Das Mindset für den Superstaat

Von Boris Kotchoubey.

Was steckt da für ein Mindset hinter dem Wunsch nach einem europäischen Superstaat? In ihrem Buch „Endspiel Europa“ gehen Ulrike Guérot und Hauke Ritz von Imperien aus statt von Nationalstaaten, von Eliten statt von Völkern. Dies ist ein Versuch, den Versuch zu verstehen. Und ein Rat: Erst an Mäusen testen.

Ulrike Guérot und Hauke Ritz erklären gleich am Anfang des Buches „Endspiel Europa -Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“, dass ihr vorgelegtes Werk ein Essay ist, und dass dieses französische Wort „Versuch“ bedeutet. Als Experimentalwissenschaftler empfinde ich den Begriff „Versuch“ mit einer natürlichen Sympathie, da der einzige Weg zur Wahrheit meiner tiefen Überzeugung nach durch Versuche – aber auch durch Irrtümer – führt. Auch dieser Text ist keine Rezension im strengen klassischen Sinne, sondern ein Versuch, den anderen Text zu verstehen. Denn das Buch hat trotz seines essayistischen Stils eine strenge Logik und erlaubt damit einen Einblick in ein Mindset, das möglicherweise in der Masse der Politikinteressierten viel weiter verbreitet ist, als wir manchmal denken.

Ich fange mit einer Kleinigkeit an, die kaum erwähnenswert wäre, wäre auch sie nicht so typisch und weitverbreitet wie das Mindset im Allgemeinen. Mehrmals verweist das Buch auf eine Karte von Europa aus dem Jahr 1534, und nach der Seite 63 finden wir sie. Die Ländernamen sind lateinisch; wir sehen unseren Kontinent in der Form einer Dame, deren langes Kleid nach unten (nach Osten) „Russia“ bildet, und deren westlichen Kopf die Krone des damals wichtigsten europäischen Staates ziert: Spanien. Die Karte sollte die Bedeutung Russlands als einer Art Basis Europas zeigen („Der Kontinent steht auf dem russischen Boden“).

Betrachtet man die Karte aber länger, findet man etwas Merkwürdiges. Noch weiter nordöstlich von „Russia“ sehen wir noch ein Land namens „Moscovia“. Was machen die zwei? In der Tat gab es in jenem Jahr das Zarenreich Moscovia, das ungefähr dem gegenwärtigen Zentralrussland entsprach. Auf dem Thron in Moskau saß ein vierjähriger Knabe namens Iwan, der in diesem zarten Alter nicht wissen konnte, dass er unter dem Beinamen „der Schreckliche“ in die Geschichte eingehen würde. Aber schon 300 Kilometer westlich von Moskau begann ein anderes, riesiges Territorium, das von sogenannten Ruthenen oder Rusinen bevölkert wurde, die – genau wie die Moskowiten – Ostslawen orthodoxen Glaubens und Nachkommen der alten mittelalterlichen Rus (ca. 860–1240) waren. Obwohl sie von litauischen Fürsten oder polnischen Königen regiert wurden, war die Amtssprache ihres Landes eine ostslawische (Ruthenisch). Das Territorium erstreckt sich heute auf Weißrussland, den Großteil der Ukraine (außer der osmanischen Schwarzmeerküste) sowie einige Gebiete (Smolensk, Brjansk), die jetzt zur Russischen Föderation gehören. (1)

Projekt Europa vorerst gescheitert

Das zeigt, wie höllisch man heute im Umgang mit Begriffen in ihrer historischen Bedeutung aufpassen müsste, denn die Translatio Imperii ist alles andere als einfach. Wenn man nun liest, dass die Krim lange Zeit „russisch“ war, kann man sich fragen, ob „Russia“ oder „Moscovia“ gemeint wird, und die Antwort lautet: weder noch, die Halbinsel eignete sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein Staat an: das Russische Imperium, das erst 187 Jahre nach der besagten Europakarte, gegründet wurde. (2) Dieser Staat verschwand 1917, und Sowjetrussland (ab 1922 die Sowjetunion) war rechtlich gesehen nicht seine Nachfolgerin. Wir können kaum einen Anspruch Italiens auf Brandenburg daraus herleiten, dass die norddeutsche Markgrafschaft, und später das Kurfürstentum, jahrhundertelang römisch (das heißt ein Teil des Heiligen Römischen Reiches) war.

