Gastautor / 27.11.2016 / 17:15 / Foto: Achim Raschka / 0 / Seite ausdrucken

Rückkehr nach Budapest

Von Jeanette Neuendorf.

Dies ist eine Geschichte über Budapest. Meine Geschichte mit Budapest. Ich war 16, als ich das erste Mal nach Budapest reiste. Zusammen mit meiner Mutter flog ich mit Malev, der damaligen ungarischen Fluggesellschaft, in einer kleinen Propeller Maschine dorthin. Zwei Wochen, während der großen Sommerferien. Es sollte einmal etwas anderes sein, als immer nur Ostsee. Wir wollten in den Süden. Allerdings waren die Möglichkeiten für „südlich“ relativ begrenzt. Damals gab es noch die DDR und eine Mauer drumherum. Immerhin, Budapest war ein sozialistisches Reiseziel. Ja, das ginge, hieß es.

Als wir dort ankamen, war ich von der Schönheit dieser Stadt überwältigt. Ich kannte Prag und das fand ich schon schön. Aber Budapest übertraf meine Erwartungen noch um einiges mehr. Wir wohnten privat bei einem äußerst liebenswürdigem ungarischen Ehepaar. Karl und seine Frau waren Freunde von Bekannten, beide Mitte 60 und bereits pensioniert. Ihre Wohnung lag in einer Straße direkt unterhalb der Fischerbastei. Eine geräumige Altbauwohnung mit großzügigen Zimmern und Flügeltüren, einem gut erhaltenen Parkettfussboden, der bei jedem Schritt altehrwürdig knarzte und hohe Decken mit Stuckverzierung. Zur Wohnung gelangte man über eine geschwungene, steinerne Treppe in einem Innenhof, in dessen Mitte eine Palme stand, umrandet von weiß- und rosa blühendem Oleander. Als wir bei unserer Ankunft von der Straße durch die schwere Eingangstür traten, dachte ich einen italienischen Garten zu betreten. Oder zumindest, wie ich mir damals einen italienischen Garten vorgestellte. Es hatte so gar nichts mit der grauen 60er Jahre Neubausiedlung gemein, in der ich aufgewachsen war. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht einmal vorstellen, dass man überhaupt so schön wohnen kann.

Die ganze Stadt war wie dieser Innenhof. Alte, wunderschöne Gebäude, die Donau mit den prachtvollen Brücken, die Buda und Pest, miteinander verbanden. Ich konnte mir lange nicht merken, welche Seite der Stadt denn jetzt Buda und welche Pest war. Vor allem aber roch es in Budapest überraschenderweise nach „Westen“. Den Geruch nach frischer Seife, aromatischem Kaffee, teuren Cremes und eleganten Parfüms kannte ich bisher nur aus dem Intershop. Mit diesem Geruch verband ich Freiheit und die große Welt. Und Budapest roch überall nach dieser Welt. Meine Mutter und ich genossen dieses Gefühl von Freisein. Wir flanierten durch die Einkaufsstraßen, saßen entspannt auf den Bänken der großen Plätze und beobachteten die Menschen.

Meine erste Begegnung mit einem Mercedes-Schlüssel

Mir gefielen die ungarischen Frauen und ihr weibliches Selbstverständnis, mit dem sie sich bewegten. Sie erschienen mir viel hübscher und modisch besser gekleidet, als die Frauen zu Hause. Ich war selbst auf dem Weg eine Frau zu werden und wollte mir etwas von ihrer Weiblichkeit mitnehmen. In den Budapester Geschäften stöberte ich mit meiner Mutter nach den Kleidern, Blusen und Röcken, die wir an den Frauen gesehen hatten. Viel konnten wir uns nicht leisten. Die Ungarn wollten unsere Währung nicht, weshalb es für DDR-Bürger eine Begrenzung beim Umtausch in Forint gab. Also improvisierten wir, kauften günstig Stoffe, um das Gesehene später aus unserem Gedächtnis nach zunähen. Meine selbstgenähten Röcke und Blusen führte ich dann in Ost-Berlin spazieren und fühlte mich den schönen Frauen in Budapest damit ein wenig näher.

