schock, wie niedlich das Schnitzel mal lebend war, kam – noch viel wichtiger – , dass damals noch kaum jemand Vegetarier war.

Für meine Mitschüler war diese Situation genial. Sie waren wieder etwas Besonderes und konnten sich mit ihrer neuen Erkenntnis von der Masse absetzen und sich als besser, aufgeklärter fühlen. Was ich allerdings als beruhigend empfinde, ist, dass von denen, die damals mit jedem einzelnen toten Ferkel gleich mit über die Klinge springen wollten, heute kaum eine mehr auf ihr Schnitzel verzichtet. Kein Fleisch zu essen, ist ganz normal geworden und so angepasst will man nun auch wieder nicht sein. Für das bisschen Aufmerksamkeit lohnt sich der Verzicht nicht mehr. Da wird man entweder gleich ganz vegan – denn das ist noch nicht so verbreitet – oder man vergisst die Ernährung und erklärt sich zum nonbinären pansexuellen Regenbogenwesen. Da es ja jetzt weit über sechzig Geschlechter gibt, bekommt man da nicht so schnell Konkurrenz.

Was kann man also von meinen lieben Mitschülerinnen lernen? Also zu erst einmal, dass sie für Aufmerksamkeit so ziemlich alles tun würden, egal zu welchem Preis. Frei nach Madonna folgen sie dem Leitspruch: „Auch schlechte Publicity ist Publicity“ und nehmen, was sie kriegen können. Diese Aufmerksamkeit erreichen sie durch das Anderssein. Meine Mitschülerinnen hatten es dabei augenscheinlich vor allem auf Mitleid abgesehen. Allerdings muss man den Gruppenzwang mit einberechnen, schließlich sind wir Menschen Herdentiere. Zudem wird die Schneeflöckchen-Generation von Mädchen bestimmt, und die gehen nicht nur ungern allein ins Badezimmer, sie werden auch nicht alleine magersüchtig, depressiv oder bisexuell. Irgendeinen Gleichgesinnten wollen sie immer um sich haben. Sie wollen nur nicht zu denen gehören, die als normal und langweilig gelten.

Jetzt stellt sich nur noch die Frage – warum passiert sowas ausgerechnet jetzt? Wir leben mit dem 21. Jahrhundert in einer Zeit, in der die technischen, medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritte – in der westlichen Welt zumindest – für Wohlstand gesorgt haben. Uns ging es noch nie so gut. Ich bin nicht eins von zwanzig Kindern, von denen nur drei überlebt haben. Ich wurde geimpft und bin dadurch ohne Angst und Probleme achtzehn Jahre alt geworden. Meine Großmutter wird nicht als Stammesälteste angebetet, obwohl sie keine Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen mehr anzünden kann – das sähe sonst auch aus wie das Feuer von Atlanta. Denn „alt“ (ich muss das aus Gründen ihrer Eitelkeit in Anführungsstriche setzen) werden heutzutage viele. Ich habe diesen Artikel nicht auf der Schreibmaschine geschrieben und musste somit nicht nach jedem Fehler von vorne anfangen.

Die Fähigkeit zu lesen, ist kein Privileg, sondern Normalität. Fast jeder von uns hat kleine Geräte in der Tasche, die uns Zugang zu grenzenlosem Wissen verschaffen können. Doch dieses Wissen nutzen wir nicht alle. Unsere Lebensqualität war noch nie so gut, doch jetzt züchtet man sich die Nährstoffmängel freiwillig heran und beschwört psychische Störungen herauf, die man sonst nicht mal seinen Feinden wünschen würde. Daran, wie verächtlich dieses Gehabe gegenüber denen ist, die an diesen Krankheiten tatsächlich leiden, verschwenden die Aufmerksamkeitssucher keinen Gedanken.

Doch woher kommt dieser Selbstzerstörungstrieb auf einmal? Warum trifft er ausgerechnet die Generation, die alles hat? Ich denke, dass uns die mangelnde Verantwortung und Herausforderung lebensunfähig gemacht hat. Wir müssen uns um nichts mehr kümmern, es werden keine Erwartungen an uns gestellt, und wenn wir keine echten Probleme haben oder diese nicht sehen wollen, dann schaffen wir uns halt welche.

Elisa David, geboren 2001, ist Abiturientin aus Lübeck.

Dieser Artikel ist im Rahmen des Projekts „Achgut U25: Heute schreibt hier die Jugend in Zusammenarbeit mit der Friedrich A. von Hayek Gesellschaft und dem Schülerblog „Apollo-News“ entstanden. 

Foto: Julio Fernández ataulfocamposantos GFDL via Wikimedia

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Leserpost

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Klaus Schmid Dr. / 28.09.2019

Oder so: Der / die Einzelne träumt nicht mehr von einer persönlichen besseren Zukunft weil jetzt schon alles vorhanden ist. Also geht der Traum aufs Ganze, nämlich wie die Anderen die ganze Welt besser machen müssen.