Aber nun zum zentralen Konzept. Die Autoren stellen in ihrem Buch fest, dass das Projekt Europa vorerst gescheitert ist und fragen nach den Ursachen. Ihre Antwort lautet, dass Europa zu keinem angemessenen, notwendig ausgewogenen Verhältnis zwischen den Interessen der zwei Großmächte (die USA und Russland) gefunden habe. Die einseitige atlantische Orientierung habe Europa daran gehindert, in Durchsetzung seiner eigenen Interessen zur dritten, gleichwertigen Großmacht zu werden.

Interessen der Imperien

Im Mittelpunkt dieser Hypothese steht der Begriff der „Interessen“. Nur Subjekte haben Interessen. Wer oder was ist also ein Subjekt?

Die Formel „Europa fand kein Gleichgewicht zwischen den USA und Russland und konnte daher keine gleichwertige Macht werden“ weist auf die folgende Antwort hin: Subjekte der Interessen sind supranationale Großmächte, wie die USA, Europa und Russland, die ich mangels eines anderen Begriffs als „Imperien" bezeichne. (Einen besseren Vorschlag akzeptiere ich gerne.) Nationalstaaten dagegen haben folglich kein Recht auf eigene Interessen, da „Europa die Überwindung des klassischen Nationalstaates sein sollte [...]“ (S. 21, Kursiv im Original).

Dementsprechend konnte ich keine Stelle im Buch finden, an der von Interessen eines europäischen Nationalstaates ernsthaft gesprochen wird. Heute von zum Beispiel slowakischen oder dänischen Nationalinteressen zu sprechen, wäre aus dieser Sicht so überholt, als benutze man die deutsche Sprache der vorlutherischen Zeit. So betrachtet, hat die kleine Schweiz (8 Millionen Einwohner, 41.000 Quadratkilometer Fläche), von allen Seiten durch NATO-Staaten umzingelt, darin keine Bedrohung ihrer Nationalinteressen zu sehen; dagegen sind die Interessen Russlands (140 Millionen Einwohner, 17 Millionen Quadratkilometer Fläche) offenbar durch die NATO-Mitgliedschaft Estlands (1,3 Millionen Einwohner, 45.000 Quadratmeter Fläche) ernsthaft betroffen.

Überhaupt wird der Begriff „Volk“ vermieden

Als „Europa“ tritt in diesem Zusammenhang das Duo Deutschland/Frankreich auf. Zusammen mit Russland bilden sie das Trio Paris-Berlin-Moskau, von dem das Schicksal des Kontinents „von Lissabon bis Wladiwostok“ abhängt. Kein anderer Staat außer dieser drei ist in Europa ernst zu nehmen: Die Osteuropäer sind das trojanische Pferd der USA (S. 76), die Briten waren „immer schon ein amerikanisches Einfallstor in die EU“ (S. 112). Für Skandinavier fand ich im Buch zwar keine Charakteristik, aber da ich die Schweden gut kenne und mir keinen vorstellen kann, der auf die schwedische Nationalhymne und die blaugelbe Fahne zugunsten der 9. Beethovensinfonie und des Sternenkreises verzichten würde, befürchte ich, dass auch unsere nordischen Nachbarn noch lange umerzogen werden müssten, bevor sie den Titel der „wahren Europäer“ verdienen.

Laut diesem Modell scheitert Europa jedes Mal, wenn sich zwei von diesen drei Großen zusammenschließen, ohne dabei die Interessen des Dritten zu berücksichtigen oder sogar gegen dessen Interessen handeln; Beispiele sind die Französisch-Russische Allianz von 1892 (gegen Deutschland), der Rapallo-Vertrag von 1922 und der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 (gegen Frankreich), sowie die gemeinsame antirussische Position westeuropäischer Staaten jetzt. Erst wenn die drei am gleichen Strang ziehen, ist Europa in Ordnung. Die Meinung aller anderen europäischen Staaten dazu scheint belanglos, da sie sowieso die Überbleibsel der vorigen zwei Jahrhunderte sind, zum Aussterben verurteilt wie Dinosaurier am Ende der Kreidezeit.

