Gastautor / 26.06.2015 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Das helle Ja und das notwendige Nein

Von Marko Martin

Zwischen Ästhetik und Dissidenz – eine Begegnung mit dem polnischen Dichter Adam Zagajewski anlässlich seines 70. Geburtstags

“Zeit nimmt Leben und/ schenkt Gedächtnis.” Reflektiertes Zickzack der Erinnerungsassoziationen: Adam Zagajewski, für einige Frühlingstage aus Krakau zurückgekehrt nach Berlin, kannte die Stadt bereits im Zustand ost-westlicher Stagnation und angehaltener Zeit. Als die U-Bahn-Wagen an den halb verdunkelten Stationen vorbeidonnerten, die auf DDR-Gebiet lagen, und aus West-Berliner Lautsprechern das “Zurückbleiben!” noch ohne den Zusatz “bitte” auskam.

Hätte ein polnischer Dichter und DAAD-Stipendiat, Jahrgang 1945, mit dem Endgültigkeitston dieser Stimmen nicht eine erwartbare historische Reminiszenz verbinden können? Stattdessen: “Wir wissen, dass Deutschland früher hervorragende Mystiker hatte, im Rheinland, in Schlesien, wir wissen auch, dass es jetzt keine mehr hat – aber auf ihre träge, sanfte, passive Art existieren sie weiter von innen, unter der Erde, in den Gängen der U-Bahn. Diese zwei Sekunden nach dem ‘Zurückbleiben!’ waren wertvolle Zeit, ein Moment der Gelassenheit, das Erbe von Meister Eckhart oder Jakob Böhme.”

Zu finden ist diese Passage in Zagajewskis jüngstem Buch “Die kleine Ewigkeit der Kunst”, essayistische Prosa in Tagebuchform (siehe unsere Rezension unten). Der heute 70-Jährige, schmalschultrig und hochgewachsen, ähnelt dabei verblüffend jenem melancholisch-aufmerksamen Mann von 1986, dessen Porträtfoto – mit bereits damals gelichtetem Haupthaar und grauweißem Dreitagebart – auf dem Cover des Essaybandes “Solidarität und Einsamkeit” zu sehen war. Erinnert er sich noch an die damalige Aufregung, die seine Reflexionen hervorgerufen hatten?

“Gewiss”, sagt er, “im kommunistischen Polen herrschte noch das Kriegsrecht, ich lebte im Pariser Exil, und manche Puristen warfen mir vor, das dissidentische Engagement der Vorgängerjahre aufgegeben zu haben. Dabei ging es um viel Entscheidenderes – um eine komplexere Sicht auf die Welt.” Der Protestpoet der Jahre nach 1968, zusammen mit Stanislaw Baranczak und Julian Kornhauser Protagonist der alltagsnahen und regimekritischen “Nowa Fala” (Neuen Welle), hatte sich nämlich der Erfahrung stellen müssen, dass wirkliche, existenzielle Widerständigkeit noch einen Schritt weiter wagen muss: “Der Totalitarismus wirkt wie ein starkes Gift. Man muss zunächst auf ebenso starke Gegengifte (z.B. das mutige Wörtchen nein) zurückgreifen. In der nächsten Behandlungsphase gilt es dann, sich auch vom Gegengift zu befreien und nach dem Vorbild der alten Meister zum Wort ja zurückzukehren.”

Adam Zagajewski spricht ein sanftes, fehlerfreies und freundlich vortastendes Deutsch, die Mimik entspannt. Der nach dem Tod seiner nobelpreisgekrönten Dichterfreunde Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska bedeutendste polnische Lyriker hat freilich überhaupt nichts altmeisterlich Somnambules an sich – weder hier in dieser mit Pseudokunst voll gerümpelten Berliner Friedrichstraßen-Hotellobby noch in jenem Pariser Café an der Place de l’Odéon, in dem wir uns vor Jahren zum ersten Mal begegnet waren, kurz vor Zagajewskis endgültiger Rückkehr nach Krakau.

“Erinnern Sie sich? Damals lebte unser gemeinsamer Freund Jürgen Fuchs noch, der Ihnen meine französische Telefonnummer gegeben hatte. Fuchs, dazu Hans Joachim Schädlich und Hans Christoph Buch – das waren bei meinem allerersten Berlin-Aufenthalt Ende der Siebziger jene Schriftsteller gewesen, denen ich mich sofort anvertrauen konnte mit meiner osteuropäischen Diktaturerfahrung.”

Doch geht es um mehr als Jahresschichten, Namen und Orte. Eher schon um die Schönheit des Ja – bei fortwirkender Notwendigkeit eines relevanten Nein. Hat Zagajewski, der im März in Berlin mit dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Küste ausgezeichnet worden ist, nicht das Gefühl, dass in der deutschen Hauptstadt – schaukelnd zwischen Ost und West – das großrussische Expansionsstreben erneut unterschätzt wird, auch von Schriftstellern und Intellektuellen?

