Gunter Weißgerber / 26.10.2016 / 20:00 / Foto: Tim Maxeiner / 12 / Seite ausdrucken

„Ich bin dann mal weg!“, meinte der Staat und machte sich aus dem Staub

Das klassische Völkerrecht kennt drei Merkmale des Staates: Eine Bevölkerung (Staatsvolk), einen geographisch abgrenzbaren Teil der Erdoberfläche (Staatsgebiet), eine stabile Regierung, die effektive Gewalt ausübt (Staatsgewalt).

Dies war der Wissensstand des Staatsvolkes der Bundesrepublik Deutschland bis zum 4. September 2015. Zusätzlich ging die Bevölkerung allgemein davon aus, dass die 2017 folgenden Bundestagswahlen eine Unionsmehrheit um 40 Prozent bringen würden. Die Union würde sich Partner unter der SPD, FDP und Grünen aussuchen können, wobei eine veränderte große Koalition die größte Wahrscheinlichkeit besaß. AfD und Pegida würden austrudeln und die Republik nicht vor nennenswerte Probleme stellen.

Was vor dem 4. Septmber 2015 geschah:

  • Die Flüchtlingslager im Nahen Osten wurden von der Weltgemeinschaft finanziell im Stich gelassen.
  • 19. April 2015: ein Schiff mit hunderten Flüchtlingen sinkt im Mittelmeer
  • 25. August 2015: Das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration setzt per Tweed das Dublin-Verfahren aus (Asylantrag jetzt überall und nicht mehr im Ankunftsland; der Bundestag zieht den Vorgang nicht an sich).
  • 27. August 2015: 71 Leichen in einem abgestellten Kühlwagen auf der Autobahn in Österreich
  • 31. August 2015: Frau Merkel: „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
  • 3. September 2015: Orban spricht von einem deutschen Problem, da die Flüchtlinge nur nach Deutschland wollen, was im Zusammenhang mit der überdurchschnittlichen Anreizen für Zuwanderer in Deutschland steht.

„Ich bin dann mal weg!“meinte der Staat und machte sich aus dem Staub

Dann kam der 4. September vorigen Jahres. Es war der Tag, an dem sich der Staat für mehrere Wochen verabschiedete, er war dann einfach mal weg.
Ich war an dem Abend  vom Donner gerührt. Nicht wegen einer menschlich verständlichen Geste der Bundeskanzlerin. Gerade vor dem Hintergrund  monatelangen shitstorms gegen die „Eisprinzessin“ in Berlin, die im Juni 2015 einem palästinensischem Mädchen vor laufender Kamera erklärte, Einzelfalllösungen als Bundeskanzlerin aus rechtsstaatlichen Gründen nicht versprechen zu können  – sie kann nur innerhalb der Gesetze der Bundesrepublik handeln – leuchtet ihre Anteilnahme, die Tore für mehrere Tausend sehr leidender Flüchtlinge in Budapest zu öffnen, ein.

Ich war aus einem anderen Grund erschrocken, einem grundsätzlich ordnungspolitischen. Es war nicht etwa eine Nachbarin, die die Grenzen aus Erbarmen öffnen wollte, es war die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, die die Interessen Deutschlands zu vertreten und die der EU mit zu vertreten hat. Darunter fallen nicht nur alle Gesetze und Verordnungen, darunter fällt auch die Einhaltung internationaler Verträge und Regelungen. Nur der Gesetzgeber ist in der parlamentarisch verfassten Bundesrepublik befugt, diesbezügliche Spielräume frei zu geben.

In der Bundesrepublik bestand am 4. September keine innere Notstandssituation. Wohl aber gerieten die Bundesrepublik und die EU infolge der nicht demokratisch legitimierten Entscheidung einer einzelnen Frau in eine Situation, die zeitweise den Gedanken an staatlichen Notstand aufkommen ließ. Dies am 4. September 2015 ahnend, war ich perplex. Merkel machte den Schabowski. Sie waltete nicht ihres demokratisch mandatierten Amtes.  Sie handelte in eigener Machtbefugnis. Eine Befugnis, die für das Amt der Bundeskanzlerin im Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Das Bundeskanzleramt ist nicht das Politbüro der SED.

