Alexander Wendt / 03.10.2014 / 12:04 / 7 / Seite ausdrucken

Taxi durch Leipzig

Lange nicht in Leipzig gewesen. Der Taxifahrer, ein säuerlicher Endfünfziger mit militärischem Haarschnitt,  zupft demonstrativ an seinem Gurt. Nach ein paar Metern: „Anschnalln.“

Ich: „Ernsthaft? Hinten? Ich schnall mich auf der Rückbank nie an.“

Fahrer: „Unsre Sicherheidsbeschtimmungn besachn, dass sämbtlische Rügghaldevorrichtungen zu nutzn sind.“

Zack, da ist er wieder, der Sound, den keiner vergisst, der ihn in Reinform gekannt hat. Um Erich Kästner zu zitieren: Den legt man sich auf Eis.

Ein paar Sekunden später ruft mich jemand an, schon deshalb kann ich den Chauffeur nicht fragen: „Wo haben Sie eigentlich bis 1989 gearbeitet? Beziehungsweise sagen: Komm, euer Rückhaltesystem hat schon vor 25 Jahren schlapp gemacht.

Die Konstellation finde ich jedenfalls gut: verdienter Aufpasser a. D. fährt ehemaligen Montagsdemonstranten spazieren. Im Mercedes.

Wie heißt es bei Leuten wie ihm immer? Siegerjustiz.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Heiner Noch Einer / 05.10.2014

“Wenn sich Mitfahrer auf dem Rücksitz im Auto nicht anschnallen, erhöht das für Fahrer und Beifahrer vorne das Todesrisiko bei Unfällen um das Fünffache”

Alexander Wendt / 03.10.2014

Ich unternehme den etwas unsicheren Versuch, darauf hinzuweisen: in meinem kleinen Text zum 3. Oktober geht es nicht um die Frage, ob sich ein Taxipassagier auf der Rückbank anschnallen soll.

Otto Meierhaus / 03.10.2014

Also ich schnalle mich immer an. Vielleicht geht ihnen ein Licht auf, wenn siemal einen Unfall unangeschnallt auf der Rückbank erlebt haben..

Holger Chavez / 03.10.2014

Daß jetzt immer auf die Taxifahrer eingeschlagen wird, ist natürlich kein Zufall - die neue Jubel-App Uber läßt grüßen: Endlich wird das verkrustete Gewerbe, in dem sich Alt-Sozialisten und überhaupt Nichtstuer und pöbelhafte Proleten auf unsere Kosten ein schönes Leben machen, aufgemischt. Nach meiner “Alltagserfahrung”, wie es im Soziologendeutsch so schön abfällig heißt, sind im Taxifahrerberuf viele Männer beschäftigt, die es anderswo nicht aushalten, mit anderen Worten: Die es nicht bringen. Auf diese Leute auch noch einzuprügeln ist billig. Wenn wir es nationalökonomisch betrachten ist hier eine Nische für sozial ziemlich unfähige Leute, die außer Taxi-Fahren nur noch HartzIV beziehen können. Laßt sie doch! Sie verdienen eh nur unterdurchschnittlich. Und wenn ein Journalist, gestatten Sie mir diese Anmache, mal unhöflich behandelt wird, so ist das doch kein Drama. Besser als die Höflichkeitsmaschine, welche man mittlerweile tagtäglich erdulden muß. (Echte Höflichkeit gibt’s in Deutschland nicht; eher in Frankreich und dort auf dem Land.) Auf abhängig Beschäftige einzuprügeln, weil sie faul oder unhöflich oder sonstwas sind, sie sogar noch an den Pranger zu stellen (was Sie hier nicht getan haben), paßt in die zukünftige sozialistische Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen. Dort herrscht öffentlicher Wettbewerb zwischen Arbeitssklaven, dort gibt es Helden der Arbeit oder eben auch Faulenzer, die öffentlich gebrandmarkt werden müssen, da die sie beschäftigenden Sozialkonglomerate nicht fähig sind, ihre Mitarbeiter effektiv zu führen. Die Bewertungssysteme im Internet, die Kundenbefragungen nach erbrachten Service-Leistungen erzeugen den öffentlichen Druck, von dem Stalin und Honecker geträumt haben.

