Sie sind vor allem historisch interessiert und wünschen sich zu Weihnachten ein oder mehrere gute Bücher? Oder wollen eine Leseratte mit ähnlichen Vorlieben mit einem anständigen Werk beschenken, wissen aber noch nicht, mit welchem? Hier werden Sie fündig.
Und wieder geht ein Jahr zu Ende, in dem ich mehr Bücher erworben habe, als ich lesen konnte. Um ehrlich zu sein: An zwei der in dieser Liste aufgeführten „arbeite“ ich noch, kann sie aber dennoch bereits empfehlen. Es handelt sich hauptsächlich um Bücher zum Thema (Kultur-)Geschichte. Der eine oder andere in der Achse-Leserschaft dürfte mit meinen Empfehlungen etwas anfangen können, zumal wenn er oder sie sich die in der Achgut Edition erschienenen Werke, die natürlich allesamt empfehlenswert und in unserem Shop erhältlich sind, bereits zugelegt hat.
Bücher, zumal gebundene, sind leider verdammt teuer geworden. Erst recht Wälzer mit 1.200 oder gar 1.500 Seiten, die sich auch in der folgenden Liste finden. Etliche davon mögen inzwischen als Paperback-Ausgaben erschienen bzw. als E-Book erschwinglicher sein. Tipp: Greifen Sie zur englischen Originalversion, kommen Sie immer deutlich günstiger davon. Je nach Gusto und Geldbeutel empfiehlt es sich auf jeden Fall, bei, nun ja, Amazon nachzuschauen, welche Ausgaben zu welchem Preis erhältlich sind.
Ich stelle in dieser Shortlist mehr oder weniger neue Bücher vor, die ich in diesem Jahr mit Gewinn gelesen habe. Auch wenn vieles Geschmackssache sein mag: Ich garantiere dafür, dass sie durchweg gut geschrieben und die Lektüre wert sind, teils auch Ihre Regale schmücken werden, sollten Sie sich für die Totholz-Version entscheiden.
Ben Wilson: Metropolen. Eine Weltgeschichte der Menschheit in den Städten
Eine Geschichte von den frühesten urbanen Ansiedlungen um 10.000 v. Chr. und die erste richtige Stadt Uruk in Mesopotamien 6.000 Jahre später über Metropolen der Antike (Athen, Rom, Alexandria), des Mittelalters (Bagdad, Lübeck) und der frühen Neuzeit (Lissabon, Tenochtitlan, Amsterdam), über London, Paris und New York, bis zu den Megastädten unserer Tage (Lagos und Chinas Millionenstädte). Wir lernen viel über soziale Netzwerke, Wirtschaft, Handel und Fortschritt, mit den Städten als Maschinenräumen des menschlichen Fortschritts und wachsenden Wohlstands – mitsamt den Schattenseiten, die das alles mit sich bringt. Detailreich und hochinteressant!
S. Fischer, 34,00 €
Kate Summerscale: Das Buch der Phobien und Manien. Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen
Von Ablutophobie (Angst vorm Waschen) bis zur Zoophobie (Angst vor Tieren) handelt die Autorin allerlei mitunter absonderliche Ängste und Obsessionen ab. Diese sind teils übertriebene Ängste (etwa vorm Fliegen, vor Insekten oder vor engen Räumen), die eine reale Grundlage haben, teils aber auch sehr seltsame: vor Kajaks, vor Bärten oder vor Palindromen, wobei letztere eher ein Scherz ist: Die Eibohphobie lässt sich denn auch vorwärts wie rückwärts lesen. Anhand zahlreicher Beispiele und feiner Anekdoten lernen wir ungefähr so viele Phobien kennen, wie sie dem Titelhelden der US-Serie „Monk“ zu eigen sind. Und erfahren zum Beispiel, dass schon die römischen Kaiser Augustus und Caligula brontophob waren – also Angst vor Donner respektive Gewitter hatten. „Eine Geschichte der Welt“ ist das Buch natürlich nicht, das ist nur gerade schwer angesagt, irgendwann gibt es wahrscheinlich eine „Weltgeschichte in 35 Kochrezepten“. Kokolores, ein unnötiger Marketing-Trick des Verlags.
Klett-Cotta, 22,00 €
Simon Sebag Montefiore: Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit
Über zwei Kilo schwer und mit 18,5 x 6,3 x 24,9 cm nicht eben bequem im Bett zu lesen, aber lohnende Lektüre für lange Winterabende: Weltgeschichte anhand von unterschiedlichsten Familien, Sippen, Clans und Dynastien aller möglichen Kulturen erzählt, chronologisch und daher jeweils mehr oder weniger parallel auf allen Kontinenten spielend. Wer eine Gesamtdarstellung der Welthistorie in einem einzigen, allerdings voluminösen Band sucht, ist hier bestens bedient, zumal Montefiore auch die politischen Entwicklungen und die überaus zahlreichen handelnden Personen anekdotenreich zu beschreiben weiß. 1.536 dünne Seiten, aber wunderbares Papier, beim Lesen streicht man gern mit den Fingern über die Blätter. Ein episches Werk, das sich noch dazu in jeder Bücherwand gut macht.
