Die Angst vor dem „polnischen Virus“ (1)

Von Michael Kubina.

Vor genau 40 Jahren wurde über Polen das Kriegsrecht verhängt. Die Regierenden in den Nachbarstaaten hatten Angst, dass eine erfolgreiche Freiheitsbewegung auch auf die von ihnen Regierten ansteckend wirken könnte. Die SED-Führung drängte auf ein Eingreifen und ließ schon den Einmarsch planen.

Auf den Tag genau vor 40 Jahren verhängte der polnische General und Chef der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) Wojciech Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht. Panzer fuhren auf gegen Arbeiter, Intellektuelle und Priester, gegen das ganze Volk. Das Symbol der Bewegung, die Gewerkschaft Solidarność, wurde verboten und tausende von Aktivisten inhaftiert und in Lager gesteckt. Die mehr als einjährige faktische Doppelherrschaft von Solidarność und kommunistischer Partei war beendet. Jeder dritte erwachsene Pole war damals Mitglied der nun verbotenen Solidarność. Vorausgegangen waren der Ausrufung des Kriegsrechts 15 Monate permanenten Druckaufbaus gegenüber der kommunistischen Führung in Polen durch Moskau und die anderen Ostblockstaaten, vor allem aber durch die SED. Ost-Berlin richtete nicht nur, wie die Führung in Moskau, an die polnischen Kommunisten den dringenden Appell „hart und kompromisslos durchgreifen“, sondern drängte auch Moskau selbst zum militärischen Eingreifen – unter Beteiligung der ostdeutschen Armee.

Im August 1980 hatten die streikenden Arbeiter auf der Danziger Leninwerft  Partei und Staat an den Verhandlungstisch gezwungen. Mit einem riesigen Kugelschreiber mit dem Foto des polnischen Papstes Johannes Paul II. unterschrieb der Elektriker Lech Wałęsa das Abkommen zwischen den streikenden Arbeitern und der Regierung. Diese verpflichtete sich, eine von Partei und Staat „unabhängige, sich selbst verwaltende Gewerkschaft“ zuzulassen. Das Bild mit dem Kugelschreiber wurde zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts und des Kampfes um nationale Selbstbestimmung der Völker Ost- und Mitteleuropas. Heute stockt man fast beim Schreiben des Begriffspaares „nationale Selbstbestimmung“. Damals war es ein grundlegender und formal unstrittiger Bestandteil des Völkerrechts. Auf ihn beriefen sich nicht nur die oppositionellen Gruppen im Ostblock, sondern auch die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“.

Die Friedhofsruhe des polnischen Kriegsrechts hielt nicht lang. Keine acht Jahre später brach das sowjetische Imperium zusammen. Polen bekam eine Regierung unter Beteiligung der wieder zugelassenen Solidarność. Wenig später fiel die Mauer in Berlin. Die Wiedervereinigung Deutschlands schon ein Jahr später ist ohne Polen und Solidarność schwer erklärbar. Der Solidarność-Führer Lech Wałęsa wurde in freien Wahlen zum Präsidenten eines neuen und unabhängigen Polen gewählt.

„Mehr Härte wagen“

Nicht ganz 41 Jahre nach dem Danziger Abkommen verhängte der Europäische Gerichtshof auf Antrag der EU-Kommission ein Zwangsgeld von 1 Million Euro pro Tag gegen Polen, weil und solange Polen die umstrittenen Teile seiner Justizreform nicht zurücknimmt. Kurz zuvor hatte das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass Teile des EU-Rechts gegen die Verfassung Polens verstoßen und dass EU-Recht nur da Vorrang vor polnischem Recht habe, wo Polen die entsprechenden Kompetenzen in Verträgen und Abkommen explizit der EU zugestanden habe.  

