In der Reihe Silvis Culture Club (76).
„Seien Sie vorsichtig mit Schnaps“, lautet ein Ratschlag aus einem kleinen roten Büchlein aus dem Jahr 1944. Es sind die „Instructions for British Servicemen“, ein Benimmbuch für britische Soldaten in Deutschland, das Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt hat (118 S., acht Euro). Wie sollte man mit den Deutschen umgehen? Was konnte man ihnen als Ausländer glauben? Die Alliierten mussten bei ihrem Einmarsch in das besiegte Nazi-Deutschland irgenwie mit den Einheimischen kommunizieren – und so ließ das britische Außenministerium 400.000 dieser Büchlein verteilen. Es ist ein Benimmbuch und der Versuch, ein wenig in die deutsche Seele zu blicken. Vergeltung sollte nicht geübt werden, aber man wollte sicherstellen, dass dieses Volk niemals wieder „Europa und die ganze Welt in Blut ertränke“. Und natürlich mussten die britischen Soldaten psychologisch gegen die deutsche Propaganda gestählt werden. Sie fanden in dem Büchlein eine Einführung in die deutsche Seele – vom Selbstmitleid bis zur angeblichen deutschen Neigung zu Hysterie, dem Hang zum Weihnachtsbaum und einen kleinen geschichtlichen Überblick.
Misstrauen hielt das britische Außenministerim immer und überall für angebracht, wichtig war, den Deutschen beizubringen, was Demokratie ist. „Im Umgang mit Deutschen immer streng und fair sein“, ist zu lesen. Aber auch „daran denken, dass jede vierte Person im Alter zwischen 15 und 41 Jahren mit Geschlechtskrankheiten infiziert ist.“ Da war es schlau, nicht allzu oft einen über den Durst zu trinken. „Seien Sie vorsichtig mit Schnaps“ war hierbei ein ebenso wertvoller Ratschlag wie „Nicht auf Geschichten politischer Schicksalsschläge hereinfallen“.
Weihnachtszeit ist Bücherzeit, hier folgen noch ein paar Lesetipps. Weiter nach Indien! Ein Land im Rausch des Wandels, der britische Schriftsteller Rana Dasgupta beschreibt in „Delhi. Im Rausch des Geldes“ (Verlag Suhrkamp, 462 Seiten, 24,95 Euro) seine Erlebnisse im Land seiner Ahnen. Er ist in Cambridge aufgewachsen und zog der Liebe wegen nach Delhi. Welch ein Glück für Indien-Fans! Das Buch ist eine Achterbahnfahrt durch eine Stadt, die niemals schläft- und das ist noch ihr kleinstes Problem. In Porträts vom Modedesigner bis zur Witwe, die ihren Mann aufgrund dubioser Behandlungsmethoden in einem Krankenhaus verlor, erfährt man ungemein viel von der Gesellschaft eines sich seit der 1990er-Jahre wandelnden Landes. Wer vor einem Vierteljahrhundert arm und Bauer war, lebt heute vielleicht in einem Appartment, das plötzlich Millionen wert ist. Die sogenannte „Mittelschicht“ macht nur etwa zehn Prozent aller Inder aus, aber sie führt praktisch Regie in einem Land, das auf der Suche nach seiner Zukunft ist. Rana Dasgupta erzählt vom Kastenwesen, von Bollywood, von hemmungslosen Politikern, von mächtigen Clans – jeder versucht, irgendwie einen Platz in der Gesellschaft zu ergattern. Der Autor führt uns durch eine chaotische, brutale, korrupte Stadt mit elf, vielleicht auch 16 Millionen Menschen und zwischendurch ist man ein bisschen froh, dass man nicht dort leben muss. Ein paar Seiten weiter möchte man dann doch wieder die Koffer packen. Auf nach Indien! Dasgupta schreibt: „Betrachtet man Delhi, sieht man die Symptome des globalen 21. Jahrhunderts in ihrer akutesten, am weitesten fortgeschrittenen Form. Hier wird deutlich, was für eine seltsame, beunruhigende Realität das ist, auf die wir uns alle zu bewegen.“
Verglichen mit Delhi ist Berlin ein harmloses Pflaster. Der Berliner Achse-Autor Gideon Böss hat seinen ersten Roman geschrieben und natürlich spielt er in Berlin, der tollsten Stadt der Welt. In „Die Nachhaltigen (Verlag Eichborn, 14,99 Euro) tauchen wir ab in eine Satire auf Menschen, die es einfach nur gut meinen, tagein, tagaus, immer nur gut. Das kann natürlich nicht gut gehen. Die einen kämpfen beherzt für Tierrechte, andere sehnen sich nach dem Kommunismus und nach dem achten Bier sind das in Berlin basisdemokratisch wichtige Argumente, um eine neue Partei zu gründen.