Die Mächtigen, nicht die Massen

Die Dominanz von Deutschland und Frankreich als „Motor Europas“ dürfte aber nicht als eine privilegierte Position des deutschen und des französischen Volkes missverstanden werden. Überhaupt wird der Begriff „Volk“ vermieden. Wenn schon die Nationalstaaten keine Rolle mehr in der europäischen Geschichte spielen (sollen), so gilt das genauso für die Rolle der Völker und betrifft die Völker der zwei europabildenden Staaten in gleichem Maße wie zum Beispiel Isländer oder Bulgaren. Die Bedeutung Frankreichs wird nicht dadurch gemindert, dass es gerade das französische Volk war, das mit einem „Non“ auf den Vorschlag einer europäischen Verfassung geantwortet hat.

Was unser Volk betrifft, so bekam es seine Einheit als persönliches Geschenk Gorbatschows (S. 24). Die Wiedervereinigung war also weder eine Errungenschaft der deutschen Freiheitsbewegungen auf den beiden Seiten der innerdeutschen Grenze noch ein Ergebnis der Wechselwirkung mehrerer politischer und wirtschaftlicher Kräfte des Moments, sondern eine generöse Tat eines großmutigen Mächtigen. Nicht die Massen, sondern die Führungseliten der Imperien machen die Geschichte.

Wie sich bei Rousseau das Gemeinwohl einer ganzen Gesellschaft vom Wohl einzelner Individuen prinzipiell unterscheidet, unterscheiden sich in diesem Mindset die geostrategischen Interessen der „global players“ (USA, Russland, Deutschland, Frankreich) von den belanglosen „Interessen“ einzelner Bürger derselben Länder. Politisch gesehen, wäre die Frage, was die Interessen eines Russen sind, sinnlos: Ob zum Beispiel die Stationierung von 1.000 NATO-Soldaten 3.000 Kilometer von seinem Haus entfernt ihm größere Sorgen bereitet als die Willkür der Polizisten an seinem Wohnort; ob einen in der Mitte Russlands lebenden Tataren die Fläche der Russischen Föderation (17 Millionen Quadratkilometer) zufriedenstellt oder er noch weitere 100.000 Quadratkilometer von der Ostukraine zusätzlich benötigt.

Auch einen Deutschen könnte man fragen, ob ihn die führende Rolle, die der deutsche Bundeskanzler in der EU und in der UNO spielt, glücklicher macht als eine Steuersenkung. Doch diese Fragen sind politisch naiv: Ein Schachmeister fragt nicht, ob zum Beispiel ein Bauer sich von e2 auf e3 oder gleich auf e4 bewegen will. Bei geopolitischen Interessen können allein die Führungen der Imperien und die diese Führungen beratenden Experten das Wort und die Entscheidungsgewalt haben.

„Die Autoren sprechen zwar auch die Demokratiedefizite in der EU an; aber diese Defizite scheinen in ihrer Darstellung technischer Natur zu sein, nicht im Projekt selbst zu liegen.“

Im Voraus kalkuliert, provoziert, inszeniert

Die Analogie zwischen Schach und geostrategischen Spielen ist nicht neu. Denn man könnte für das Scheitern Europas eine andere Erklärung anbieten: Nämlich dass das Projekt des „ever closer“-Europe, des Zusammenschweißens zum einen großeuropäischen Staat, von Millionen Europäern abgelehnt wird. Aber diese Erklärung käme der Hypothese gleich, dass ein Schachmeister deshalb in einer Partie scheiterte, weil seine Springer und Türme seine Pläne nicht akzeptiert und sich diesen Plänen widersetzt hätten. Für jeden, ob Meister oder Laie, ist aber offensichtlich, dass er deshalb verloren hat, weil er in dieser Partie schlechter als sein Gegner gespielt hat.