Natürlich sahen wir in Budapest auch die anderen Touristen, die mit der richtigen Währung im Portemonnaie. Dass es einen Unterschied machte, wusste ich. Wie er sich äußern konnte, nicht. Das neu erbaute Hilton Hotel direkt neben der Fischerbastei war damals eine Attraktion für Budapest. Meine Mutter hatte den sehnlichsten Wunsch dort wenigstens ein Mal einen Kaffee zu trinken. Gesagt, getan. Die Aussicht war grandios. Durch die dezent getönten Scheiben hatte man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt. Wir hatten gerade an einem der Tische mit Panoramablick Platz genommen, als sich ein Mann mittleren Alters an unseren Nebentisch setzte. Er war auf den ersten Blick teuer gekleidet, aber seine Schuhe verrieten, dass er keinen Geschmack hatte.

Geräuschvoll warf er seinen Autoschlüssel zusammen mit einer Schachtel Zigaretten vor sich auf dem Tisch und schaute dabei erwartungsvoll in die Runde. Als nichts passierte, begann er seine mitgebrachten Utensilien neu zu arrangieren. Was macht der da? dachte ich und sah aus dem Augenwinkel, wie der den Autoschlüssel nun so hindrehte, dass der Mercedes-Stern deutlich zu erkennen war. Die Zigarettenschachtel der Marke Marlboro stellte er hochkant auf. Scheinbar verfehlte das alles jedoch immer noch seine Wirkung. Kurz darauf rief er irgendetwas auf Deutsch quer durch den Raum. Ein Kellner eilte geflissentlich herbei und nahm die Bestellung auf. Als er bereits im Gehen war, rief der Mann ihm in arrogantem Ton hinterher. „Wir bringen euch die Devisen! Dafür erwarte ich hier umgehend und bevorzugt behandelt zu werden.“, fügte er mit einem abschätzigen Seitenblick auf uns hinzu.

Ich schämte mich in Grund und Boden

Der Kellner nickte und verschwand. Die ganze Szenerie hatte sich unüberhörbar für jeden Gast abgespielt. Ich schämte mich in Grund und Boden. Nicht wegen des Seitenblickes des Mannes. Das war mir egal. Ich schämte mich für diesen Mann und dafür Deutsche zu sein. Ich schwor mir, sollte ich jemals in der Situation sein reisen zu können und Geld zu haben, mich jederzeit respektvoll den Menschen und ihrem Land gegenüber zu verhalten. Im Kopf rechnete ich nach, der Umtauschkurs für westdeutsche Reisende stand 1:17. War das ein Grund sich so aufzuführen? Ich fand es einfach nur peinlich und ungerecht zugleich. Wir tranken unseren Kaffee im Hilton, so wie meine Mutter es sich gewünscht hatte, aber irgendwie wollte er mir nicht so recht schmecken.

Die folgenden fünf Jahre kamen wir jeden Sommer nach Budapest. Und jedes Mal wohnten wir bei Karl und seiner Frau. Von Karl lernte ich dann Kaffee trinken. Richtigen Kaffee. Klein, tiefschwarz. Stark, nicht so verwässert, betonte Karl. Ihr Deutschen trinkt Kaffee wie aus Eimern. Abgestanden, stundenlang auf Heizplatten warmgehalten. Schrecklich! Das ist kein Kaffee. Gefärbtes Wasser vielleicht, aber kein Kaffee. Der Löffel muss drin stehen, sagte Karl. Zwei, drei Schluck mit ein wenig Zucker darin. Ich war neugierig und trank tapfer das bittersüße Schwarz. Am Anfang schüttelte es mich, doch nach und nach gewöhnte ich mich daran. Mein Herz raste. Ich fühlte mich lebendig und besonders. Ich trank jetzt Kaffee wie die Ungarn, Italiener und Franzosen.