Wolfgang Nirada / 28.09.2019

Derjenige der eins dieser gestörten Suppenhühner einmal abkriegt und dummerweise auch noch so blind verliebt ist dass er es auch noch heiratet tut mir heute schon leid…

Jacky Lope / 28.09.2019

Ein guter Artikel, aber ich gebe zu bedenken: Es wird über jede Generation oft schlechtes berichtet, und am Ende geht es doch immer weiter in der Menschheitsgeschichte. Wenn ich allerdings die Generation der “Millennials” anschaue, dann fällt mir etwas auf, wofür die Generation gar nichts kann: Es ist das Aufwachsen in einer “alternativlosen” Welt. Sucht man “das andere”, so findet man es höchstens in der 3. Welt/im Islam. Vielleicht sind deshalb viele so unkritisch gegenüber dieser Religion? Es gibt - in der sogenannten “zivilisieren” Welt - keine Alternative mehr nach dem Ende des Kalten Krieges. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke - die war in den 80ern, so war ich mit mehreren unterschiedlichen (weltlichen) Herangehensweisen an die Welt konfrontiert: - unser westliches, kapitalistisches, demokratisches System, mit allen Vor- und Nachteilen. - der “Osten”, mit seinen diversen, sozialistischen Experimenten, den ich ich zm Glück auch ein paarmal bereisen konnte. - dann hatte ich Großeltern, die noch aus einer ganz anderen Zeit stammten. Die berichteten mir aus erster Hand von der Nazizeit und sogar noch von der Kaiserzeit. Ich las nicht nur Bücher ÜBER andere Zeiten/Systeme, sondern AUS anderen Zeiten/Systemen. Religion kam auch vor - im Katholizismus meiner Herkunft, aber auch im Sektenwesen, das damals florierte. Man nahm Religion meist als rückständig wahr oder als Ausdruck mentaler Probleme. Der Islam spielte hierzulande keine Rolle, man sah aber mit Gruseln die Bilder aus dem Iran. So saugte ich bereits die Möglichkeit verschiedener Welten auf - die aber alle eine diesseitige Idee verfolgten. Ich wägte Vor- und Nachteile ab, stellte Parallelen fest (wo man sie nicht vermutete), und dachte auch viel über Machbarkeit und die menschlichen Unzulänglichkeiten nach, die so manche gut klingende Idee in etwas Grauenvolles verwandeln. Das macht demütig. Und das fehlt mir heute etwas in der Diskussion.      

M. Simon / 28.09.2019

Mal wieder ein schöner Artikel direkt von der „Front“ - danke dafür, Frau David! An der Theorie „Denen geht’s einfach zu gut“ mag viel dran sein - ich stimme aber auch Frau Heinrich darin zu, dass es den Schneeflocken sehr schlecht geht, weil es ihnen an Nestwärme und Bindung gefehlt hat. Denn die Angehörigen der Generation ihrer Eltern wollten (oder konnten) zum großen Teil nicht mehr Mutter oder Vater, sondern Freund ihrer Kinder sein. Daher auch der übergroße Wunsch nach Bestätigung und Dazugehören,- ja sogar das Schreien nach Verboten macht auf diesem Hintergrund Sinn. Herzlichen Gruß und alles Gute, M. Simon

Faina Kornblum / 28.09.2019

Liebe Elisa, schöne Grüße aus der schönen Marzipanstadt Lübeck! Unsere „Elitegymnasien“ in Lübeck sind nicht zu übertreffen. Diese Gymnasien können sich nur damit brüsten, dass Familie Carlebach sie mal besucht, Erich Mühsam der Schule verwiesen wurde und auch Thomas Mann die Schule nicht beenden konnte. Dafür brauchen sie jetzt unendlich viele Sozialarbeiter, ausgedachte Beratungsstellen für die Dumpfbackenkinder der Akademiker, die im Leben nichts gelernt haben außer in den .... zu kriechen. Ich bin eine zweifache Mutter von Kindern mit Rückgrat, die es im Leben nicht einfach haben. Ich bin aber stolz, dass sie keine Mitläufer sind.

Bryan Hayes / 28.09.2019

Aggressive Waschlappen. Das ist die richtige Bezeichnung für die Linken, die Sie “Schneeflocken” nennen.

Rolf Menzen / 28.09.2019

Scheint sich um eine Autoimmunerkrankung von Wohlstandsgesellschaften zu handeln.

Alexander Rostert / 28.09.2019

Das Phänomen, dass sich die “attention whores”, so der englische Begriff dafür, mangels echter Probleme eben künstliche zulegen, gab es auch schon in meiner Jugend (ich bin Ü50), und auch damals schon bevorzugt bei den Mädels, die von Hause aus eben alles hatten - außer Problemen. Es bleibt der Trost, dass in einer übersättigten Luxusgesellschaft die Sehnsucht nach künstlichen Problemen schnell nachlässt, so bald echte Probleme auftauchen. Und das werden sie zuverlässig.

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