Kein Willy Brandt, kein Helmut Schmidt, kein Helmut Kohl, kein Gerhard Schröder hätte die Tore ohne Rücksprache mit dem Parlament und den europäischen Partnern geöffnet. Nicht im Traume wäre denen das eingefallen. Damit meine ich nicht, dass die Abgeordneten sich dem Anliegen vielleicht verweigert hätten. Nein, aber sie hätten ein geordnetes Verfahren mit Ziel, Beginn und Ende der Aktion inklusive der Konsultation mit den europäischen Partnern beschlossen und der Regierung auf den Weg gegeben.

Die grenzenlose Schlichtheit der Frau Göring-Eckardt

Auch Frau Merkel hätte die Tore nicht geöffnet, würde sie eine kleine Koalition mit der FDP anführen. Weil sie gewusst hätte, bei allem Verständnis für die humane Geste, die Oppositionspartei SPD hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auf die Einhaltung unserer rechtsstaatlichen Regeln zu achten. Umgekehrt hätte es sich ein SPD-Kanzler ebenfalls nicht gewagt, ohne Rückfrage beim Parlament, die Tore auf diese Weise und dann noch unbefristet zu öffnen. Auch in diesem Fall wäre die Gegenwehr der Union in der Opposition fulminant gewesen.

Somit lief es im vorigen Jahr parlamentarisch regelrecht jämmerlich ab. Merkel beschloss, Gabriel duldete und der gesamte Bundestag duckte sich weg. Die Einen duckten, weil sie Merkel schützen wollten (obwohl sie mit dem Öffnen fremdelten), die Anderen in der Regierung duckten, weil sie Merkels Öffnung im Herzen richtig fanden und die ganz Anderen, weil sie ohnehin ein ganz anderes multikulturelles sozialistisches Biotop statt dieser Bundesrepublik anstreben.

Und wenn wir schon mal bei Grenzen bzw. bei Grenzenlosígkeit sind: Die grenzenlose Schlichtheit, mit der die gute Grüne Frau Göring-Eckardt schwurbelte, wir sollen uns doch freuen, weil Deutschland jetzt religiöser werden würde, ist schwer an Niveau zu unterbieten. Was, wie religiös? Wie Johann Tetzel? Wie Martin Luther? Wie Hamed Abdel-Samad? Oder wie der Islamische Staat? Das hätte ich schon gern gewußt! Aus derselben Schublade freute sich die Gutste, dass uns Menschen geschenkt würden! Wie schlicht ist denn das? Sind diese Menschen hilflose Flüchtlinge? Sind diese Menschen lernwillige Zuwanderer? Sind unter diesen Menschen ganz Böse, die uns nichts Gutes wollen? Wer schenkt denn überhaupt Menschen? Was ist das für ein Bild? Mir graust es vor so viel irrealem Spinnen in der Bundesliga der grünen Politik.

Eine stinknormale kleine Koalition hätte für diese einsame Entscheidung schon längst einen Untersuchungsausschuss am Hals. Mit dieser These werfe ich meine gesamte Bundestagserfahrung in die Lostrommel.

Ein Parlament, welches die eigenen Angelegenheiten nicht wahrnimmt, entledigt sich der Grundlage seiner Akzeptanz im Wahlvolk. Nicht die 7000 Flüchtlinge haben uns und die EU in Gefahr gebracht, die unbefristete, ungeahndete scheinbare Gesetzlosigkeit bis in den Januar 2016 mit Millionen Zuwandern  ließ die gesamte EU wanken. Wurde die eigenmächtig handelnde Angela Merkel zunehmend der ertrinkende  Zauberlehrling, so erwuchs mit dem Spezialdemokraten Viktor Orban ein Dammbauer, der die EU vor Totalerosion bewahrte. Nicht auszudenken, die Zuwanderer wären nach dem Januar 2016  weiterhin in so gewaltiger Zahl nach Deutschland gekommen.

Ein kleiner Exkurs in die Zuwanderungsdiskussion 1982

Im Spiegel 16/1982 plädierte der linke Sozialdemokrat Martin Neuffer („Die Erde wächst nicht mit“) dafür, die Einwanderung von Türken in die Bundesrepublik „scharf“ zu drosseln und auch das Asylrecht „drastisch auf Europäer zu beschränken.