Gabor Steingart traf mit seinem Morgenkommentar den Ton, den viele deutsche Medien und auch etliche Leserkommentare anschlugen: „Polen: Mehr Härte wagen“. Er spielte auf die geostrategische schwierige Lage und die wirtschaftliche Abhängigkeit Polens von der EU und Deutschland an, benannte in fünf Punkten, warum die „neue Bundesregierung nahezu risikofrei eine entschlossenere Haltung gegenüber Polen einnehmen kann“. Polen, so sein Fazit, solle „nicht unterdrückt, nur demokratisch erzogen werden.“ US-Pädagogen rieten, so Steingart weiter in väterlichem Ton, „im Umgang mit Problemkindern übrigens nicht zur Moderation, sondern zur Strenge.“

Geschichtsvergessenheit wäre wohl eine zu harmlose Erklärung für einen solchen Blick auf Deutschlands östlichen Nachbar, geht doch Steingart in seinem Kommentar gerade auf Spezifika der deutsch-polnischen Geschichte ein. Mit seiner „Empfehlung“ an die neue Bundesregierung spielt er zudem auf das Symbol der neuen deutschen Ostpolitik vor 50 Jahren an. Willy Brandt hatte damals die Wahlen mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ und der Forderung nach einer „neuen Ostpolitik“ gewonnen. Grundlage der Ostverträge vom Anfang der siebziger Jahre war die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik und die Strategie des „Wandels durch Annäherung“. Die „Ostgebiete“ waren jetzt auch formal „abgeschrieben“. Neuer deutscher Größenwahn und Zynismus beschreiben wohl besser, was jetzt fast ein halbes Jahrhundert später die Feder Steingarts führte und ihm diesen Ton und die Anspielung auf die Ostpolitik Brandts geraten erscheinen ließen.

„Mehr Härte wagen“ forderte 1980 auch die SED von Moskau und Polens Führung. Wir dürfen Steingart wohl zubilligen, dass ihm das nicht präsent war. Es gibt möglicherweise einfach eine gewisse geistige Nähe, die eben zu ähnlichen Formulierungen und Ratschlägen führt. Steingart verweist auf die tiefe Verwurzelung von „Nationalstolz und Katholizismus“ bei den Polen. Jedes Volk hat seine Wurzeln.

„Angst, dass es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt“

Ironie der Geschichte, war es auch damals ein polnisches Gerichtsurteil, das für Honecker & Co. das Fass zum Überlaufen brachte und ihn, wie Steingart heute, „mehr Härte“ gegenüber Polen fordern ließ.

Nicht einmal einen Monat nach der Unterzeichnung des Danziger Abkommens  legte die ZK-Abteilung Internationale Verbindungen bereits eine umfangreiche Analyse der Lage in Polen vor, die unter anderem auch eine „Vergleichende Einschätzung der Programme und Forderungsdokumente der antisozialistischen Kräfte in der VR Polen und in der ČSSR 1968“ enthielt. Für Honecker und das Politbüro war klar, dass die PVAP vor der Konterrevolution kapituliert hatte und eine militärische Intervention nach dem Muster von Prag 1968 in den Blick genommen werden musste. Er war fassungslos über die Entwicklung in Polen und irritiert von der Zurückhaltung Moskaus. Als am 11. November 1980 Polens Oberstes Gericht die Gewerkschaft „Solidarność“ zuließ, ohne dass die „führende Rolle der PVAP“ von der Gewerkschaft anerkannt werden musste, war für ihn jenes Maß an „Kapitulantentum“ in der PVAP erreicht, das ein Eingreifen von außen unabdingbar erscheinen ließ. Zwei Tage später meinte Staatssicherheitschef Erich Mielke in einem vertraulichen Gespräch mit dem Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph, Honecker seien “die Ereignisse in Polen in die Knochen gefahren. Er hat Angst, dass es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt“, habe Honecker doch „fest damit gerechnet […], dass die Sowjetunion in Polen einmarschiert."  