Klett-Cotta, 49,00 €
Antonio Scurati: M. Die letzten Tage von Europa
Der dritte Band schildert die Jahre von 1938 bis 1940, als Mussolini mehr und mehr in den Sog des immer expansionistischer auftretenden „Führers“ gerät, womit sich die Rollen umkehren und der auf Krieg setzende Gröfaz sein einstiges Vorbild nur noch die zweite Geige spielen lässt. Ohne rechte Überzeugung setzt M. verhängnisvollerweise die NS-Rassenpolitik auch im faschistischen Italien um und tritt – obwohl Italien weder kriegsbereit noch -willig ist, schließlich als unbrauchbarer Juniorpartner an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. Die folgenden fünf fatalen Jahre und das schmachvolle Ende des „Duce“ werden wohl Thema des vierten Bandes sein, von dem noch nicht bekannt ist, wann er erscheinen wird.
Klett-Cotta, 28,00 €
Lindsey Fitzharris: Der Horror der frühen Chirurgie
Von der Autorin, die das sehr schöne Buch über Dr. Joseph Lister schrieb, den „Vater der antiseptischen Chirurgie“. In diesem Buch erzählt sie sehr lebendig vom Leben und Wirken des Dr. Harold Gillies, der im Ersten Weltkrieg zahllose durch Kriegsverletzungen aller Art (zerschossene Gesichter, zerstörte Kiefer, Nasen, Augen etc.) entstellte Soldaten behandelte, neue Methoden entwickelte und so zum Begründer der plastischen Chirurgie wurde. Sowohl die Einzelschicksale der Patienten als auch die Leidenschaft Gillies‘, der es sich zur Lebensaufgabe machte, Menschen ihr Gesicht wiederzugeben und ihnen teilweise wieder ordentlich zu essen oder zu sprechen ermöglichte, schildert die Autorin, die promovierte Medizinhistorikerin ist und regelmäßig für The Guardian, The Huffington Post und The Lancet schreibt, auf ungemein spannende und unterhaltsame Art.
Suhrkamp, 13,00 €
Ian Mortimer: Im Rausch des Vergnügens. Eine Reise in das England von Jane Austen und Lord Byron
Ein Buch über das Regency-Zeitalter, also das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert? Eher nicht so „meine“ Zeit. Andererseits wollte ich dem Buch in Kenntnis aller früheren Werke des Autors, der hauptsächlich Bücher übers Mittelalter schreibt, eine Chance geben – und wurde reich belohnt: Mortimer beschreibt äußerst kurzweilig vier Jahrzehnte englischer Geschichte, die überraschend liberal waren, jedenfalls im Vergleich zur prüden viktorianischen Ära, die auf sie folgen sollte. Wie immer schildert Mortimer das Alltagsleben der Menschen in der Epoche detailreich und amüsant und bringt uns das Leben und Denken jener Zeit auf unterhaltsamste Art näher. Ein Buch, aus dem man einiges lernen und mit dem man vergnügliche Stunden verbringen kann.
Piper, 26,00 €
Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert
Elf Männer und eine Frau (Margaret Thatcher), die das europäische 20. Jahrhundert prägten. Allerdings nicht in Kurzbiographien beschrieben, sondern jeweils unter dem Aspekt der Macht: Wie gelangten Großschurken wie Lenin, Mussolini, Stalin oder Hitler ebenso wie demokratische Staatsmänner wie Churchill oder Adenauer an die Macht, unter welchen Bedingungen? Und wurden sie von den Ereignissen getrieben oder gestalteten sie sie hauptsächlich selbst? Was bewirkten sie, welches Erbe hinterließen sie? Das Buch endet mit den Kapiteln über Gorbatschow und Kohl, so dass die Abrissbirne aus der Uckermark Kershaw und uns erspart blieb.
Pantheon, 20 €
Frank McDonough: The Hitler Years
Zweifellos eine der besten Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs aus deutscher Perspektive, die ich bisher gelesen habe. Zwei Bände: „Triumph (1933–1939)” und „Disaster (1940–1945)“, in der Taschenbuchausgabe jeweils für knapp 12 € zu erwerben. Selbst der zeitgeschichtlich Interessierte, der schon viel zum Thema gelesen und gesehen hat, wird hier noch das eine oder andere Neue erfahren. Sehr lesbar geschrieben. Kürzlich erschien vom selben Autor praktisch noch das „Prequel“: „The Weimar Years. Rise and Fall (1918–1933)“, bisher allerdings nur gebunden und teuer zu kaufen. Leider wurde noch keines der Werke ins Deutsche übersetzt.