„Ethnische Gruppenkonflikte in Ländern mit großen, nichtintegrierten Einwanderungsbevölkerungen können sich über generationenlange Zeiträume hinziehen und zu einer ständigen Quelle von Unstabilität und Unfrieden werden. So muss mit aller Deutlichkeit formuliert werden: Ganze Bevölkerungsteile in Länder anderer Kulturbereiche umzusiedeln, ist kein tauglicher Weg für die Lösung des Überbevölkerungsproblems der Wachstumsländer.“

Neuffer und andere kluge Leute setzten sich bekanntlich nicht durch. Der damals eingeforderten Weichenstellung nachzuweinen ist sinnlos. Wir leben im Hier und Heute und müssen heute sehen, wie wir unsere Probleme lösen. Allenfalls ist der Umstand interessant, dass es mit Neuffer ein linker Sozi war, der etwas empfahl, wofür 28 Jahre später der rechte Sozi Sarrazin aus der Zivilisation entlassen werden sollte.

Wobei, das habe ich jetzt eindeutig falsch formuliert. Sarrazin will in seinem Langweiler „Deutschland schafft sich ab“ keinen einzigen Türken seiner nunmehr deutschen Heimat verweisen. Ihm ging es nur darum, die abgeschottete Community zu öffnen und dies vor allem über Bildung zu versuchen. Dieser Gegensatz zwischen dem, was 1982 ein linker Sozialdemokrat ungerupft vorschlagen konnte und dem was ein rechter Sozialdemokrat 2010 in viel milderer Form skizzierte und mit Exkommunikation bezahlte ist gespenstisch und wirft ein belämmertes Bild auf unsere hermetisch abgeschlossen wirkende Diskussionskultur.  Dabei ist das Hermetische nicht von oben per Verordnung angewiesen. Das ist das eigentlich Erstaunliche. Es braucht weder Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und Stasi. Ein ordentlicher shitstorm im deutschen Feuilleton genügt und nur ganz mutige oder ganz schräge Typen wagen Widerspruch.

Was unterscheidet „Willkommenskultur“ von einem Reisebüro-Slogan „Visit Europe“?

Was unterscheidet den Begriff „Willkommenskultur“ von einem Reisebüro-Slogan „Visit Europe!“? Nichts, überhaupt nichts! Und wenn dann ein Selfie mit der Bundeskanzlerin hinzu kommt, dann wird geradezu ein Ruf „Bitte kommt doch!“ daraus. Soviel zur psychologischen weltweiten Wirkung gerade des Selfies, welches mit Sicherheit so nicht von Frau Merkel beabsichtigt war. Was soll’s? Die Wirkung war so und es kamen bis Ende Januar 2016 Millionen völlig unregistriert in die EU und wer diese astronomische Unverantwortlichkeit zaghaft beim Namen nannte, wurde öffentlich in die Nachfahren der NS-Schergen eingeordnet. Deutschland ist hysterisch und gehört auf die Couch.

Dazu habe ich Folgendes bei Richard Schröder geklaut:

„Zwischen Auswanderung und Einwanderung besteht eine Asymmetrie, die namentlich aufgrund der deutsch-deutschen Erfahrungen leicht übersehen wird.

Es ist ein Menschenrecht, dass jeder (straf- und schuldenfreie) Einwohner sein Heimatland verlassen darf. Es gibt aber kein Menschenrecht auf Einwanderung, schon gar nicht in das Land meiner Wahl. D.h. der Staat darf seinen Bürgern das Weggehen nicht prinzipiell verbieten. Aber kein Staat ist gezwungen, jeden, der kommen will, aufzunehmen. Die besonders beliebten Wanderungsziele, nämlich Staaten, die wohlverwaltet, rechtssicher, freiheitlich und finanziell gut ausgestattet sind, könnten bei völlig ungeordnetem Massenzuzug diese Vorzüge schnell verlieren und im Chaos versinken.

