Silvia Meixner / 02.05.2012 / 14:01 / 0 / Seite ausdrucken

Silvis Culture Club (3)

Voller Saal im Jüdischen Museum in Berlin. Draußen immer mal wieder Polizeisirenen, es ist Walpurgisnacht, da gehen nette Menschen gern zum Tanzen aus und Idioten zum Randalieren. Friedliche, prächtige Stimmung im Museum. Viele Lacher. Ein Buchtitel, der provoziert: „Vergesst Auschwitz!“ Henryk M. Broders neuestes Buch, binnen weniger Wochen zum Bestseller avanciert. Darf der Mann das? Und verkauft er jetzt dank der Grass-Diskussion noch mehr Bücher? Darf das sein?

Es muss so sein. Der Aufruhr um das Grass-Gedicht ist zusätzliche Werbung, „Vergesst Auschwitz!“ wird bereits in der zweiten Auflage (Verlag Knaus, 176 S., 16,99 Euro, eBook 13,99 Euro) verkauft, dumm gelaufen für den Nobelpreisträger. Broder bringt’s auf den Punkt: „Grass ist gleich Deutschland, seine Bio ist unsere Bio, er ist wir, wir sind er. Grass ist der neue Erlöser.“ Der Autor las, das Publikum lachte, Malte Lehming vom Tagesspiegel stellte kluge Fragen. Wie definiert man einen Antisemiten? Henryk M. Broder zieht Vergleiche: „Ist ein Alkoholiker jemand, der sich die Kante gibt oder hat er nur ein Problem mit dem Alkohol? Ist ein Vergewaltiger ein Verbrecher oder nur schwerhörig, weil er das ‚Nein‘ der Frau nicht gehört hat? Jeder hat andere Gründe sich zu besaufen. Und jeder hat ein anderes Motiv für Antisemitismus. Antisemitismus schrecklich zu finden ist mittlerweile Mainstream.“

Also nichts Halbes und nichts Ganzes, man kann sich darüber aufregen oder es sein lassen. Viele lassen es sein, wollen die Geschichte „ein für alle Mal“ unter den Teppich kehren. Das hat leider Erfolg, nur jeder fünfte Deutsche zwischen 18 und 25 Jahren weiß, was Auschwitz war. „Wir haben die Vergangenheit bewältigt wie die Finanzkrise“, sagt der Buchautor.

Denkanstoß im Lesesaal: „Maßgebliche Antisemiten waren immer gebildete Leute.“ Das hat sich geändert, im Zuge der Mainstream-Bewegung hat der Antisemitismus auch die Sofas erreicht, Menschen erobert, die am liebsten aufstehen, um sich ein Bier zu holen. Die brauchen wegen eigener Erfolgslosigkeit Menschen, auf die sie herabschauen können. Seit 2000 Jahren schauen Nicht-Juden mit wechselnder Intensität und wechselnden Auswüchsen auf die Juden. Henryk M. Broder zitierte aus der Leserpost im „Spiegel“, da schrieb ein Mann: „Die Juden werden seit 2000 Jahren verfolgt – immer ohne Grund?“

Malte Lehming fragte: „Seit mehr als 40 Jahren entlarvst du mit viel Tamtam Antisemiten- warum?“

Antwort Henryk M. Broder: „Ich bin auch ein Zwangscharakter, nicht nur die Antisemiten. Antisemitismus ist das älteste Ressentiment der Welt. Wenn es in homöopathischen Dosen stattfindet, finde ich es nicht schlimm. Kürzlich habe ich einen unangenehmen Juden getroffen und bei mir gedacht: ‚Drecksjude‘. Sie sehen, ich habe mein ‚Es‘ nicht unter Kontrolle, aber ich weiß zumindest, dass ich es habe.“ Was man nicht von allen Mitgliedern der Gesellschaft behaupten kann.

Der feiertägliche Rat vom Culture Club: Lesen Sie das Buch, vergessen Sie Auschwitz (oder auch nicht) und fahren Sie hin, so lange es noch steht. „Ich bedaure, dass man es nach 1945 nicht bombardiert und zerstört hat, ich würde das auch heute noch sofort machen. Von Krakau aus gibt es heute Tagesfahrten, all inclusive, Sie starten nach dem Frühstück und sind zum Abendessen wieder im Hotel, Sie verpassen also keine Mahlzeit. Und in Auschwitz erwartet sie ein obszönes Schauspiel, Sie können dort handgeschnitzte Judenmännchen aus Holz kaufen. Auch das Essen in der Kantine ist, verglichen mit der Nazizeit, besser geworden“, sagt der Autor. Aber wiederum auch nicht so gut, dass man extra zum Speisen hinfahren müsste.

Henryk M Broder rät, wenn man sich löblicherweise schon erinnern will, zur Reise nach Westerbork, das ist eines von zwei niederländischen KZ-Sammellagern, von hier wurden niederländische und deutsche Juden in andere Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht. Heute ist es ein schlichter, beeindruckender Ort der Geschichte, der berührendste Teil ist das Ende des Schienenstranges, an dem die Juden ankamen. Die Schienen enden im Nirgendwo, ihre stählernen Enden hat man aufgebogen, sie ragen gen Himmel. Keine Holzschnitzereien. Keine all inclusive-Last-Minute-Angebote.

Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de

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