St. Martin's Press, € 39,99
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen
Ein tolles Panorama der zwei Jahrzehnte zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Jähner, der schon in „Wolfszeit“ die erste Dekade nach dem letzten Krieg packend beschrieb, ist es gelungen, die turbulenten 20er und 30er Jahre sehr farbenfroh darzustellen. Die Erkundungen der Epoche umfassen die Veränderungen in der Gesellschaft, die schon damals so fortschrittlich und pluralistisch war, wie es sich die heutigen Verfechter der Diversität wohl nicht vorstellen können, beschreiben das neue Selbstbewusstsein der Frauen, erzählen vom Alltagsleben in der Weimarer Republik, von der Popularität der Tanzpaläste und der Kaufhäuser, den aufregenden Entwicklungen in Kunst Kultur und Architektur, die Entstehung der Bürogesellschaft. Allerlei Details bringen dem Leser so manche Erkenntnis. So schreibt Jähner: „Es war der hellsichtige Joseph Roth, der entdeckte, warum das Monokel zum neurotisch verkrampften Mann so gut passte. Es funktionierte als Affektbremse. Das Monokel mahnte, spontane Reaktionen zu vermeiden; plötzliches Lachen etwa ließ das Glas unweigerlich zu Boden fallen. Der Monokelträger war zur Steifheit verurteilt und gewöhnte sich an, auf spontane Dinge und Ereignisse möglichst träge zu reagieren.“ Wir erfahren auch viel Interessantes über Beate Uhse. Nein, nicht, was Sie jetzt denken. Frau Uhse war zum Beispiel eine hervorragende Pilotin. Ein höchst lesenswertes Buch, glänzend geschrieben!
rowohlt Berlin, 28,00 €
Richard Overy: Weltenbrand. Der große imperiale Krieg, 1931–1945
Gut, ich gebe es zu: Ich stecke noch mitten in der Lektüre des 1.250-Seiten-Wälzers, aber bereits Overys voluminöses Werk über den Bombenkrieg in Europa hat mich derart überzeugt, dass ich auch dieses Buch auch ungelesen bedenkenlos empfohlen hätte. Interessant ist, dass der Autor die konventionelle Chronologie für obsolet hält und den Beginn des buchstäblichen Weltkriegs bereits mit der japanischen Besetzung der Mandschurei 1931 ansetzt und viel Wert auf die Entwicklungen in den 20er und 30er Jahren legt, die zum Verständnis des Krieges ab September 1939 notwendig sind. Auch die Schauplätze fasst Overy weiter und er stellt fest, dass der Zweite Weltkrieg nicht nur zwischen Armeen ausgefochten wurde, sondern in großen Teilen auch Bürger- und Partisanenkrieg umfasste. Ein leider unhandliches, aber enorm detailreiches und spannend zu lesendes Werk!
rowohlt Berlin, 48,00 €
David I. Kertzer: Der Papst, der schwieg. Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler
Papst Pius XII., der sein Pontifikat im März 1939 antrat, ist oft vorgeworfen worden, sich nicht explizit zum Holocaust geäußert, schon gar nicht ein Ende des Genozids an den europäischen Juden gefordert zu haben. Und was soll man sagen: Auch Dokumente, die der Vatikan erst 2020 freigab und die der Autor als einer der Ersten einsah, entlasten das ausgesprochen deutschfreundliche Oberhaupt der katholischen Kirche (er war zuvor apostolischer Nuntius in München und sprach Deutsch) keineswegs. Nicht einmal die Deportation der römischen Juden mehr oder weniger unter seinen Augen verhinderte er nicht. Der Papst schwieg auch, um, wie er meinte, (noch) Schlimmeres zu verhindern, von den Antisemiten, die den Apostolischen Palast bevölkerten, gar nicht zu reden. Sprach er den Krieg und die Shoah an, tat Pius das stets in verklausulierten Worten und wahrte sogar die Neutralität zwischen den Achsenmächten und den Alliierten. Über 700 sehr lesbare Seiten. Ebenfalls empfohlen sei Kertzers Buch über Pius XI. und dessen Verhältnis zu Mussolini, für das er den Pulitzer-Preis erhielt.
wbgTheiss, 39,00 €
Edward Dolnick: Die Entschlüsselung der Hieroglyphen. Zwei rivalisierende Genies, das Alte Ägypten und der Stein von Rosette
Wir haben alle schon in der Schule von ihm gehört (und ich betrachtete ihn im Sommer 2022 im British Museum fasziniert in natura): der Stein von Rosette. Ein Offizier in Napoleons Invasionsarmee fand den Stein, der drei Inschriften trägt, 1799 in Ägypten. Oben Hieroglyphen, in der Mitte eine unbekannte Schrift – demotisch, wie sich später herausstellte –, unten dann 54 Zeilen griechischer Text, der recht problemlos zu lesen war. Damit war der Code der alten Ägypter aber noch nicht geknackt, denn die Texte sagten zwar ungefähr das gleiche aus, waren jedoch keineswegs wörtliche Übersetzungen. Der Engländer Thomas Young, ein wohlhabender polyglotter Universalgelehrter, und der Franzose Jean-Francois Champollion machten sich unabhängig voneinander daran, die Hieroglyphenschrift zu entziffern. Es dauerte dann tatsächlich noch zwei Jahrzehnte, bis es Champollion gelang. Den schwierigen Weg dorthin beschreibt der Autor unterhaltsam und verständlich, schwächelt allerdings gegen Ende. So richtig verstanden habe ich die finale Entzifferung tatsächlich nicht. Trotzdem: ein schönes Buch!
Nagel & Kimche, 25,00 €
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.