Die Dinge liegen beim Staatsgebiet so ähnlich wie bei der Wohnung. Niemand darf mich zwingen, dauerhaft meine Wohnung nicht zu verlassen. Das wäre entweder Hausarrest, also eine Strafe, oder Quarantäne, also der befristete Schutz der Allgemeinheit vor meiner extrem gefährlichen Krankheit. Aber ohne meine Erlaubnis darf sich niemand in meiner Wohnung niederlassen, er darf sie nicht einmal ohne meine Zustimmung betreten – außer Polizei und Feuerwehr. Sonst wäre das Hausfriedensbruch und strafbar.

„Menschenrecht“ heißt hier: das Recht auszuwandern ist sozusagen angeboren, aber auch zum positiven Recht geworden in denjenigen Staaten, die den entsprechenden UN-Konventionen beigetreten und sie zum innerstaatlichen Recht erklärt haben. Das Recht einzuwandern muss dagegen verliehen werden, und zwar von den Vertretern der dortigen Staatsbürger. …

Manche lehnen alle Zugangsrestriktionen an den Grenzen Europas oder Deutschlands als inhuman ab und reden mit Abscheu von der „Festung Europa“, die es zu vermeiden gelte. Denen muss entgegnet werden: uneingeschränkt offene Grenzen und Sozialstaat schließen einander aus. … Das Recht auf Asyl ist im Grundgesetz als Grundrecht deklariert und deshalb in seinem Wesensgehalt geschützt (Art. 19 (2)). Der Wesensgehalt kann auch nicht durch verfassungs­ändernde Mehrheit angetastet werden, sondern nur durch eine neue Verfassung. Es handelt sich um ein individuelles Grundrecht für alle, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen, aber irgendwo auf der Welt politisch verfolgt werden. Ein Grundrecht für alle politisch verfolgten Nicht-Deutschen in der Welt, dies dürfte ein unicum in der Welt sein. …

Es liegt im Wesen jeden Grundrechts, dass es für seine Wahrnehmung keine Obergrenze dergestalt geben kann, dass jährlich nur eine festgesetzte Anzahl von Personen von diesem Grundrecht Gebrauch machen darf. Das heißt aber nicht, dass jeder, der „Asyl“ ruft, in Deutschland auch muss einreisen dürfen. Das Grundrecht auf Asyl kommt nur den tatsächlich Verfolgten zu und nicht jedem, der es beansprucht.   ….

Von jedem, der in Deutschland leben will, egal unter welchem Rechtstitel, müssen wir uneingeschränkt zweierlei verlangen, nämlich die Anerkennung unserer Rechtsordnung und namentlich des Grundgesetzes und das Bemühen um Deutschkenntnisse. Ein drittes Feld sind unsere Üblichkeiten oder, etwas hochtrabend, unsere Alltagskultur. Man sollte sich Heilig Abend auf der Straße nicht so verhalten wie zu Silvester, das käme nicht gut an usw. Wir sollten nicht so tun, als wenn es solche Üblichkeiten gar nicht gäbe. Der Ausdruck „Leitkultur“ klingt mir etwas bombastisch, betont aber zu Recht, dass von denen, die zu uns kommen und bei uns bleiben wollen, mehr verlangt wird als die Anerkennung des Grundgesetzes. …

Den Bedarf an Arbeitskräften durch unregulierte Flüchtlingsströme statt durch regulierte Einwanderung regeln zu wollen ist ein Formenmissbrauch. Dazu ist der Flüchtlingsschutz nicht da. Es ist aber auch die denkbar teuerste Weise, Arbeitskräfte zu gewinnen und insofern ökonomisch absurd, weil viele Flüchtlinge Analphabeten sind, sehr viele keine Berufsausbildung haben oder ihre bisherige Berufstätigkeit, etwa als Kleinbauern aus Afghanistan, unter hiesigen Bedingungen gar nicht ausüben können. Wir müssen diejenigen, die bei uns bleiben, in Lohn und Brot bringen, aber um ihrer selbst willen und um des gesellschaftlichen Friedens willen, nicht um von ihnen Vorteile zu erlangen. ...

