Vor vielen Jahren zeigten Kinos in Aachen vor dem Hauptfilm vertonte Diawerbung. Auf einem der Standbilder sah man ein Moped, und eine Stimme sagte im rheinischen Singsang: „Leisten Sie sich mal Würselen!“ Das Publikum brach darüber zuverlässig in höhnisches Gelächter aus. Was weniger an der stimmlichen Modulation lag, die der eines Urologen entsprach, wenn er sagt „Jetzt legen Sie sich mal auf die Seite und entspannen Sie sich.“ Es war der Ausdruck „sich etwas leisten“ im Kontext mit „Würselen“, der für saalweites Amüsement sorgte.
Wer Würselen, eine Kleinstadt im Norden der alten Kaiserstadt, kennt, kann diese Erheiterung zutiefst nachvollziehen. In Würselen wurde das geflügelte Wort „Da möchte man nur mausetot überm Zaun hängen“ geprägt. Heinrich Heine kam nie nach Würselen, ansonsten hätte er sich in „Deutschland, ein Wintermärchen“ darüber ausgelassen und nicht über Aachen:
Zu Aachen langweilen sich auf der Straß'
Die Hunde, sie flehn untertänig:
Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird
Vielleicht uns zerstreuen ein wenig.
Was wäre Heine wohl zu Würselen eingefallen? Man mag sich das gar nicht vorstellen. Doch in Würselen gab es damals ohnehin keine Hunde, sie waren längst nach Aachen geflohen. Dass sie das heute nicht mehr tun, dürfte alleine dem allgemeinen Leinenzwang geschuldet sein. Was die Frage aufwirft: was mag die Menschen dort halten? Sind es die jährlich stattfindenden Würselener Jungenspiele, bei denen so genannte Maijungen mit dem so genannten Mailied ihre so genannten Maimädchen vollträllern, wofür sie mit realen Alkoholika und Eiern entlohnt werden? Ist es der innige Wunsch, einmal im Leben 1. und 2. Pritschenmeister zu werden? Ist es die „Größte Wanduhren- und Standuhrenausstellung der Welt“, zusammen getickt von einem Uhrmachermeister? Oder ist es gar der Rundfunksender Radio Alaaf, der seinen Sitz in Würselen hat?
Die Wurm verweilt keinen Moment länger, als es ihr Gefälle zulässt
Keine Frage - die Menschen in Würselen versuchen, sich ihr Schicksal so erträglich zu gestalten, wie nur möglich, auch wenn ein Blick in die Website Wikivoyage unter den Punkten Sehenswürdigkeiten, Nachtleben, Einkaufen sowie sämtlichen sonstigen Punkten nur gähnende Leere bietet. Auf alle Fälle besteht ein reges Vereinsleben, rund 270 Vereine machen die freie Zeit erträglicher, darunter ein Raucherclub, ein Philatelistenverein, ein Frauenplenum, gleich zwei dem Mandolinenspiel verpflichtete Orchester und der Bundestambourkorps Alte Kameraden 1922. An Zerstreuung fehlt es somit nicht, und das dürfte wesentlich dazu beitragen, dass trotz allem in Würselen heute eine Bevölkerungsdichte von 1133 Einwohner je Quadratkilometer herrscht.
Am westlichen Rand des Würselener Stadtgebiets fließt das Flüsschen Wurm; dieses verbindet Würselen mit der großen Welt, fließt es doch, aus Aachen kommend, in die Rur, die in die Maas fließt, die in den Rhein fließt, der zuletzt in den Atlantik fließt. Für Außenstehende mag sich das alberne Wortspiel „In Würselen ist der Wurm“ anbieten, was jedoch völlig daneben ist. Zum einen heißt es „Die Wurm“, zum anderen ist sie nicht, denn sie verweilt keinen Moment länger, als es ihr Gefälle zulässt. Auch hat der Name Wurm nichts mit dem gleichnamigen wirbellosen Tier zu tun, der leitet sich von den warmen Quellen in Aachen ab, die dem Gewässer zuarbeiten.
Das heutige Stadtbild von Würselen dürfte wesentlich dafür verantwortlich sein, dass der Ausdruck „schön wie Würselen“ noch nie schriftlich niedergelegt wurde, ja, ich behaupte, auch noch nie mündlich. Was man den Würselenern nicht gänzlich ankreiden darf, die Stadt befand sich im späten Verlauf des 2. Weltkriegs einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Man hat sich danach unverkennbar bemüht, das Beste aus der Situation zu machen, auch wenn „schön wie Würselen“ weiterhin zu den Formulierungen gehören wird, die man niemals und nirgends finden wird. Dafür stammt Häuptling ondulierte Silberlocke aus der Gemeinde. Jupp Derwall, einst Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft und noch heute verehrt bis hin nach Istanbul, wurde mit Wurmwasser getauft. Das lässt etwas leichter darüber hinweg sehen, dass ein Sänger namens „Der Graf“ einst in Würselen im Kirchenchor sang.
Man mag sich fragen: Warum lässt man diese so oft und heftig gebeutelte Stadt nicht einfach in Ruhe? Gibt es Würselen nicht überall, in Bebra, in Zwickau oder in Köln? Die Frage ist berechtigt, doch gibt es darauf eine unvermeidliche Antwort. Würselen taucht zunehmend häufiger in den Medien auf, und zwar immer dann, wenn es um den EU Parlamentspräsidenten Schulz geht. Denn der ist, so formuliert es Wikipedia diplomatisch, „langjährig mit Würselen verbunden“. Als habe Würselen nicht schon genug an der Backe. Ja, es stimmt, Schulz wirft tatsächlich auf die Stadt einen unschönen Schatten. Dort ging er zur Schule, dort war er nach eigener Einschätzung „ein Sausack und kein besonders angenehmer Schüler“, dort führte er eine Sortimentsbuchhandlung und trat der SPD bei, und dort war er 11 Jahre lang Bürgermeister. Alaaf! Und dort ist tatsächlich sein heutiger Wohnsitz. Und um die Sache abzurunden ist er Ehrenbürger der Stadt. Das alles zusammen ist tatsächlich eine schwere, vielleicht zu schwere Hypothek, und ob sich die Stadt Würselen davon jemals erholen wird, muss die Zeit zeigen. Zu wünschen ist es ihr.