Die Autoren folgen dieser einfachen Logik und diskutieren zahlreiche Fehler europäischer Eliten in den vergangenen 20 Jahren. Sie sprechen zwar auch die Demokratiedefizite in der EU an; aber diese Defizite scheinen in ihrer Darstellung technischer Natur zu sein. Die Fehler liegen nicht im Projekt selbst (mit seinen Zielen: „ever closer Europe“ und „dem gemeinsamen Raum von Lissabon bis Wladiwostok“), sondern in der Unfähigkeit, das Projekt zu vermitteln, es „an Menschen zu bringen“.

Eine Bevölkerung zur Verwirklichung politischer Pläne zu bewegen, ist natürlich etwas komplizierter als ein Holzstück auf dem Schachbrett, aber dieser Unterschied ist nur quantitativ. Der transatlantische Spieler war geschickt genug, die Massen von Menschen zu seinem geostrategischen Vorteil zu steuern, während die Europäer leider „nach dem Zweiten Weltkrieg [...] verlernt [haben], global zu denken“ (S. 48, dabei zitieren die Autoren Peter Sloterdijk).

Konsequenterweise kann es in dieser Welt keine politische Revolution geben. Revolutionen setzen eine spontane Aktivität der Bevölkerungsmassen als (relativ) autonome Kräfte voraus, was innerhalb des hier betrachteten Mindsets unvorstellbar ist. Was uns als Revolutionen oder nationale Befreiungsbewegungen erscheint, sind bloß Illusionen, genau berechnete Performanzen imperialer Regisseure. Nicht nur die Handlungen der vermeintlich „revolutionären“ Massen, sondern auch die Gewalt der Polizei und Geheimdienste gegen die Massen werden in diesem Theater im Voraus kalkuliert, provoziert, inszeniert (S. 86f.).

Keine Nationen, also auch keine Ukraine

Die Grundthese, dass die Nationalstaaten ein unnötiger Rest der vorigen Jahrhunderte sind, bestimmt die Position der Autoren bis zur letzten Konsequenz. Was beim oberflächlichen Blick als „antiukrainische“ Position erscheinen mag, ist nur eine logische Folge dieses Transnationalismus, denn die Ukraine kämpft für ihre nationale Unabhängigkeit, was im Europa des 21. Jahrhunderts als reaktionär gilt. Wenn die Autoren behaupten, die Ukraine sei eine künstliche Nation, geben sie gleich zu, dass dies für jede Nation stimme. Die Unterschiede zwischen West- und Ostukraine sind zwar groß, aber nicht größer als zwischen Nord- und Süditalien – anderthalb Jahrhunderte nach der Vereinigung.

Die These über die Ukraine als eine neue, erst im 21. Jahrhundert künstlich aufgebaute Nation widerspricht unter anderem der Aussage des damaligen Oberhaupts der Ukrainischen Kommunistischen Partei, Stanislaw Kosior, von 1928, dass der ukrainische Nationalismus im Moment „die größte Gefahr“ für den Aufbau des Sozialismus darstelle. Wenn es vor fast 100 Jahren bereits einen so starken Nationalismus gab, dass er sogar den Sozialismus infrage stellen konnte, dann gab es auch offensichtlich die entsprechende Nation.

Eine selbstverständliche Folge dieser Sichtweise ist auch die Nicht-Beachtung der staatlichen Grenzen. Dabei sind die Autoren ohne jeden Zweifel überzeugte Gegner von Krieg und Gewalt. Aber eine gewaltlose Verletzung von Staatsgrenzen, die ganze oder teilweise Besetzung eines Staates, so wie dies zum Beispiel 1938 mit Österreich und der Tschechoslowakei der Fall war, würden sie wahrscheinlich befürworten. Wenn die Staaten zur Vergangenheit gehören, welchen Sinn können dann die zwischenstaatlichen Grenzen haben?

