Von Michael Kubina.
Vor 40 Jahren wurde über Polen das Kriegsrecht verhängt. Während die SED-Führung längst eingeweiht war, wurde Bundeskanzler Helmut Schmidt davon in der DDR überrascht. Es gab manch merkwürdige deutsch-deutsche Reaktion.
Im Dezember 1981 kam das zweimal verschobene Treffen zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker dann doch noch zustande und zwar dort, wo Honecker es schon im Sommer 1980 haben wollte: nicht an der Ostsee, sondern am Werbellinsee.
Am 12. Dezember waren die offiziellen Gespräche abgeschlossen. Am nächsten Tag sollte auf Wunsch Schmidts nur noch ein Besuchsprogramm in Güstrow stattfinden. Der Besuch des Kanzlers in Güstrow wurde zu einem makabren Schauspiel mit dem Bundeskanzler in der Hauptrolle und hunderten von Polizisten und MfS-Mitarbeitern als Statisten. Die Stadt, in der Schmidt den Dom besuchen und von dort einen Abstecher zum Weihnachtsmarkt machen wollte, war vollkommen abgeriegelt. Unter der "normalen" Bevölkerung auf den Straßen fanden sich eigenartigerweise kaum Frauen oder Kinder – die richtigen Bewohner waren faktisch unter Hausarrest gestellt. Beim anschließenden Abschied auf dem Bahnhof bekam Schmidt ein Bonbon von Honecker zugesteckt. Wahrscheinlich sollte er auf der Rückfahrt den bitteren Beigeschmack des letzten Besuchstages verdrängen helfen.
Letztlich passte das Güstrower Schauspiel allerdings zu der Nachricht, die in der Nacht zuvor über die Nachrichtenticker gekommen war: Kriegszustand in Polen verhängt. Die Bilder aus Güstrow ähnelten in fataler Weise denen, die wenig später aus Polen zu sehen waren: Belagerungszustand, Friedhofsruhe. Sie waren sicherlich auch als deutliches Signal an die DDR-Bevölkerung gedacht: Untertanen seht, selbst der Bundeskanzler der imperialistischen BRD muss sich das von mir gefallen lassen.
„Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich“
Am Morgen des 13. Dezember fand die Abschlusspressekonferenz statt. Es blieb nur wenig Zeit, um Schmidt zu informieren und eine Sprachregelung zu finden. Ein Abbruch der Reise wurde nicht in Erwägung gezogen. Honecker gab dann während des gemeinsamen Frühstücks mit Schmidt eine erste Kostprobe davon, zu welch schauspielerischen Leistungen die DDR-Seite an diesem Tage noch auflaufen würde: Er gab sich „bestürzt". Die deutsch-deutsche Betroffenheit der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, überließ er seinem Gast.
Schmidt gab auf der Pressekonferenz die Ergebnisse des Gesprächs beim gemeinsamen Frühstück folgendermaßen wieder: "Wir [Schmidt und Honecker, M.K.] haben heute morgen gemeinsam die Nachrichten aus Polen studiert. Das ist nur ein weiteres Mosaiksteinchen in dem gestern von Ihnen [Honecker, M.K.] und auch von mir gezeichneten Bild der schwierigen politischen Lage, in der sich Europa befindet. Wir haben beide unsere Hoffnungen ausgedrückt über die Art und Weise, wie das in Polen hoffentlich zu einem guten Ende geführt werden kann. Aber es gibt mehrere Gefahren gleichzeitig. Es gibt nicht nur die Gefahr, dass sich aus Polen Entwicklungen ergeben, die uns beide stören und in Mitleidenschaft ziehen könnten. Umso wichtiger – so denke ich – ist für Europa, für unsere beiden Staaten und für unsere Bürger die Tatsache, dass sich die obersten politischen Repräsentanten der beiden deutschen Staaten hier in einer solchen Atmosphäre getroffen haben."
Schmidt ging noch weiter. Von Friedrich Novotny auf der Pressekonferenz danach gefragt, welche Auswirkungen die Ereignisse in Polen auf den Besuch haben würden, sagte Schmidt: "Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, dass dies nun notwendig war. Ich hoffe sehr, dass es der polnischen Nation gelingt, ihre Probleme zu lösen ... die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmöglichkeiten anderer Staaten zugunsten Polens sind ja gewiss nicht unbegrenzt."
