Kolumne von Maxeiner und Miersch, erschienen in DIE WELT am 23.03.2007:
Viel ist in letzter Zeit von Computerwelten zu lesen, in denen Mitbürger als „Avatar“ ihren Feierabend verbringen. Ein Phänomen, das Stoff für Debatten liefert. Während die einen ein soziales Experimentierfeld beobachten, das die Möglichkeiten der Teilnehmer erweitert. Erblicken die anderen Abgründe der Vereinzelung und seelischen Zerrüttung. Wir möchten eine dritte These wagen: Wer bei „Second Life“ mitmacht weiß in der Regel, dass er sich in einer Scheinwelt bewegt. Das stinknormale „First Life“ ist jedoch genauso virtuell.
Unser aller künstliche Zweitwelt ist die Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist all das worüber wir reden und lesen, was wir im Radio hören oder als Gerücht aufschnappen, was uns als Partytalk umrauscht oder sich durchs Fernsehen im Wohnzimmer breit macht. Dieser öffentliche Diskurs handelt größtenteils von Dingen, die wir nicht selbst überprüfen können. Wir vertrauen darauf, dass sie wichtig sind, weil darüber viel in der Öffentlichkeit geredet, gedruckt und gesendet wird.
So erzeugen die Schallwellen der Öffentlichkeit eine zweite Realität, die die erste überlagert. Wir machen uns Sorgen, wir zerbrechen uns den Kopf, wir ängstigen uns, wir treffen Lebensentscheidungen aufgrund dieses „Second Life.“ Lassen wir mal ein paar der ganz großen Themen Revue passieren, die unser Land über längere Phasen in Erregung versetzten. In Klammern steht jeweils der Kontext in dem sie damals betrachtet wurden: Der Bundestag verabschiedet Notstandsgesetze (neuer Faschismus), Waldschäden in einigen Mittelgebirgen (Waldsterben), Volkszählung (Überwachungsstaat), Nachrüstung (3. Weltkrieg), Tschernobyl (Anstieg von Krebs und Missbildungen in Deutschland), BSE (Massentod durch Rindfleischverzehr). Dies ist nur ein winziger Ausschnitt, der sich beliebig erweitern ließe. Wir lernen daraus, dass die am hitzigsten diskutierten Themen der jeweiligen Zeit sehr selten bedeutend waren. Der trügerische Zeitgeist lockt uns in sein „Second Life“, mit dem er uns ständig von einer sorgfältigeren Betrachtung des „First Life“ ablenkt.
Übersehen wurden häufig andere – oftmals sehr konkrete - Probleme, die sich später als weitaus wichtiger erwiesen. Heute wissen wir, dass während die Wälder totgesagt wurden sich die Waldfläche in Deutschland ausdehnte. Zur selben Zeit stand die so genannte Nachrüstung im Fokus der Öffentlichkeit. Viele glaubten, ein Weltkrieg zwischen Ost und West stünde unmittelbar bevor. Weitaus weniger Aufmerksamkeit genossen Gewerkschafter in Polen. Doch dank ihres Mutes und ihrer Hartnäckigkeit kam es ganz anders als vermutet. Auch die Machtergreifung des iranischen Mullah-Regimes verbuchte man damals als Randereignis. Kaum ein Journalist ahnte, wie sehr der Islamismus den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflussen würde. Zur gleichen Zeit geschah etwas im Inland, was keinem Chefredaktion sonderlich auffiel: Die Deutschen bekamen immer weniger Kinder. Im Gegenteil: Die Medien warnten seinerzeit in schrillen Tönen vor der Bevölkerungsexplosion. Jetzt bereiten uns die Folgen des Geburtenrückgangs Kopfzerbrechen. Doch vielleicht wird auch dieses Problem in zwei oder drei Jahrzehnten in einem ganz anderen Licht erscheinen.
Und heute? Viele Menschen machen sich Sorgen um Mobilfunkstrahlen und Gentechnik im Essen. Politiker, Medien, Lobbygruppen und Öko-Aktivisten betrachten die Reduzierung des Kohlendioxids in der Atmosphäre als die größte Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Während tagtäglich Tausende Kinder an schmutzigem Wasser, am giftigen Qualm primitiver Feuerstellen und an Malaria sterben, glauben die meisten Medienkonsumenten, dass wir uns vordringlich um die globale Temperatur in 200 Jahren kümmern sollten. Umfragen zeigen auch, dass Mehrheiten in vielen Ländern die USA und Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens halten. Dieses „Second Life“ ist so virtuell, dass das gleichnamige Internet-Spiel dagegen ziemlich hausbacken wirkt.