Weltreiche

Als Nicht-Politikwissenschaftler bin ich nicht befähigt, die im Buch vorgestellte transnationale Sichtweise in einen theoretischen Rahmen genau einzuordnen. Ich sehe aber deutliche Gemeinsamkeiten mit einigen transnationalen Konzepten, an denen das russische Denken reich war, angefangen mit einem noch vorwissenschaftlichen, dennoch wirksamen Konzept der „drei Weltreiche“ (um 1510). (3) In der Neuzeit hat insbesondere Konstantin Leontjew (1831–1891) den Gedanken entwickelt, dass ein politisches Gebilde vor allem harmonisch und ausgewogen sein müsse („ästhetische Staatstheorie“) und dass im Namen dieser Harmonie egoistische Interessen aller Art – individuale wie nationale – zurücktreten sollten. (4)

Als roter Faden geht sowohl durch die „Drei-Weltreiche“-Mythologie als auch durch die Analysen Leontjews der Vergleich zwischen Russland und Byzanz. Leontjew sah im tausendjährigen Oströmischen Reich den Etalon der politischen Schönheit und stellte es den modernen „linken“ europäischen Nationalstaaten gegenüber. Leontjew hat wesentlich Iwan Iljin (1883–1954) beeinflusst, einen der Gründer des „eurasischen“ Konzepts, nach welchem der gesamte Raum „von Lissabon bis Wladiwostok“ zu einem Kulturgebiet gehört und schließlich zu einem eurasischen Weltreich werden sollte, selbstverständlich von Moskau regiert. (5)

Obwohl die Autoren ihre betonte Sympathie für Russland vor allem mit aktuellen politischen und wirtschaftlichen Sachverhalten begründen, darf ich vermuten, dass diese Zuneigung darüber hinaus tiefere theoretische Gründe hat: Nicht nur bedarf Russland im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten keiner „Überwindung des Nationalstaates“, weil es ihn dort nie gab, sondern es hat seine Gegnerschaft zum westlichen Nationalstaat auch explizit in Diskurs gestellt.

Doch das Leben eines Schachmeisters besteht nicht aus einem einzigen Spiel. Wenn dieses verloren ist, können die begangenen Fehler analysiert und in der Zukunft überwunden werden. So endet das Buch mit der Beschreibung des Zustands, von dem „wir“ (die Europäer im o.g. Sinne) trotz gegenwärtiger Rückschläge träumen können: von der Auflösung der NATO und einem föderalen europäischen Staat, in dem statt des gegenwärtigen Vetorechts der obsoleten Staaten das Prinzip „eine Person – eine Stimme“ (das dem föderalen Prinzip widerspricht) herrscht. Dieser europäische Staat bildet darüber hinaus eine Konföderation mit Russland, wahrscheinlich mit gemeinsamen Streitkräften.

Konföderation mit einer uneingeschränkten Autokratie

Dazu gab es einen Witz in der Sowjetzeit, an den ich im letzten Jahr im Zusammenhang mit der Covid-Impfkampagne immer wieder dachte und der bei mir auch nach dem Lesen von „Endspiel Europa“ wach wurde.

Ein Parteireferent kommt in ein abgelegenes Dorf, um Kolchosbauern über die Vorteile des Sozialismus aufzuklären. Nach dem Referat werden Fragen erlaubt. Ein ungebildeter Bauer fragt, ob Lenin ein Wissenschaftler oder ein Kommunist war.

Der Referent findet diese Frage dumm, muss aber antworten. „Natürlich war Lenin ein Kommunist“, reagiert er.

„Das dachte ich mir“, setzt der Bauer fort, „denn wäre er ein Wissenschaftler, hätte er den Sozialismus zuerst an Mäusen ausprobiert.“

Da schließt sich der Kreis, und wir sind wieder beim Thema Experiment (Versuch), mit dem wir angefangen haben. Versuche in Textform (Essays) befeuern Diskussionen und wir nähern uns dadurch der Wahrheit; doch bevor die Vision eines einheitlichen europäischen Staates in Konföderation mit einer uneingeschränkten Autokratie im Leben von 450 Millionen Menschen implementiert wird, würde ich ausdrücklich raten, sie an Mäusen zu testen.