Die Lenker der beiden deutschen Staaten erkannten also die Verhängung des Kriegszustandes, die Niederschlagung der von Arbeitern, Intellektuellen und katholischer Kirche getragenen polnischen Demokratiebewegung durch das kommunistische Militär für „notwendig". Der kommunistische Diktator war „genauso bestürzt" wie der Bundeskanzler des demokratischen und freien Deutschland. Im Kabinett sagte Schmidt später: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Honecker schon am Freitag etwas gewusst hat." Eine solche Naivität mag man dem ehemaligen Bundeskanzler Schmidt kaum zutrauen. Doch was sollte er in dieser Lage sagen?
„Zeitgewinn für den Militärrat Volkspolens“
Der Bundesnachrichtendienst (BND) stellte am 15. Dezember in einem Bericht die Behauptung auf, Honecker habe von der Ausrufung des Kriegszustandes durch Jaruzelski in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 gewusst. Schmidt sei von Honecker bewusst in eine Falle gelockt worden. Dies durfte anscheinend nicht wahr sein. Schmidt ließ den BND durch seinen Geheimdienstkoordinator zurechtweisen.
Fraglich ist vor diesem Hintergrund, ob Schmidt eine Warnung des BND im Voraus ernst genommen hätte. Später beklagte Klaus Bölling, der Nachfolger von Gaus als Ständiger Vertreter und enge Vertraute Schmidts, der BND habe damals versagt. Vorgewarnt, hätte Schmidt den Besuch noch einmal verlegen können. Noch in seinen 1987 erschienenen Erinnerungen zeigt Schmidt sich aber überzeugt, die Sache 1981 richtig eingeschätzt zu haben: „Honecker und ich sprachen beim Frühstück darüber, ehe ich zur Pressekonferenz mit westdeutschen Journalisten fuhr [...]. Honecker war offensichtlich betroffen über die Nachricht, die zu diesem Zeitpunkt noch kurz und unvollständig war. Wahrscheinlich war er jedoch auch erleichtert, dass von einem Eingreifen sowjetischer Truppen keine Rede war. [...] Im Falle einer sowjetischen Intervention wäre Honecker zumindest gezwungen gewesen, diese öffentlich zu begrüßen – wenn nicht mehr."
Wie realistisch war aber das Honecker-Bild der damals in Bonn Verantwortlichen? Schmidt gab den Polen betreffenden Teil der Gespräche mit Honecker korrekt wieder. Die Krise in Polen und die Haltung von Bundesregierung und SED-Führung dazu standen nicht auf der Agenda dieses deutsch-deutschen Gipfeltreffens. Polen war hier nur ein „Mosaiksteinchen", ein Störfaktor der deutsch-deutschen Sonderentspannung wie auch der Entspannungspolitik insgesamt. Über dem Treffen am Werbellinsee, lag, wie es der Schmidt-Vertraute Klaus Bölling so schön formulierte, „so etwas wie eine sehr deutsche Grundstimmung, die nichts mit dem Radeberger Pils und dem Nordhäuser Doppelkorn zu tun hatte". Der „Spiegel" berichtet damals, am Ende des Treffens sei „sogar etwas Herzlichkeit" aufgekommen, „gefördert auch durch grenzüberschreitende Trinkgewohnheiten." Bonns innerdeutscher Minister habe beim Anblick von Sekt und Wein bekannt, er möge keinen Sekt, hätte lieber ein Bier. Honecker habe darauf geantwortet, er ziehe mit. „Zum Radeberger Pils gab's Nordhäuser Doppelkorn." Angetan von der guten Atmosphäre habe Schmidt dann Honecker sogar als „verehrten Freund" angeredet.
Aber auch Honecker war sehr angetan von dem Treffen. In einer Einschätzung der SED wird die Bedeutung des Treffens für die Entwicklung in Polen hervorgehoben: „Das Treffen hat sich unmittelbar als direkte Hilfe für die VR Polen erwiesen. Die Tatsache, dass Substanz und Atmosphäre der Verhandlungen mit Genossen E. Honecker es Kanzler Schmidt nicht ratsam erscheinen ließen, den Besuch abzubrechen, hat für andere kapitalistische Mächte am entscheidenden 13. Dezember wie eine politische Initialzündung gewirkt. Diese Haltung von Schmidt hat dazu beigetragen, dass vorläufig keine einheitliche Front der USA, Westeuropas und Japans gegen die VR Polen, die UdSSR und die sozialistische Gemeinschaft zustande gekommen ist. [...] Das Treffen hat dem Militärrat Volkspolens einen nicht zu unterschätzenden Zeitgewinn ermöglicht."