Dass die Gesellschaft durch Zuwanderung bunter werde, ist wohl nicht unbedingt falsch, übertönt aber, dass sie außerdem auch konfliktreicher wird, weil starke Zuwanderung bei vielen Ängste auslöst und Fremdenfeindlichkeit fördert und zudem die Zuwanderer verschiedenster Herkunft (es handelt sich ja nicht um eine einheitliche Volksgruppe, wie seinerzeit die Hugenotten oder die Sudetendeutschen) massenhaft hartes Konfliktpotential mitbringen. Ausländer sind für andere Ausländer nämlich auch Ausländer. Und die mögen sich nicht immer, wie bei Türken und (türkischen) Kurden schon lange bekannt. …   

Also: bitte klaren Kopf behalten, dann werden wir auch diese Herausforderungen meistern.“  

Etwas Existenzielles war ins Rutschen gekommen

Wann Frau Merkel und die Bundesregierung rochen, dass sie da was ins Rutschen gebracht haben, vermag ich nicht zu sagen. In der Woche nach dem  4. September 2015 kann das noch nicht so gewesen sein. Die Bundeskanzlerin wehrte sich unter dem imposanten Druck des Chors der Schmeichler gegen Grenzkontrollen, die ihr Innenminister mit Ablauf der ersten Woche einführen wollte und ihr Stellvertreter Gabriel meinte in den ersten Tagen, jedes Jahr 500 000 Flüchtlinge würden kein Problem sein.

Dies sagte er einmal und dann nie wieder. Er merkte eher als Frau Merkel, dass da was Existenzielles ins Rutschen kam und wieder reingeholt werden musste. Der Bundeswirtschaftsminister war deshalb der erste, der darauf drang die Mittel in Relation zu den bestehenden inneren sozialen Notwendigkeiten zu bewilligen. Das Staatsvolk muss mitgenommen werden.

Sigmar Gabriel sagte im Sommer vorigen Jahres noch etwas, was ihm von Rechtsaußen schwer verübelt wird und absolut richtig war. Diejenigen, die in Heidenau die Jagd auf Flüchtlinge befeuerten, benahmen sich wie Pack und das muss gesagt werden. Wer nach Deutschland kommt, muss anständig behandelt werden und wenn sein Antrag berechtigt ist, muss er/sie auch die Chancen bekommen, die unsere Gesellschaft auf der Grundlage unserer Hausordnung bietet. Und wessen Antrag unbegründet ist, der/die muss diese EU wieder verlassen. Punkt.

Das wiedereinsetzende Handeln der Bundesregierung

  • 13. September 2015: Deutschland führt angeblich Grenzkontrollen wieder ein. Faktisch wird monatelang durchgewunken.
  • 22. September 2015: Die EU beschließt die Umverteilung von 120.000 Asylbewerbern, was gegen die Stimmen von Ungarn, Tschechien, Rumänien und der Slowakei stattfindet. Die Visegradstaaten haben osmanische Besatzungserfahrungen und werden dieses Verfahren nicht mittragen.
  • 23.10. 2015: Asylpaket I (Residenzpflicht auf sechs Monate; neue sichere Herkunftsstaaten; Leistungskürzungen bei Verstößen; Abschiebungen ohne Ankündigung).
  • 24. Februar 2016: Die Länder der Balkan-Route schließen ihre Grenzen.
  • 25.Februar 2016: Asylpaket II (Beschleunigung der Verfahren, kein Familiennachzug).
  • 18. März 2016: Der EU-Gipfel stimmt dem EU-Türkei-Abkommen zu und bindet die autoritäre Türkei faktisch als Subunternehmen für die innereuropäische Sicherheit statt die Schengengrenzen selbst zu kontrollieren – dies wäre lächerlich, wenn es nicht so ernst für uns alle wäre.

Die aktuellen Zahlen der Bundesregierung: 2015: 1,1 Millionen – die Zahl zweifle ich an, eine völlig unbekannte Zahl drang unregistriert ein 2016: Frank Weise rechnet mit 300.000 Flüchtlingen, was in Summe 2015/16 mindestens 1,4 Mio. ergibt. 22.09.2016: 550.000 abgelehnte Asylbewerber. Sehen wir uns die Daten genau und unvoreingenommen an, kann der Vorwurf monatelangen Wegbleibens staatlicher Handlungen nicht stehen bleiben. Das Asylpaket 1  stand Ende Oktober 2015, das Paket 2 Ende Februar 2016. Dies sind relativ schnelle Handlungen gewesen und in Verbindung mit dem fatalen Türkeideal kann der Vorwurf sachlich nicht gehalten werden, zu lange untätig gewesen zu sein.