„Endspiel Europa: Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können“ von Ulrike Guérot und Hauke Ritz, 2022, Westend Verlag: Frankfurt am Main. Hier bestellbar.

 

Boris Kotchoubey arbeitet als Professor für Psychologie an der Universität Tübingen. Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.

 

Quellen:

(1) Es gab im Jahre 1534 übrigens noch ein drittes russisches Land: Die bürgerliche Republik Nowgorod, zu der der ganze Norden bis zum Ural-Gebirge gehörte. Nowgorod unterhielt Beziehungen zur Hansestadt Lübeck und war eine 400 Jahre alte direkte Demokratie in der antiken Bedeutung dieses Wortes: Gleiches Wahlrecht für alle erwachsenen Stadtbürger männlichen Geschlechts. 36 Jahre später wird die Stadt vom Zaren von Moskau dem Boden gleich gemacht, ihre Bevölkerung massakriert; seitdem kennt Russland keine Demokratie mehr.

(2) Peter I. betonte die Neugründung des Imperiums und die Unterbrechung der Verbindung mit Moscovia durch den Bau auf einem leeren Platz einer neuen, extra für den neuen Staat gebauten Hauptstadt Sankt Petersburg.

(3) Illya Kozyrev: „Moskau – das dritte Rom. Eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und die russische Politik“, Cuvillier 2011. Das Konzept wurde vom Mönch Philotheus unter dem Eindruck des endgültigen Niedergangs des tausendjährigen Oströmischen Reiches (1453) entwickelt: „Die ganze Welt“ (im damaligen Sinne natürlich) wurde erst von Rom beherrscht, nach dessen Untergang im 5. Jahrhundert von Konstantinopel (als dem „zweiten Rom“), und schließlich geht das Erbe an Moskau („das dritte Rom“) über. Damit endet die Weltgeschichte, und ein viertes Rom wird es nicht geben.

(4) Vgl. Viktor I. Kosik: „Konstantin N. Leontjew. Ein russischer Denker zwischen Orient und Okzident”, Bernd E. Scholz 2022.

(5) Vgl. Iwan Iljin: „Die ewigen Grundlagen des Lebens“, Edition Hagia Sophia 2022 und ders.: „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“, Edition Hagia Sophia, 2018.

Foto: Heinrich-Böll-Stiftung CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons

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Hans-Joachim Gille / 26.12.2022

Frau Guérot lebt schon Zeit ihres Lebens in Steuer-Schmarotzer-Jobs. Das kosmopolitische Leben der selbsternannten Brüsseler Aristokratie ist ihr Zuhause. Vor allem ist Guérot nur eine Pseudo-Intellektuelle. Sie weiß nicht, warum der intellektuelle Gallo-Römer die Boches haßt & der Teutone dem Gallo-Römer alle hundert Jahre eine auf’s Maul geben muß. Der gesamte verhaßte französische Adel ist, bis auf ein paar Normannen, deutsch oder besser fränkisch. Man wurde bis Napoleon III von Deutschen beherrscht. Und diese elenden Wichte haben dem schönen Ex-Gallien auch noch einen deutschen Namen verpaßt, “La France-Die Fränkische”. Man kann mit solch einem Widerspruch kein Europa aufmachen. Das haben wir schon 3x probiert. Und die historischen Protagonisten hatten sicherlich mehr Hirn in der Birne als Frau Guérot.

H. Demanowski / 26.12.2022

Hatte sich der Autor nicht eingangs besonders über Logik gefreut? Alsdann weist er akribisch nach, dass die Krim gar nicht zu Russland gehören kann, kommt aber nicht auf den logischen Gedanken, diesen Nachweis mit der “Ukraine” zu versuchen, die es erst seit etwa 1917, als eigenständigen Staat sogar erst seit 1991 gibt und die die Krim in den 1950er Jahren von einem kommunistischen Generalsekretär “geschenkt” bekam, samt den Einwohnern übrigens, die gar nicht erst gefragt wurden. Was will man uns also sagen? Dass die Krim ein freischwebendes Etwas ist, das nirgendwo hingehört, aber wenn überhaupt, dann aus irgend welchen Gründen unbedingt zur Ukraine, egal (und ganz anders als im Kosovo) was die dort lebenden Menschen wollen? Oder will der Verfasser einfach nur dem merkwürdigen Zeitgeist huldigen und “Haltung” zeigen? Ich fürchte Letzteres. Den Artikel habe ich angesichts solcher Schnitzer schon in der Einleitung dann nicht mehr zuende gelesen.