„Höchste Zeit, in Polen Ordnung zu machen“
In seinem Bericht an das Politbüro über das Treffen mit Bundeskanzler Schmidt stellte Honecker am 15. Dezember 1981 zufrieden fest: „Die jüngste Entwicklung in der VR Polen wurde von Schmidt im Grunde gelassen aufgenommen. Er erläuterte dazu, es müsse einmal Ordnung geschaffen werden; das sollten die Polen allein tun. Er hoffe auf eine friedliche Regelung." Honecker ließ es sich auch nicht nehmen, umgehend Jaruzelski telefonisch zu informieren: Schmidt habe beim Treffen gesagt, „es wird höchste Zeit, dass man begonnen hat, in Polen Ordnung zu machen." Diese Mitteilung sei natürlich vertraulich, da Schmidt sich so in der Öffentlichkeit nicht äußern wolle.
Ex-Bundeskanzler Schmidt bestritt in den 90er Jahren vehement, sich in dieser Weise gegenüber Honecker geäußert zu haben und erklärte die ihm in den Mund gelegten Worte für „frei erfunden". In seinen Erinnerungen sei nachzulesen, wie seine Haltung damals war (Honecker genauso bestürzt, finanzielle Hilfsmöglichkeiten anderer Staaten zugunsten Polens nicht unbegrenzt, s.o.). Schmidt beklagt in seinen Erinnerungen, dass das von ihm verwendete Wort „notwendig" in Bezug auf die Verhängung des Kriegszustandes durch Jaruzelski damals zu einigen Angriffen der CDU/CSU-Opposition auf ihn geführt habe. Allerdings gesteht er eine „nicht ganz glückliche Wortwahl" seinerseits zu.
Gern wurde und wird in diesem Zusammenhang auf Max Webers Differenzierung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik verwiesen. Dem ist neben vielen damals schon Alfred Grosser entgegengetreten: „Es geht nicht um die übliche webersche Spannung zwischen Gesinnung und Verantwortung. Es geht darum, dass die Verantwortlichen der Bundesrepublik seit deren Geburt ständig nach außen und nach innen auf die Notwendigkeit und den Wert der Gesinnung hingewiesen haben. Von Polen nur 'realpolitisch' zu sprechen ziemt sich nirgends den Intellektuellen, wenn sie nicht überhaupt das Recht zum moralischen Protest verwirken wollen. In der Bundesrepublik ziemt es sich auch nicht den Verantwortungsbeladenen. Helmut Schmidt selbst spielt ja ständig auf die Vergangenheit an. Manchmal in einer etwas merkwürdigen Form. So z.B. wenn er von der Opposition in seiner Bundestagsrede [am 18.12.1981, M.K.] über die Begegnung mit Honecker durch den Zuruf 'Polen' unterbrochen wird und antwortet: 'Eine vorwegnehmende Dramatisierung der Ereignisse in Polen ausgerechnet durch uns Deutsche hätte tatsächlich weder den Polen noch den Deutschen genützt. Deutsche dürfen sich noch immer nicht zum Richter über Polen aufwerfen, noch immer nicht.'" Grosser führte fort, dass es wohl kaum darum gegangen sei, sich zum Richter aufzuwerfen, sondern darum, angesichts der Geschichte der deutsch-polnisch-russischen Beziehungen den unterdrückten Polen diesmal allen möglichen Beistand zu leisten, angefangen mit einer deutlichen Verurteilung der Unterdrückung der polnischen Freiheitsbestrebungen.
Welches Wort am Werbellinsee tatsächlich zur Beschreibung dessen, was in Polen „notwendig" sei, gefallen ist, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. Es war jedenfalls eines, das Honecker dazu veranlasste, auch noch einen Monat nach seinem entsprechenden Bericht vor dem Politbüro gegenüber Schmidt persönlich am Telefon von „Ordnung schaffen" als dem gemeinsam für notwendig Erachteten zu sprechen. Schmidt sah offenbar erst jetzt die Notwendigkeit, Honecker über möglicherweise unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufzuklären: „Was das Ordnungschaffen in Polen angeht, wie Sie es genannt haben, Ordnung muss man schaffen, indem man normale Verhältnisse herstellt und den Kriegszustand beendet. Und diese vielen tausend Gefangenen freilässt."