Am 26. November wandte sich Honecker schließlich mit einem Brandbrief, zu dem er sich schon Ende September vom Politbüro die Vollmacht hatte geben lassen, an Moskau. Er appellierte an Breschnew, "dass wir uns für einen Tag in Moskau treffen gleich nach der Tagung des ZK der PVAP, deren Beschlüsse, nach unserer Vorstellung, die Entwicklung der Ereignisse in Polen nicht mehr gründlich werden ändern können." Auf dem Treffen sollten "kollektive Hilfemaßnahmen für die polnischen Freunde bei der Überwindung der Krise" ausgearbeitet werden. „Kollektive Hilfemaßnahmen“ stand seit Prag 1968 für die militärische Intervention. „Gestern“, so Honecker in dem Brief, „wären unsere gemeinsamen Maßnahmen vielleicht vorzeitig gewesen, heute sind sie notwendig, aber morgen können sie schon verspätet sein.“ Breschnew stimmte zu. Für den 5. Dezember wurde eiligst ein geheimes Treffen der führenden Vertreter der Warschauer Vertragsstaaten einberufen, zwei Tage zuvor trafen sich bereits die Verteidigungsminister.

„Einsatz innerhalb von 48 Stunden“

In der Nacht vom 27. zum 28. November um 1.00 Uhr meldete der Militärattaché bei der DDR-Botschaft in Warschau, das PVAP-Politbüro habe beschlossen, „bei Verschlechterung der Lage den Ausnahmezustand zu verkünden“. Noch am selben Tag könne damit gerechnet werden. Generaloberst Fritz Streletz, Stellvertreter des DDR-Verteidigungsministers und Chef des Hauptstabes der NVA, reichte die Meldung umgehend an Verteidigungsminister Heinz Hoffmann weiter mit dem Vorschlag „im Interesse einer schnellen Reaktion auf die mögliche Verkündung des Ausnahmezustandes“ sofort zu einer verschärften Grenzsicherung überzugehen und „die stabsmäßige Formierung der zum Einsatz vorgesehenen 3 Bataillonsstäbe und 9 Grenzkompanien vorzubereiten mit dem Ziel, dass ihr Einsatz […] innerhalb von 36–48 Stunden“ nach Erteilung des Befehls durch Hoffmann erfolgen könne. Am Morgen trat das Politbüro zu einer Sondersitzung zusammen –  zum ersten und letzten Mal in seiner Geschichte im Sitz des DDR-Verteidigungsministeriums in Strausberg. Einziger Tagesordnungspunkt war die Lage in Polen. Das Politbüro bevollmächtigte Honecker, „in Abstimmung mit dem ZK der KPdSU notwendige Maßnahmen zu treffen.“ 

Hoffmann meldete am 30. November, wieder unter Berufung auf den DDR-Militärattaché, „dass führende Genossen der PVAP die Meinung vertreten, dass eine Konfrontation mit der Konterrevolution immer unvermeidbarer werde und sie dabei Hilfe von außen erwarten“. Honecker konnte sich bestätigt sehen. Der Gegenschlag schien unmittelbar bevorzustehen. Am 1. Dezember traf Generaloberst Stechbarth in Begleitung weiterer NVA-Offiziere mit einer Sondermaschine in Moskau ein. Noch am selben Tag wurden die Vertreter der NVA, der tschechoslowakischen und der polnischen Armee in die „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme […] auf dem Territorium der VR Polen“ eingewiesen. Die nationalen Kommandos hatten „die Bereitschaft bis 08.12.1980, 00.00 Uhr, zur Teilnahme an der Übung herzustellen, die Übungsunterlagen vorzubereiten und auf Signal mit den Handlungen zu beginnen.“ Zur Vorbereitung auf die Übung war unter anderem die „verstärkte politische Arbeit unter den Armeeangehörigen“  sowie die „Mobilmachung bzw. Einberufung von Politstellvertretern für die Panzerkompanien, medizinischem Personal, Kräften für die Feldbäckereikompanie und andere Sicherstellungseinheiten, juristischem Personal für die Militärstaatsanwaltschaft und das Militärgericht“ vorgesehen. Zudem sollten die SED-Chefs der Grenzbezirke, der Innenminister und der Chef der Volkspolizei in die Maßnahme eingewiesen werden. Am 2. Dezember ließ sich Honecker vom Politbüro bevollmächtigen, „die sich aus der Situation ergebenden erforderlichen Maßnahmen zu treffen“.  