Ein feines Lächeln als Antwort. “Dazu kenne ich die Stadt nicht mehr gut genug. Zu Heinrich Manns unsäglicher Verteidigung der stalinschen Moskauer Schauprozesse habe ich kürzlich, in meiner Berliner Preisrede, das Notwendige gesagt, wenn mich auch eine andere Frage viel mehr interessiert: Woher kommt die Sehnsucht gerade des sogenannt kritischen Intellektuellen nach Romantik, hinter der sich jedoch auch Horror verbergen kann? Was aber das West-Berlin der späten 70er- und frühen 80er-Jahre betrifft mit seinen Resolutionsintellektuellen und Dichtern, die tatsächlich damit kokettierten, in einem Polizeistaat zu leben ... Über dieses Biotop hatte ich meinen autobiografisch grundierten Künstlerroman ‘Der dünne Strich’ geschrieben. Obwohl ich eigentlich ja gar kein Romancier bin.”

Außerdem, setzt Zagajewski hinzu, der von sich selbst mit freundlicher Beiläufigkeit spricht, habe er damals als junger Mann vor allem die Chance genutzt, sich in die deutsche Literatur einzulesen, kontrovers diskutierte Autoren wie Jünger oder Benn zu entdecken. Denn noch einmal: “Das Wort nein bezieht sich auf einen kleinen Weltausschnitt; in der großen Wohnung des Seins gibt es viele Räume.”

Was aber, wenn nun einer wie Putin in eben jene Räume hineinstampft und sie gleichzeitig reduziert durch die schamlose Infamie seiner Lügenpropaganda? “Glauben Sie wirklich, dieses nationalistische Gebräu habe noch den Sex-Appeal einer universalistischen Botschaft, auf die sich einst sogar der demente Breschnew noch verlassen konnte, um dem Westen Sand in die Augen zu streuen in Bezug auf Afghanistan und Polen?”

Adam Zagajewski, wohnhaft in Krakau, Ex-Exilant in Paris und jahrzehntelang Literaturdozent an amerikanischen Universitäten, blickt nun beinahe spöttisch. Und kein sichtbarer Leidensdruck wie etwa bei Herta Müller, die kürzlich bekannte, Putins tagtägliche Beleidigung ethischer Intelligenz mache sie geradezu physisch krank. Haben sie sich womöglich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, jene “gedämpften Gespräche der eingeschüchterten Wanderer/ aus Osteuropa, Mitteleuropa genannt”? Doch ist dies eine Zeile aus einem frühen Gedicht, während sich an anderer Stelle bereits wieder das ästhetikaffine, dabei um alle Gefährdung wissende Ja vorwagt, ein poetisches Gedächtnis, das sich nicht allein der Katastrophen entsinnt. “Ruhe sanft,/ mein deutsches Erbstück, mein Volksempfänger,/ träume von Schumann und werde nicht wach,/ wenn der nächste Hahn Diktator kräht.”

Womöglich war es ja ein großes Glück, dass Zagajewski damals nicht in Berlin und in dessen überschaubarem Referenzrahmen hängen geblieben war. Und ein noch größeres Glück, aus der wirklichen Weltstadt Paris dann in ein spirituell hellhöriges Krakau heimzukehren, das trotz aller Spuren des maroden Staatssozialismus eben auch von der Schönheit der Renitenz geprägt ist – Einspruch gegen Diktaturen ebenso wie gegen den noch größeren, metaphysischen Skandal der Endlichkeit unserer Existenz.

“Das in alldem tatsächlich Schönheit liegt”, sagt Zagajewski, wiederum mit feinem Lächeln, “wollte mir mein deutscher Verlag nicht glauben und überzeugte mich, im Titel meines Krakau-Buches just auf dieses Wort zu verzichten. Es würde die Leser abschrecken und an kitschigen Goldschnitt gemahnen, sagten die Verlagsexperten ...”

Dabei ist die Sache mit der Schönheit (und dem Schmerz) alles andere als vorgefundene Harmonie. “Dichter sind von der Poesie fast genauso entfernt wie Juristen vom Recht oder Bergführer von den Wolken. Verteidigung der Poesie bedeutet, etwas zu verteidigen, was im Menschen steckt, nämlich die fundamentale Fähigkeit, das Wunderbare der Welt zu entdecken, das Göttliche im Kosmos und im anderen Menschen, in der Eidechse und in den Kastanienblättern.”

Den polyglotten polnischen Dichter Adam Zagajewski, der am vergangenen Sonntag seinen 70. Geburtstag feierte, darf man sich als wissenden, als glücklichen Menschen vorstellen.

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