Honeckers Missverständnis Schmidtscher Ordnungsvorstellungen in Bezug auf das polnische Nachbarland war aber nicht ganz unbegründet. Im Rahmen der Aktion „Reaktion" plante das MfS 1981 mittels etlicher „Inoffizieller Mitarbeiter“, Informationen über mögliche Reaktionen in kirchlichen Kreisen und der Bundesregierung auf den Parteitag der polnischen Kommunisten (PVAP) zu beschaffen. Dem Parteitag wurde damals von der SED entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung in Polen beigemessen.
Deutsch-deutsche Beziehungen heraushalten
Der MfS-Auftrag für den IM "Sekretär", unter diesem Namen führte das MfS bekanntlich Manfred Stolpe, lautete: "Im Rahmen einer kirchlichen Dienstreise begibt sich der IM 'Sekretär' am 16.7.1981 nach Bonn. Er trifft mit dem Beauftragten der 'Evangelischen Kirche Deutschlands' bei der Bundesregierung, Prälat Binder, zusammen. Es wurde bekannt, dass von Seiten des Bundeskanzleramtes (Schmidt, Genscher) Interesse besteht, mit dem IM zu Gesprächen zusammenzutreffen. Der IM wird besonders Informationen zu Reaktionen auf den Parteitag der PVAP erarbeiten. Eine Auswertung der Reise des IM erfolgt am 17.7.1981."
Bereits am 18. Juli 1981 konnte das MfS dann eine als „streng geheim" deklarierte Information über die Gespräche von Schönherr und Stolpe mit Schmidt und Genscher vorlegen. Das Gespräch mit Schmidt soll im Wesentlichen ein Monolog Schmidts gewesen sein. Schmidt sprach auch über die möglichen Auswirkungen der Entwicklung in Polen auf die deutsch-deutschen Beziehungen. Sinn des Gespräches war es, über den kirchlichen Kanal der SED-Führung die Entschlossenheit der Bundesregierung zu signalisieren, die deutsch-deutschen Beziehungen soweit als möglich aus einer eventuellen Verschärfung der politischen Lage herauszuhalten. Schmidt sagte laut MfS-Information, er sei in Sorge darüber, was passiert, wenn in Polen "Ruhe und Ordnung doch nicht eingehalten werden können und ‚marschiert werden muß'". Wenn „alle Töpfe aus dem Schrank fallen", müsse die Frage der Vertragspolitik gestellt werden. Er, Schmidt, könne verstehen, „wenn sich die Sowjetunion engagiert, denn sie muß als Führungsmacht ihren Laden reinhalten. Aber wenn sich die DDR einmischt, wenn sich ‚Deutsche' einmischen, dann gebe es absolutes Unverständnis". Dasselbe Bild benutzte Schmidt 22 Jahre später vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: Er habe damals Honecker „gesagt, wenn die Sowjetunion zu dem Ergebnis kommt, sie müsse in ihrem Laden sich durchsetzen, da können Sie, Honecker nicht viel machen. Aber um Gottes Willen, beteiligen Sie nicht die Truppen der NVA an diesem Eingriff."
Man kann diese als Warnung an die SED verstehen, von einer NVA-Beteiligung an einer Intervention abzusehen – und so war es sicherlich gemeint, aber auch als Freibrief für Moskau.
Die divergierenden Ordnungsvorstellungen waren aber nicht das einzige Missverständnis. War es wirklich so, wie Klaus Bölling in seinen Erinnerungen schreibt, dass der „Saarländer" (Honecker) „die Gefahren eines radikalen Vorgehens gegen die Polen erkannte und deshalb die Heißsporne im eigenen Lager beschwichtigen half"?