„nach Erhalt des Signals ‚WINTERMARSCH’“

Doch in Moskau hatte es, von Honecker anscheinend zunächst unbemerkt, einen Meinungswechsel gegeben. Die Entscheidung gegen einen militärischen Einmarsch zu diesem Zeitpunkt war bereits am Vorabend gefallen. Über die ausschlaggebenden Gründe für diesen abrupten Meinungswechsel in der sowjetischen Führung gibt es bis heute keine eindeutigen Informationen. Neben der Bereitschaft des polnischen Parteichefs Stanislaw Kania, das Kriegsrecht im Lande zu verhängen, dürfte es die Einschätzung der internationalen Lage durch Moskau gewesen sein.

Zum Entsetzen Honeckers sollte es noch ein Jahr dauern, bis Jaruzelski schließlich das Kriegsrecht verhängte. In den kommenden Monaten drängte Honecker Moskau immer wieder zu einem härteren Vorgehen gegenüber Polen und darauf, dass „Marxisten-Leninisten“ die Führung der PVAP übernehmen. Er setzte insgeheim weiter auf Intervention, deren mögliche weltpolitische Folgen für ihn anscheinend von sekundärer Bedeutung waren. Polen „werde auf keinen Fall preisgegeben“, versicherte er im September bei einem Kurzbesuch in Kuba gegenüber Fidel Castro. Als dieser die Möglichkeit einer Blockade Kubas durch die USA im Falle einer Intervention in Polen ins Spiel brachte, tönte Honecker: „Dann werden wir die Blockade durchbrechen.“ 

Ein gewisser Größenwahn scheint ein partei- und systemübergreifendes Symptom deutscher Politik zu sein. Auch Honecker war damals fest davon überzeugt, dass wenn schon nicht die Welt, so doch Polen und das östliche Bündnis am deutschen Wesen genesen könnte. Bei einem Treffen mit Kania am 17. Februar 1981 bot er für nahezu alle Probleme in Polen Lösungen entsprechend dem DDR-Vorbild an: Die Arbeiter werden durch die Übergabe von „Interhotels“ an die Gewerkschaften befriedet, die Versorgungsprobleme  in der Landwirtschaft durch eine Kombination kollektivierter, großflächiger Landwirtschaft und blühendem Schrebergartenwesen gelöst etc. etc. Selbst aus den Gesprächsvermerken der SED gewinnt man den Eindruck, dass Honecker von Kania und anderen Ostblockführern nicht ganz ernst genommen wurde. Unter Bezug auf seine Erfahrungen mit dem 17. Juni 1953 und offensichtlich ebenfalls als Empfehlung an Kania gemeint sagte er: „Man habe eine Reihe von ihnen standrechtlich erschossen. Dies habe viele Menschen zum Nachdenken veranlasst.“