Pepito Spazzaguti / 03.10.2014

Das ist es, was Ihnen zum Tag der deutschen Einheit einfällt? Ja, lustige Ausdrucksweise von dem sächsischen Taxifahrer, in Form und Inhalt. Aber was soll diese kleine Anekdote sonst aussagen? In ganz Deutschland (mindestens) gibt es säuerliche taxifahrende Endfünfziger. Das Anschnallen im Auto ist sinnvoll (ernsthaft? hinten? Ja!), es ist - vermute ich mal - überall in Deutschland vorgeschrieben und besonders Taxifahrer bekommen überall in Deutschland spätestens bei einem Unfall entsprechenden Ärger mit Behörden, Arbeitgebern, Fahrgästen und den invovlierten Versicherungen. Das kann man für paternalistische Überregulierung halten. Außerhalb Deutschlands würde man das vermutlich für typisch deutsch halten. Gesamtdeutsch, wohlgemerkt. Aber was soll man dem Taxifahrer da vorhalten? Seine Rechtstreue? Seine Angst um seinen Job (mit Ende fünfzig)? Aber in Ihrem Weltbild muss so ein Ossi natürlich ein “verdienter Aufpasser a. D.” sein, sicherlich Ex-Stasi, gläubiger Parteisoldat, wenn nicht schlimmeres. Und dem kann man natürlich auch nach 24 Jahren nochmal lockerflockig den Untergang “seines” Systems aufs Brot schmieren, so als Kunde im Mercedes. Weil man keinen Bock auf Anschnallgurt hat. Das hat tatsächlich mit “Siegerjustiz” mehr zu tun, als Sie wahrscheinlich glauben. Und da wundert man sich, dass ebensolche Leute in den “neuen” Bundesländern von arroganten Westlern reden, die Wende nicht unbedingt einseitig positiv sehen und die Linke wählen? Ja, das ist alles traurig. Aber so ein klischeetriefender Text nach 25 Jahren Mauerfall auch. Es bleibt noch sehr viel zu tun, auf beiden Seiten der eigentlich ehemaligen innerdeutschen Grenze.

Werner Hennwieser / 03.10.2014

Lieber Herr Wendt, im Zweifel fragen als einfach nur Kopfkino abspielen.

Stephan Unger / 03.10.2014

Vielleicht ist es einfach so, dass die Versicherung nicht zahlt bei einem Unfall und er auf seinen gesamten Kosten sitzenbleibt, wenn Sie nicht angeschnallt sind?

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Alexander Wendt / 29.08.2019 / 12:18 / 33

Besuch in der Lausitz: Wo man aus der SPD aussteigt

Den Namen der brandenburgische Sozialdemokratin Elfriede Handrick kennen heute ziemlich viele Wähler im Land, und das, obwohl die Schatzmeisterin der Parteigliederung Wustermark zu den Landtagswahlen…/ mehr

Alexander Wendt / 21.06.2019 / 12:09 / 94

Vom Ausschlachten eines Mordes

Von dem früheren CDU-Generalsekretär und heutigen Verteidigungs-Staatssekretär Peter Tauber hörte die Öffentlichkeit längere Zeit wenig bis nichts. Bis zur Verhaftung des Rechtsextremen Stephan E., der…/ mehr

Alexander Wendt / 07.06.2019 / 13:00 / 50

Eine ganz persönliche SPD-Erzählung

Die SPD zerfällt in zwei Flügel: den ihrer Ex-Vorsitzenden und den ihrer Mitglieder, denen noch eine Chance bleibt auf das schönste Verweseramt neben dem Papst (so…/ mehr

Alexander Wendt / 21.05.2019 / 12:02 / 31

In Wien fliegen, in Berlin sitzen bleiben

Von dem Autor Frank Goosen stammt der Roman „Liegen lernen“, einer der vielen Romane über die achtziger Jahre in Westdeutschland, also die Zeit, in der…/ mehr

Alexander Wendt / 02.05.2019 / 06:25 / 121

Kevin und das Kollektiv. Oder: Ärmer werden, die SPD ist die Antwort

Zum 1. Mai legte der Juso-Vorsitzende und ideelle SPD-Chef Kevin Kühnert in einer ZEIT-Vorabmeldung seine Pläne zur Einführung des Sozialismus in Deutschland dar, nicht schwammig,…/ mehr

Alexander Wendt / 19.04.2019 / 10:30 / 13

Freiheit light, mit starkem Filter

Der 15. April 2019 wird in die politische Chronik als der Tag eingehen, an dem sich Union und SPD darauf einigten, ihren Koalitionsvertrag in einem…/ mehr

Alexander Wendt / 06.04.2019 / 08:24 / 49

Wie sich Medien beim Versuch blamierten, die AfD zu blamieren

Heißen die meisten Messerstecher mit Vornamen Michael? Zumindest im Saarland? Genau das behauptete eine ganze Reihe von Medien, nachdem das saarländische Innenministerium auf die Anfrage…/ mehr

Alexander Wendt / 25.03.2019 / 08:30 / 71

Berliner Privatisierungswelle: Platz, Alder!

Demnächst findet in Berlin ein Volksbegehren zur Enteignung eines größeren privaten Wohnungsunternehmens statt, der „Deutschen Wohnen“. In Caracas mag gerade ein Sozialismus untergehen – in Berlin kommt…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com