Genau das Gegenteil war richtig, und nach allem, was wir heute wissen, lag der BND damals mit seiner Einschätzung richtig, Schmidt sei Honecker in eine Falle getappt. Honecker ließ Schmidt in dem Glauben, er würde ihn nicht in die DDR kommen lassen, wenn in Polen Dramatisches zu erwarten wäre. Im September 1981 ließ Honecker über Bahr Schmidt wissen, Schmidt hätte im August 1980 ohne Sorge in die DDR kommen können. „Er [Honecker, M.K.] hätte Helmut Schmidt nicht kommen lassen, wenn er nicht gewußt hätte, dass mit Polen nichts passiert." Als Schmidt die Reise antrat, ging er davon aus, dass in Polen „erst ab 17.12. mit ernsthaften Dingen" zu rechnen sei. So jedenfalls äußerte sich Bundeskanzler Schmidt am 9. Dezember gegenüber Honeckers Unterhändler Rechtsanwalt Wolfgang Vogel.
Maßnahmen, „wenn die Polen beten“
Honecker wusste aber bereits seit einigen Tagen, im Detail seit spätestens dem 10. Dezember, also noch bevor Schmidt in die DDR aufgebrochen war, dass in den nächsten Tagen in Polen der Kriegszustand ausgerufen werden würde. Sein Verteidigungsminister Hoffmann hatte ihn am 10. Dezember informiert, dass bis 15. Dezember mit einem Zuschlagen Jaruzelskis zu rechnen sei. Bereits im April hatte Sowjetmarschall Kulikow lakonisch befunden: „Da die Polen als fromme Katholiken am Sonnabend und Sonntag alle beten, würden sich die Wochenenden anbieten, um zu wirksamen Maßnahmen zu schreiten." Der 13. Dezember war ein Sonntag.
Noch in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 wurden die Streitkräfte und die Grenztruppen der DDR in erhöhte Führungsbereitschaft versetzt. Honecker wandte sich um vier Uhr morgens mit einem Telegramm an die Bezirkschefs der SED: „Wir bitten, Maßnahmen vorzubereiten, um entsprechend der sich entwickelnden Situation zu handeln. In jedem Fall ist bis auf Widerruf alles notwendige zu gewährleisten, um aufgrund der vorgesehenen Maßnahmen in Polen reagieren zu können. Nähere Mitteilungen werdet Ihr erhalten. In wieweit die Ereignisse in der Volksrepublik Polen auf den gegenwärtigen Besuch einwirken, wird Euch umgehend mitgeteilt. Bis jetzt gelten die bisherigen Festlegungen dazu."
Anschließend ging Honecker zum Frühstück mit seinem Gast Bundeskanzler Schmidt und zeigte sich „bestürzt". Eine im Militärarchiv gefundene Karte über „Truppenbewegungen am 13. und 14. Dezember 1981" enthält einen dicken Stoßkeil über die Oder-Neiße-Grenze auf polnisches Gebiet. Der „Ablauf der Handlungen nach Eintreffen des Signals" sah laut dieser Karte unter anderem die „Verlegung des Führungsorgans der Stäbe und Truppen auf das Territorium der VRP" und den Vorstoß der 9. Panzerdivision der NVA vor. Diesen Operationsplänen lag immer noch der Ministerbefehl 118/80 vom 6. Dezember 1980 für die sogenannte „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme" zugrunde. Unter diesem Codewort liefen immer noch die Vorbereitungen für eine Intervention sowjetischer, tschechoslowakischer und ostdeutscher Truppen zur „Unterstützung" der polnischen Armee.
Ohne dies hier näher ausführen zu können: Eine militärische Intervention nach dem Muster von Prag 1968 war 1981 (anders als im Dezember 1980), nach allem was wir heute dazu wissen, sehr unwahrscheinlich – auch wenn Jaruzelski das Kriegsrecht nicht verhängt hätte. Dies lag aber an der Lage- und Kräfteeinschätzung in der Moskauer Führung, nicht an Honecker. Honecker war vielmehr nachweislich im Ostblock derjenige, der am wenigsten vor den Folgen einer militärischen Intervention zurückschreckte. Er hielt sie im Prinzip für unausweichlich, weil er den polnischen Genossen nicht mehr traute. Davon, dass er, wie Bölling und die Bundesregierung glaubten, die „Heißsporne im eigenen Lager beschwichtigen half", konnte überhaupt keine Rede sein.
Fortsetzung folgt
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Dr. Michael Kubina, Jahrgang 1958, Studium der Theologie in Ost-Berlin sowie der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik an der Freien Universität in West-Berlin.