Bernd Franz Scheubert / 26.12.2022

Bei “Mindest” habe ich aufgehoert, zu lesen. Danke fuer das/den Mindset.

Rolf Menzen / 26.12.2022

Da der einzelne Bürger in diesen Konzepten keine Rolle zu spielen scheint, sind sie samt und sonders undemokratisch und abzulehnen. Punkt.

Rainer Schweitzer / 26.12.2022

Der beschriebene “Transnationalismus” ist die vollkommen ahistorische Idee eines durch und durch autoritären Geistes. Wir haben in Europa gute 1.000 Jahre “Nationbuilding” hinter uns. Dieser Prozeß war keine autoritäre Kreation von Eliten sondern ist im Bewußtsein der Völker entstanden, unabhängig von den jeweiligen Staatsgebilden. So haben sich z.B. Bayern, Sachsen, Preußen, Kurpfälzer sich bezüglich ihrer “Nationalität” als “Deutsche” empfunden, mit gemeinsamer Hochsprache, Kultur, Geschichte. Ebenso war es in Italien, Frankreich und den anderen europäischen Nationen. Die Ausbildung von Nationalstaaten war dann der letzte Schritt. Wer glaubt, 1.000 Jahre Geschichte mit einem autoritären Herrschaftsakt beiseite wischen zu können, ist - sehr wohlwollend formuliert - eine Utopist. Auf demokratischem Wege wäre nicht im Traum daran zu denken. Der “gemeinsame Raum von Lissabon bis Wladiwostok” ist eine vollkommen irre Idee. Denn dieser “Raum” ist weder ethnisch noch kulturell, sprachlich, historisch auch nur ansatzweise homogen. Er wäre ein rein geographisches Kunstgebilde ohne jeden, über den bloßen Handel hinaus gehenden, inneren, d.h. kulturellen Zusammenhalt. Ein solches Imperium wäre völlig überdehnt, es käme einem Wunder gleich, es über längere Zeit zusammen halten zu können. Wie solche Kunstgebilde funktionieren, kann man an den postkolonialen Staaten Afrikas, Asiens oder an der Sowjetunion betrachten. So etwas läßt sich nur mit blanker Gewalt zusammen halten.

Rudi Knoth / 26.12.2022

Danke für den interessanten Text. Die Metapher des Schachspiels hat eim Gegensatz zum Spie “Risiko” den Nachteil, daß es nur zwei Spieler gibt. Daher muß man die Situation auf zwei Spieler reduzieren, was aber zu Problemen mit der Realität gibt. Zum Beispiel sollen immer schon ein amerikanisches Einfallstor in die EU” sein. Nur war Großbritannien erst spät in der EU und heute ist es dies offensichtlich nicht mehr. Und vor 200 Jahren führten die USA noch Krieg mit den Briten. Man sieht, daß dieses Modell die Realität nicht gut beschreibt.

N. Walter / 26.12.2022

Wer Harari liest wird fündig: Der Mensch strebte in seiner Geschichte immer die nächst höhere Organisationform an. Weil diese machtvoller, einflussreicher, effizienter und effektiver ist als die bisherige. Sie ist es nicht per se und um jeden Preis, aber meistens ist sie es. Und sie wurde immer gewählt und anschliessend akzeptiert, wenn sie erfolgreicher war als die bisherige. Wenn nicht, wurde sie wieder abgewählt. Manchmal zu einem hohen Preis. So einfach ist das.

Martin Wessner / 26.12.2022

Nennen wir die Sache beim Namen: Ulrike Guérot und Hauke Ritz sind zwei durch und durch autoritär denkende Linksextremistinnen. Mehr als diese dreizehn Worte muss man dazu nicht sagen.

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