„Eine sozialistische Zukunft oder gar keine“

Moskau verschärfte zwar in den kommenden Monaten den Druck auf Polen, zog aber ein militärisches Eingreifen von außen kaum noch in Betracht. Es bot wirtschaftliche Unterstützung an und verwies gleichzeitig für den Fall, dass Polen das sozialistische Lager verlasse, auf die hohen und fälligen Schulden Polens bei der Sowjetunion. Nach dem, was wir heute wissen, spricht vieles dafür, dass Moskau eine militärische Intervention um fast jeden Preis vermeiden wollte und ein Einmarsch in Polen selbst bei einer Machtübernahme durch Solidarność nicht zwangsläufig gewesen wäre. Honecker polterte dagegen gegenüber dem Chef der KP der USA, Gus Hall: „Polen hat entweder eine sozialistische Zukunft oder gar keine.“ Honecker hatte dabei aber durchaus im Blick, dass dies noch mehr als für Polen für die DDR galt. Die wirtschaftliche Unterstützung Moskaus für Polen ging durchaus und massiv auch zu Lasten der DDR. Er sah die Existenz seines „sozialistischen Deutschland“ offenbar akut gefährdet und schlug Moskau, so könnte man sagen, eine „ever closer Union“ vor: „Wenn es notwendig ist, bilden wir doch eine Weltunion der sozialistischen Länder. Die DDR würde sich daran beteiligen.“ Mit anderen Worten: Honecker bot an, aus der DDR eine reguläre Sowjetrepublik zu machen.

Außerhalb der obersten politischen und militärischen Führungen der Staaten des Warschauer Paktes wusste jedoch damals niemand etwas von der Entscheidung Moskaus vom Anfang Dezember 1980, vorerst nicht einzumarschieren, und schon gar nicht, dass in der Moskauer Führung in den kommenden Monaten grundsätzlich die Überzeugung wuchs, dass das Problem Polen mit einer militärischen Intervention nicht zu lösen war. Die militärische Drohkulisse blieb trotzdem erhalten. Der Spiegel titelte damals gar „Aufmarsch gegen Polen“. Unter Berufung auf „amerikanische Militärkreise“ meldete die US-Fernsehgesellschaft ABC, 60 Generäle und 200 Offiziere der polnischen Armee hätten in einem Schreiben an das ZK der PVAP mit Widerstand gedroht, falls NVA-Truppen in Polen einmarschieren würden. In und um Polen wurde ein Militärmanöver nach dem anderen durchgeführt, und der Befehl 118/80 des DDR-Verteidigungsministers für die als „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme“ getarnte Intervention wurde nicht aufgehoben. Im Gegenteil, nach seiner Rückkehr aus Moskau erließ Honecker am 10. Dezember 1980 in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates mit „sofortiger Wirkung“ und „bis auf Widerruf“ Befehl Nr. 15/80, mit dem er die Einmarschvorbereitungen durch die Militärs absegnete und sich selbst den Einsatzbefehl vorbehielt. Alles war vorbereitet, um „nach Erhalt des Signals ‚WINTERMARSCH’“ innerhalb von drei Stunden in Polen einmarschieren zu können. In einem umfangreichen Dossier im Militärarchiv finden sich die entsprechend vorbereiteten Befehle. Nur Datum, Uhrzeit und Unterschrift fehlen noch. Erst im April 1982 kam aus Moskau die Weisung, „alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Lageentwicklung in der VR Polen in den Vereinten Streitkräften vorbereitet und durchgeführt wurden, aufzuheben“. Erst jetzt wurde auch der Befehl 118/80 über die „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme“ für die NVA außer Kraft gesetzt, mehr als drei Monate nach Ausrufung des Kriegsrechts durch Jaruzelski.

„Die Polen müssen mal merken, was Ordnung ist“ 

In der für den Einmarsch vorgesehenen 9. Panzerdivision war das Selbstverständnis ganz im Sinne der SED- und NVA-Führung. Man sah sich als Eliteeinheit, die von der Führung die Aufgabe übertragen bekommen hatte, im Ernstfall „in Polen den Sozialismus zu retten“.