Mein Vorwurf geht in eine andere Richtung. Die Reisebüroeinladung wurde nicht zurückgenommen und den Deutschen  wurde weiter was von Friede, Freude, Eierkuchen und „Wir schaffen das“ erzählt und im Verborgenen wurde sozusagen an der weltweit wirkenden tragischen Einladung vorbei , doch an den Restriktionen geschraubt. Ja, nur das Gesicht wahren, egal  was es an Erosion und Geld kostet. Dieses theatralische Verhalten bewirkte den gefühlten Effekt des hilflosen Nichtstuns seitens der Regierung. Dieses Versagen kritisiere ich. Der Welt was vormachen, den eigenen Laden riskieren und auf die Drecksarbeit der Ungarn, Balkanländer der Türkei setzen. Viel unehrlicher geht wohl kaum. Was den mittelosteuropäischen Visegradstaaten übel genommen wird, wird den nordwestlichen Skandinaviern und Franzosen kritiklos in der EU durchgelassen. Auch das merkt das blöde Wahlvolk und orientiert sich in Teilen neu.

Aus dem Schlamassel wollen wir doch aber alle wieder herauskommen, oder?

Wir schaffen das! Was schaffen wir? Was wollen wir schaffen? Ich nehme an, Frau Merkel meint mit „Wir schaffen das!“, dass diese Bundesrepublik die Flüchtlingskrise irgendwie meistert und sich die EU wieder erholen wird. Okay, das sehe ich auch so. Meine Volksvertreter im Bundestag wurden zwar bei der Demolierung internationaler Vereinbarungen nicht gefragt, aus dem Schlamassel wollen wir doch aber alle wieder herauskommen, oder? Die Republik wurde jedenfalls verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten, dies wird die Zeit zeigen.

Ob jedoch speziell die Union dies alles politisch komfortabel überleben wird, dies bezweifle ich sehr. Im Moment rutscht die Union rasant an der SPD, die sich scheinbar inmitten von Grünen und Linksaußen zwischen 20 und 25 Prozent eingerichtet hat, nach unten vorbei. So der Eindruck der letzten Wahlen in Meckpomm und Berlin. Und denke ich an den nicht ernst zu nehmenden Schönredner Laschet und die kommende NRW-Wahl, dann bin ich geneigt, die CDU besser mit Kritik in Ruhe zu lassen. Der Totalausfall der CDU würde diese Republik statisch aushebeln.

Genosse „Spitzbart, Bauch und Brille“ prägte vor Jahrzehnten den Evergreen „Überholen ohne Einzuholen“, so oder ähnlich dürften sich derzeit viele Christdemokraten fühlen. Mein Mitgefühl für die CDU ist hier sehr gebremst, meine Sorgen um diesen Staat sind in Anbetracht der Schwäche von Union und meiner SPD erheblich.

Zurück zum „Wir schaffen das!“, natürlich schafft dies die Bundesrepublik Deutschland und vor allem die Zivilgesellschaft. Doch nur, wenn die richtigen Schlüsse gezogen werden:

  • Schutz und Kontrolle der Schengenaußengrenzen!
  • Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts ((GG-Formulierung 1949) in Anlehnung der Leistungs- und Aufnahmefähigkeit ausrichten!
  •  Einwanderungsgesetz analog dem der USA, Kanada, Australien – also egoistisch und nicht freigiebig beschließen!
  • unsere Hausordnung ist das Grundgesetz und keine Religion steht darüber!
  • Abschaffung doppelte Staatsbürgerschaft. Es kann nur eine Loyalität geben!
  • Wiederfinanzierung der Flüchtlingslager.
  •  Rücknahmeabkommen mit den Mittelmeeranrainerstaaten.