Im Sommer '89 standen Karl und ich oben auf der Fischerbastei. Es war ein schöner, sonniger Tag. Wir hatten einen dieser Postkartenblicke auf die Stadt. Auf der gegenüberliegenden Seite das Parlament, majestätisch, erhaben am Flussufer gelegen, vor dem die vorbeiziehenden Schleppkähne und Ausflugsdampfer aussahen wie kleine, bunte Spielzeugboote. Ich war mittlerweile 21. Mein Land befand sich bereits im Aufbruch. Vieles hatte sich verändert. Auch in Ungarn. Kurzzeitig stand die Frage im Raum zu gehen, wie viele meiner Landsleute in jenem Sommer, über die „grüne“ Grenze von Ungarn nach Österreich. Ich wusste noch nicht so genau, wohin ich eigentlich wollte. Wenn du einmal heiratest, dann heirate in Budapest, sagte Karl ganz unvermittelt. Warum er das sagte, weiß ich bis heute nicht, aber er meinte es ernst. Es war das letzte Mal, dass Karl und ich uns sahen. Dann kam die Wende und ich verließ Berlin schneller als gedacht.

Freiheit war jetzt überall, vor allem dort, wo ich noch nicht war

Ich reiste um die halbe Welt und lebte an vielen verschiedenen Orten. Nach Budapest kam ich nicht mehr. Das Gefühl von Freiheit, was ich daran geknüpft hatte, war plötzlich obsolet. Ich lebte es. Freiheit war jetzt überall. Vor allem aber dort, wo ich noch nicht war. Wie Italien, Frankreich, die Schweiz und natürlich Amerika. Ich folgte jedem noch so kleinen Impuls und schaffte es immerhin bis nach Hawaii. Ein Paradies, das keines mehr ist, sobald man dort wirklich lebt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Budapest und die damaligen Erlebnisse hatte ich längst vergessen, einfach verdrängt. In diesem Jahr kam es wieder in mein Leben, auf eine schöne und ganz persönliche Weise. Seitdem war ich zweimal wieder dort. Habe mich der Stadt und den Menschen neu genähert und bin meinen Erinnerungen und Gefühlen von damals auf der Spur. Vieles hat sich verändert. Aber vor allem, habe ich mich verändert. Heute sind es die ungarischen Frauen, die mich anschauen. Es ist ein  paradoxes Gefühl. Denn ich sehe die Menschen, und ich sehe in ihnen immer noch einen Teil von mir.

Wie neulich, als ich am Rande der Budapester Kunstmesse eine Gruppe von Künstlern in einer kleinen Bar beobachte. Ich sehe sie reden, trinken, rauchen und tanzen. Und auch wenn ich ihre Sprache nicht spreche, so sehe ich doch die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen. Ich kenne diese Art der gesellschaftlichen Intimität von damals, aus meiner Theaterzeit in Ostberlin. Ich erinnere mich an diese besondere Mischung aus geteiltem Leid und familiärer Atmosphäre. Und während ich sie beobachtete, wurde mir ein wenig wehmütig ums Herz. Es ist etwas, das ich vergeblich an den Orten der großen, weiten Welt gesucht habe. Etwas, dass es so auch in Berlin nicht mehr gibt. Etwas, das ich vermisse, und weswegen ich mich in Budapest auf gewisse Weise wieder wie „zu Hause“ fühle.

Ich musste dieser Tage oft an Karl denken. Es gibt so vieles, was ich ihm gerne erzählen würde. In Gedanken sehe ich uns in seiner Küche sitzen, bei einer Tasse richtig schönem starken Kaffee.

Jeanette Neuendorf ist freie Autorin und lebt in Berlin. Sie arbeitet sie an ihrem ersten Roman.

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