Überlegenheitsgefühle gab es nicht nur gegenüber anderen NVA-Truppenteilen und -Einheiten, sondern auch gegenüber „den Polen“. Hans-Joachim Jentzsch, damals junger NVA-Offizier, inzwischen Offizier der Bundeswehr, erinnert sich an ein Gespräch mit einem Soldaten, der meinte: „Jetzt reicht’s, jetzt gehen wir da rein. Die Polen müssen mal merken, was Ordnung ist.“ Das sei in seinen Augen schon „heftig hart“ gewesen. Aber auch er sah sich als Elitesoldat, war bis 1989 überzeugt vom Sozialismus und seiner Aufgabe als Soldat. Zwar erinnert er sich an ein „mulmiges Gefühl“ angesichts der Gefahr eines Partisanenkriegs. In Polen gäbe es ja noch Leute, die wüssten wie das gehe. Ethische oder moralische Bedenken, etwa in Anbetracht der Tatsache, dass deutsche Truppen 1939 schon einmal unter einem Vorwand in Polen einmarschiert waren, plagten ihn aber kaum. Belastender waren da schon die andauernden Ausgangsbeschränkungen. Jentzsch sorgte sich um seine hochschwangere Frau, für die er nicht da sein konnte, aber nicht um Polen und dessen Freiheit. Auch Thomas Meier, Hubschrauberpilot, verspürte damals angesichts der Ungewissheit ein „gewisses Gefühl von Angst“, hatte er doch für seine Aufklärungsflüge seinen Kampfsatz an Munition ausgehändigt bekommen. Doch als junger Mensch habe er „cool“ bleiben wollen und sich gesagt, „das kriegen wir doch in den Griff hier“. Die Anspannung blieb erhalten, da die Befehle nicht aufgehoben wurden: „Wir konnten ja jederzeit losfahren Richtung Osten“. Jentzsch spricht noch drei Jahrzehnte später flapsig von „losfahren“, nicht etwa davon, dass ein Angriffskrieg begonnen worden wäre. Soldatensprache als Verdrängungshilfe – „Mehr Härte wagen“.

Trotz intensiver politisch-ideologischer Arbeit in der Armee und besonders im „Einsatzverband“ war die „Einsatzbereitschaft“ aber wohl nicht durchgehend vorhanden. Generaloberst Heinz Kessler, damals stellvertretender Verteidigungsminister und Chef der Politischen Hauptverwaltung, musste im November 1981 vor NVA-Führungskräften einräumen: „Bei einem geringen Teil unserer Soldaten und Unteroffiziere gibt es hinsichtlich der Bereitschaft, ein Bruderland gegen Konterrevolution militärisch zu unterstützen, noch Vorbehalte. Sie sehen in solchen Handlungen eine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder, die einen neuen Weltkrieg auslösen können. Deshalb, so meinen sie, solle die DDR nur mit friedlichen Mitteln Solidarität üben. Solche Auffassungen verdeutlichen, dass wir in der internationalistischen Erziehung die militärischen Konsequenzen des proletarischen Internationalismus noch wirksamer propagieren müssen.“ Ausgehend von einer „soziologischen Untersuchung“ unter Jagdfliegern wird geschätzt, dass es unter Offizieren bei etwa einem Viertel solche Vorbehalte gegeben hat, unter Unteroffizieren und Soldaten bei etwa einem Drittel. Expliziter Widerspruch gegen eine mögliche Intervention war allerdings die absolute Ausnahme, zumindest unter den Offizieren. Es sind ganze vier Fälle bekannt, in denen Offiziere sich gegen die SED-Politik gegenüber Polen und vor allem die Interventionsplanungen aussprachen. Ein Offizier des Aufklärungsbataillons der 9. Panzerdivision erklärte sogar, Befehle zur Erfüllung von Gefechtsaufgaben an der Grenze zu Polen zu verweigern. Alle vier wurden zum Soldaten degradiert und, sofern sie auch SED-Mitglied waren, aus der Partei ausgeschlossen.