2015 wurde der Pakt Demokratischer Staat - Bürger gebrochen. Dieser Pakt fußt u.a.  auf der staatlichen Garantie auf Sicherheit und Stabilität. Für diese Garantie gibt das Staatsvolk seine Loyalität an den Staat zurück. Ein Staat, der wochenlang nicht anwesend scheint und zugibt, dass die Grenzen des Staatsgebietes nicht zu sichern sind, der hat das Vertrauensfundament seiner Bürger perforiert. Zumal im Osten der Bundesrepublik historisch vor kurzem ein waffenstarrender Staat sang- und klanglos unterging. Obgleich das von Vielen so gewollt war, ein dramatisches Lebensereignis war es dennoch. Staaten können untergehen. Ganz einfach und schnell. Die Ostdeutschen wissen das.

Die Nachwirkungen der sozusagen regierungsamtlich verursachten Erosion von 2015/16 können wir heute nur ahnen und in den Wahlergebnissen der AfD ablesen, spüren werden wir sie später noch viel stärker. Die politische Bewährungsprobe steht uns noch bevor.

Etwas gibt mir Zuversicht. Die gefühlten Mehrheiten in der Zivilgesellschaft sind zum Glück eindeutig: Pegida bringt nur einen Bruchteil von Antipegida auf die Straßen – wenn es um die anständige Behandlung von Menschen geht, die zu uns gekommen sind. Die Frage, ob der ganze Globus kommen soll, wird anders beantwortet. Doch das ist nicht Pegida, das ist gesunder Menschenverstand. Und wenn ich an das ehrenamtliche Engagement von Hunderttausenden Mitbürgern seit 2015 denke, dann wird mir nicht bang um diese Bundesrepublik. Wir sind nicht Weimar.

Nachbemerkung zu „Fluchtursachen bekämpfen“

Es ist immer wieder eine wohlfeile Forderung, die Fluchtursachen zu bekämpfen und dem Westen damit den „Schwarzen Peter“ zuzuschieben. Am besten gleich den Amerikanern alle Schuld der Welt aufladen. So läuft das aber nicht. Zum Syrieneinsatz wurde Obama regelrecht gezwungen. Er zog „Rote Linien“ und liess diese immer wieder durch Assad überschreiten. Der Schlächter Assad (und der IS) wären längst erledigt. Putins militärisches Eingreifen führte zu Assads Wiederbelebung und diese dramatische Kriegssteigerung wirkte wie ein Schraubstock auf die Syrer. Mit Putins Angriffen in Syrien schwoll der Flüchtlingsstrom exorbitant an. Erst dann kam der 4. September 2015.

Der Autor dieses Beitrages, Gunter Weißgerber, ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD (1990 - 2009) und gehörte in der DDR zu den Leipziger Gründungsmitgliedern der Partei.

Dieser Text beruht auf einem Vortrag, der vom Autor vor dem Rotary-Club Leipzig anlässlich von einem Jahr "Wir schaffen das" gehalten wurde.

Foto: Tim Maxeiner

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Andreas Rochow / 28.10.2016

Ja, Herr Weißgerber, die Seiten des Geschichtsbuches sollten die Aspekte des Saatsversagens, des Rechtsbruches und des Aussetzens demokratischer Entscheidungen nicht verschweigen, sondern herausarbeiten, wie Sie das in Ihrer wunderbaren Rede getan haben. Danke für das minutiöse Protokoll der Etappen dieser epochalen Ereignisse. Beim Thema des erst übergangenen, dann moralisch übertölpelten (“humanitärer Imperativ”, “Kein Mensch ist illegal”) Parlaments frage ich mich, ob Sie persönlich die Möglichkeiten gehabt und genutzt hätten, gegen Merkels diktatorischen Weg vorzugehen, wenn Sie noch im Bundestag gewesen wären. Die Ziele von Frau Merkel - darin stimme ich mit Ihnen nicht überein - sind möglicherweise schlimmer als sie in den ärgsten Befürchtungen ihrer Kritiker beschrieben werden. Diese Frau weiß, was sie tut, und erhält dafür aus (fast) allen Parteien Applaus. Ihre exzentrischen Berater üben auf das Land einen bedrohlich enthemmten Einfluss aus. Wenn ihre Kritiker nicht mehr zu vernehmen sind oder ganz verstummen, hat sie einen wichtigen Teil ihres Ziels erreicht.

Richard Dawson / 27.10.2016

As the Canadian commentator, Mark Steyn, observed, ” You can take the girl out of the DDR but not the DDR out of the girl.