Sie heißt „Die Nachhaltigen“ und ihre Mitglieder sagen ganz laut Nein zu Schweineställen und Weizenfeldern. Aber in Berlin reißt das niemanden vom Hocker. Ein Skandal muss her! Skandal ist immer gut, die Menschen wollen wachgerüttelt werden. Der Berliner Schauspieler Joseph ist schwarz und das wird ihm zum Verhängnis, im soialkritischen Stück „Hitlertage“ wird er wegen seiner Hautfarbe für eine Rolle abgelehnt. Jett geht es rund, Bastian, der Autor und Regisseur, muss, verfolgt von den bösen Medien, untertauchen, der Stuttgart-21-Veteran Rüdiger liebt Lena (sie ist Öko-Aktivistin, was sonst?) und jeder versucht, sein Stückchen vom Kuchen abzubekommen, aber die Großstadt ist stärker. Siehe Delhi. Am Ende gewinnt immer die Stadt. Nie der Mensch.
Auch die Tiere haben kaum eine Chance in der Großstadt, außer sie laufen meinem Achse-Kollegen Michael Miersch über den Weg. Gemeinsam mit Claudia Bernhardt (Zeichnungen) hat er das wunderbare Buch „Zwischen Tieren“ (132 Seiten, 11,90 Euro, http://www.istprodukt.com) gemacht, es geht „flirtende Fische, lüsterne Lurche und verliebte Vögel.“ Erstaunliches liest man über die Orang Utans: „Die Hälfte der alten, und alle jüngeren, zwingen Weibchen zum Sex, wenn sich Gelegenheit dazu bietet. Wissenschaftler erklären diese ungewöhnlich hohe Rate mit der einsamen Lebensweise der rothaarigen Menschenaffen, die einzeln durch die Baumkronen der verbliebenen Regenwälder Borneos und Sumatras streifen. Begegnen sich zwei Fremde, gibt es keinerlei soziale Kontrolle durch Dritte.“ Huch. Das ist ja fast wie in Delhi oder Berlin.
Weiter zu den Silberfischchen. Die Sechsbeiner, die unter Zweibeinern eher als Schädlinge gelten (dabei ernähren sie sich vom Schimmel, den der achtlose Mensch in Küche oder Badezimmer entstehen lässt), haben eine raffinierte Art der Fortpflanzung: Die Männchen recherchieren die Wegstrecke der Weibchen und deponieren ein pyramidenförmiges Samenpaket, in das die Auserwählte stolpern soll. Sozusagen eine unfreiwillige künstliche Befruchtung. Der Vorteil: Sie erspart Kuscheln, Vorspiel und die Zigarette danach.
Ernüchterung herrscht bei der Lektüre von „Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“ (Verlag Piper, 224 Seiten, 24,99 Euro). „Was für eine witzige Idee“, dachte ich, als ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hielt. Leider bleibt die Ausführung weit hinter der Idee zurück. Autoren wie Tamara Bach, Franzobel, Arno Geiger, Norbert Gstrein oder Durs Grünbein erzählen in kurzen Texten, warum ihr Traumbuch dann doch nicht erschienen ist. Bei den meisten Büchern leuchtet es sowohl dem Autor als auch dem Leser ein. Dazu gibt es fiktive Cover, die so langweilig sind, dass einem die Füße einschlafen. Dafür, dass man vor Langeweile nicht wegkippt, sorgt der Geruch des Buches. Ich weiß nicht, wo und womit es gedruckt wurde, aber aus Sicherheitsgründen habe ich es zuerst auf dem Balkon deponiert (es stank auch noch nach Wochen!) und jetzt liegt es herum. Seltsam, sehr seltsam.
Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von www.good-stories.de