Exemplarisch ist der Fall von Oberstleutnant Klaus Wiegand. Er war 1956 Soldat geworden und in die SED eingetreten. In der NVA machte Wiegand eine Bilderbuchkarriere. Zuletzt lehrte der Diplom-Historiker an der Militärpolitischen Hochschule in Grünau. Er schildert sich selbst als einen damals „der Sache des Sozialismus treu ergebene[n] Offizier“. Im Frühjahr 1981 erkannte er im Rahmen der Übung „Sojuz-81“, dass offenkundig Vorbereitungen für eine militärische Lösung der Krise in Polen getroffen wurden. Er war entsetzt, hätte eine Intervention aus seiner Sicht doch einen Dritten Weltkrieg auslösen können. Hinzu kam, dass er in der Solidarność-Bewegung nicht in erster Linie die Konterrevolution erblickte, sondern sie als legitime Demokratiebewegung verstand. Wiegand wollte an der Hochschule über seine Besorgnis reden, setzte, wie er sagt, „auf das kritische Denken anderer Offiziere, wollte ihnen vor Augen führen, wohin diese Eskalation steuern würde." Dass er sich dabei auf die „Klassiker des Marxismus/Leninismus“ berief, machte die Sache offenbar noch schlimmer. Ein Offizier rief „Verrat“, und kurz darauf wurde er aufgefordert, seine Waffe abzugeben und wurde vom Dienst suspendiert. Offiziere, mit denen er jahrelang freundschaftlich verkehrt hatte, grüßten ihn nicht mehr. Jene Offiziere, die seine Lehrveranstaltungen besucht hatten, wurden einer Überprüfung durch die Staatssicherheit unterzogen. Es folgten demütigende Prozeduren, sein Parteiausschluss und am 10. Juli 1981 die Degradierung zum Soldaten wegen „kapitulantenhafter Einstellung“ gegenüber der Entwicklung in Polen. Er verlor seine Lehrberechtigung und wurde aus der NVA ausgeschlossen. Erst nach mehrmonatiger Arbeitssuche fand er eine Anstellung im Zivilbereich, als Lagerarbeiter im VEB Getränkekombinat in Berlin-Weißensee. Wiegand blieb unter MfS-Beobachtung. 1990 wurde er rehabilitiert, gebracht hat es ihm nicht mehr viel. Dafür wurde er durch einen Staatsekretär aus dem Rainer Eppelmann unterstehenden Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, da er sein Verhalten dem seiner Offizierskameraden gegenübergestellt hatte, am 6. Juni 1990 folgendermaßen belehrt: „Eine pauschale Verurteilung derer, die sich und ihre Dienstpflichten in einem insgesamt untauglichen Gesellschaftssystem verwirklicht haben, muss ich […] zurückweisen.“ Pensionsansprüche, so teilte ihm später das Bundesverteidigungsministerium mit, habe er nur für die tatsächlich geleisteten NVA-Dienstjahre. Wäre er der SED treu geblieben bis zum Schluss, wie fast alle NVA-Offiziere, hätte er vielleicht wie Hans-Joachim Jentzsch seine Karriere noch in der Bundeswehr fortsetzen können und bezöge jetzt eine auskömmliche Pension. 

 

Dr. Michael Kubina, Jahrgang 1958, Studium der Theologie in Ost-Berlin sowie der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik an der Freien Universität in West-Berlin.

Foto: J. Żołnierkiewicz via Wikimedia Commons

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Willi Meier / 13.12.2021

Es wundert mich gar nicht, wenn deutsche “Medienschaffende” und Politiker bei “nationaler Selbstbestimmung” oder überhaupt schon bei “Nation” Schnappatmung bekommen; es kann schließlich nicht sein, dass es keine Freundschaft sondern nur Interessen zwischen Staaten gibt. Insofern habe ich großen Respekt vor Polen. Allerdings muss ich bei allem, was Polen betrifft, immer daran denken, wie brutal und Menschen verachtend “die Polen” die nach dem 2. WK zugesprochenen deutschen Gebiete “übernommen” haben und nicht nur meine Eltern enteignet und mittellos vertrieben wurden. Wurde nach sonst so auf der Welt nach vorgenommenen Land-Annektionen auch immer die ganze Bevölkerung mit Waffengewalt vertrieben?

