Der Unterschied zwischen Olympia 1936 in Berlin und Olympia 2008 in Peking? Sie meinen es gibt keinen? Doch. Wenn damals ein Architekt, der mit der Frage, warum er in Berlin baue, konfrontiert worden wäre, einfach nur gestaunt hätte, so hat heute der clevere Baumeister die fundierte Antwort jederzeit parat. Jacques Herzog beispielsweise, der Architekt des Pekinger Stadions, will die Sache „nicht nur aus einem westlichen Blickwinkel“ betrachtet wissen.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/ein_sporttempel_fuer_einen_totalitaeren_staat_1.752586.html
Der Baumeister des 21. Jahrhunderts hat seine Lektion gelernt. Er baut zwar wie eh und je, rücksichtslos und fasziniert von den Möglichkeiten, die ihm der Auftrag bietet, aber er weiß auch um die moralische Fragestellung, die seine Tätigkeit begleitet. Er wird natürlich nie von den Freiheiten, die ihm eine Autokratie beim Bauen erlaubt, sprechen. Es sind schließlich Freiheiten, die sich aus fehlenden Auflagen ergeben, und das auf Kosten der Bürgerfreiheit. Die Freiheit des Architekten, die auf der Willkür des Bauherrn beruht, kommt letzten Endes einem Anschlag gleich, einem Anschlag auf die Gesellschaft, und das weiß der Architekt auch. Und er weiß auch, dass nicht nur er es weiß.
Der Westen stellt sich gerne die großen Fragen, aber oft genug nicht um sie zu lösen, sondern um sich an ihrer Beantwortung zu erfreuen. In einer Welt, in der es kaum noch sprachlos machende Tragik zu beklagen gibt, weil alles, das Leben wie der Tod, der Verwaltung und damit der Banalisierung unterworfen ist, hält man sich an die moralische Einordnung und Zuordnung, hütet sich aber gleichzeitig davor, Schlüsse zu ziehen, geschweige denn einen Schlussstrich. So bleiben uns, angeblich als Mahnung, die Probleme erhalten. Die Lehren, die wir aus der Geschichte zu ziehen gehabt hätten, begleiten uns in Form von Ritualen und Klischees. Moralisch gesprochen handelt es sich um Heuchelei, sozial betrachtet ist es Opportunismus.
Die Moral, mit der wir die Metaphysik sportiv ersetzt haben, ist nichts weiter als eine Ausrede. Ihre Schlüsselwörter wurden längst dem Zeitgeist angepasst. Hilfe wurde so zur Entwicklungshilfe und damit bilanzierbar, und aus der Toleranz leitete man ein fragwürdiges Verstehen ab. Vom Paradigmenwechsel von der Kultur zu den Kulturen und den damit verbundenen Folgen für die conditio humana wollen wir lieber schweigen.
Wenn alles auch anders sein kann, sind wir nicht nur nicht mehr im Recht, wir haben dann auch kein Recht mehr, etwas zu ändern oder uns dem, was anderswo anders ist, zu widersetzen. Diese Verwandlung der Argumentation in Rauschen oder, wie manche meinen, in Weltmusik, pflegt der Westen bekanntlich Multikulti zu nennen, die Autokraten aber sprechen von Nichteinmischung. Ein Architekt, der heute in Peking Repräsentationsbauten entwirft, baut, wie man es auch dreht und wendet, für eine Diktatur. Diese aber ist nicht das Ergebnis einer Jahrtausende alten anderen Kultur sondern eines historischen Unfalls, des erfolgreichen langen Marsches von Mao Tse-tung und seiner dem Bolschewismus verpflichteten Anhängerschaft.
In früheren Zeiten galt eine umfassende Verantwortung des Baumeisters für seinen Bau als selbstverständlich. Sie äußerte sich im Selbstzweifel. Einer der letzten, der davon wusste, war wahrscheinlich Andrej Tarkovski, der russische Kultfilmemacher der 60er Jahre. Jedenfalls thematisiert er das Problem in seinem Film über den Ikonenmaler Andrej Rubljow. Als der Film entstand, herrschte eine bleierne Sowjetzeit, in der man sich auch als Künstler nur durch die Gewissensprüfung behaupten konnte.
Heute dagegen ist alles einfach nur chic und von Ausreden begleitet. Der Architekt kann sich jederzeit rechtfertigen und seine Rechtfertigung auch noch als Nachdenklichkeit verkaufen, an den Pranger aber kommt bestenfalls das Zeitalter, an dem wir ja ohnehin nichts ändern können. Globalisierung nennt es der achselzuckende Soziologe und der Architekt stimmt ihm mit großer Überzeugung zu.