Siegfried Duscha / 27.10.2016

Wer die Handlungsweise eines US Präsidenten annähernd verstehen möchte dem sei die Lektüre von Zbingniew Brezenski” Die EinzigeWeltmacht Amerika” zu Weihnachten unter den Baum gelegt. Mit Sicherheit versteht der geneigte Leser dann auch das Katz und Mausspiel, hier “rote Linie” genannt, unter dem Millionen unschuldige leiden.

Rainer Wolski / 27.10.2016

Der Text ist super, aber diese Aussage stimmt nicht: “Mit Putins Angriffen in Syrien schwoll der Flüchtlingsstrom exorbitant an. Erst dann kam der 4. September 2015” Die Angriffe begannen am 30. September 2015, nachdem die Aktion “Assad Soldaten entziehen” erfolgreich angelaufen war und die jungen Männer auf dem Wg nach Europa waren. Rainer Wolski

Brett Sinclair / 27.10.2016

Am Anfang ist der Artikel noch gut, am Ende kommt die Desinformation im Sinne Merkels. Russland hat erst Ende September (lt. Tagesspiegel exakt am 30.09.2015) angefangen in Syrien einzugreifen und nicht bereits vor der Eigenermächtigung von Merkel. Auch darüber, ob Obama zum Eingreifen gezwungen wurde oder ob die Auseinandersetzungen in Teilen Syriens (in anderen Teilen lässt sich wohl noch ganz gut leben) durch die Versäumnisse (Laufenlassen des Aufstands in u.a. Ägypten) bzw. das aktive Eingreifen zu Gunsten der Aufständischen (z.B. in Lybien) durch den Anführer der westlichen Welt selbst verursacht wurde,  lässt sich streiten.

sigmund sauer / 27.10.2016

Nur Diktatoren und Autokraten können es sich leisten Gesetze zu übergehen oder nach Belieben an jeglicher Parlamentarischer Kontrolle vorbei auszusetzen. Was im September 2015 geschah war faktisch ein Putsch. Spätestens seit diesem Datum sollte Jedem klar sein, dass wir in einer Demokratiesimulation leben. Die einzige Entschuldigung der Kanzlerdarstellerin und der anderen Politikdarsteller sind ihre “guten” Absichten. Um es mit Shakespeare (Heinrich V.) auszudrücken: “In jedem Ding muß die Absicht mit der Torheit auf die Wagschale gelegt werden”.  

Roman Schreiber / 27.10.2016

Lieber Herr Weißgerber, zunächst einmal Danke für Ihre übersichtliche Synopse. Ich fand viele Informationen, die mein Verständnis der “Flüchtlingskrise” vertieften. Doch dann schreiben Sie am Schluss: “Zum Syrieneinsatz wurde Obama regelrecht gezwungen”. Neben den vielen richtigen und gut verknüpften und belegten Fakten empfinde ich diese Aussage als irritierend. Die USA haben den Konflikt in Syrien mit vom Zaun gebrochen durch Waffenlieferungen und Unterstützung von “Rebellen”. Die gleichen Fanatiker heißen beim Sturz auf Mossul “IS”. So berichten ARD und ZDF jetzt und heute. Zu Recht prangern sie die bodenlose Heuchelei und destruktive Untätigkeit der Bundesregierung an. Die USA sollen aber nicht kritisiert werden für ihre “roten Linien”, die sie so definierten, dass sie einer Abschaffung der Regierungshoheit gleichkommen. Das alles ohne jegliches UNO- Mandat. Ich frage mich, warum Sie hier mit zweierlei Maß messen. Mit freundichem Gruß

David Wölting / 27.10.2016

Verdammt guter Artikel. Mir gefällt die sachliche Herangehensweise an das Thema, insbesondere der schöne Ausgleich zwischen der Analyse des Vergangenen, des präzisen Herausarbeitens der wesentlichen Punkte (belegt mit Fakten) und dem Blick nach vorne. Es ist auch mal interessant etwas von jemandem zu lesen, der mal mittendrin im Spiel war (Bundestagsabgeordneter). Dafür empfinde ich den Beitrag überraschend und angenehm neutral. Vielen Dank dafür!

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