Peter Zinga / 13.12.2021

Eine Bemerkung: Polnische Führung unternahm alles, um eine “Brüder-Invasion” zu verhindern. Sie habe sich an der Pragerfrühling gelernt.

Heiko Stadler / 13.12.2021

Ich hoffe, dass die quotengeführten deutschen Soldat*innen und *außen, die bisher nur im Kampf gegen Rechts erprobt sind, beim Kampf gegen Osten jegliche Orientierung verlieren und den Polen ein Schauspiel bieten werden, über das diese sich noch über mehrere Generationen hinweg köstlich amüsieren. Auf jeden Fall wünsche den Polen alles Gute und fomuliere es in den Worten J.F. Kennedys: Ich bin ein Pole.

Andrej Kharadi / 13.12.2021

Sehr gut geschrieben und auch im Rückblick spannend zu lesen. Respekt für den Autor! Auf Einsichten, die dieser Text nahelegt, nämlich wie man mit den Polen auch heute besser nicht umgehen sollte, kann man bei Olaf oder Anna-Lena wohl kaum hoffen.

Volker Kleinophorst / 13.12.2021

Natürlich haben die Angst vor der Straße, deswegen Versammlungsverbot… Und nicht wegen Corinna. Wenn Links demonstriert, gibt es keine Versammlungsverbote, wenn Links Morddrohungen im Netz verbreitet ist auch nicht: “Demokratie in Gefahr”.

Hans Kloss / 13.12.2021

Ich kann die Entscheidung von Jaruzelski von damals nicht beurteilen, weil ich nicht weiß was damals wirklich geschehen ist und was er wusste. Es gab Berichte wonach nicht nur Armee aber auch Miliz und Feuerwehr mit Waffen und scharfe Munition ausgestattet wurde. Wenn das so wäre, dann dachte er wohl dass sowjetische Intervention bevor stünde. Ob Sowjets tatsächlich es erwägt haben, ist eine andere Sache. Er hat auch nicht Dissidenten an der Seit der Solidarität verhaften lassen - in dem Haft konnte sich manche Solidarität Aktivist mit dem hartem Kern der Partei unterhalten - sie wurden auch interniert. Es ist schon interessant da vlt strafrechtlich irrelevant aber Jaruzelski hat vor dem Gericht erklärt dass er jede Verantwortung für das Geschehen für seine Leute als ihre damalige Befehlshaber übernimmt. Das kann man von den Herrscher Deutschlands nie erwarten. Weder damals noch heute sind sie bereit das zu tun, obwohl die heutigen haben gelernt und sprechen ständig darüber wie sie die Verantwortung übernehmen, nur dann passiert eben nichts. Da es zu Gerichtsverfahren gegen die heutige Führung des Landes kommt, ist auch zu bezweifeln. Selbst wenn man es machen wollte, musste man die Justiz erst neu ausrichten, sonst ist das Ergebnis schon vor dem Verfahren klar. Dass es passieren würde glaube ich nicht. Ich glaube nicht mal, dass jemand es probieren wird.

Heiko Stadler / 13.12.2021

@Dr. Ralph Buitoni: Die deutsche Bunteswehrlos ist zwar nach der dritten Verteidigungministernde ohne Mannschaftsdienstgrad weitgehend wehrunfähig, aber Gefahr droht von den Franzosen. Die sind erstens nicht ganz so bescheuert wie die Deutschen und zweitens eine Atommacht.

Dietmar Blum / 13.12.2021

@ Walter Weimar / 13.12.2021: Typen wie dieser Kupplich sind die Feigheit in Person, sie richten allenfalls die Dienstpistole gegen Andere, dies aber auch nur, wenn sie sich zu 150% sicher sind, von Oben gedeckt zu werden.

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