Gastautor / 16.07.2012 / 17:10 / 0 / Seite ausdrucken

Gutmenschen und andere Monster

Eran Yardeni

Gutmenschentum verstehe ich als eine akute moralische Störung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Betroffenen der Realität durch pseudo-moralische Argumente entkommen. Von gesellschaftlicher moralischer Störung kann die Rede sein, wenn ein Kollektiv seinen bürgerlichen Selbsterhaltungstrieb preisgibt, vor allem um dadurch moralische Defizite in seiner Vergangenheit zu kompensieren. Nicht selten mündet diese Störung in einen geistigen und moralischen Suizid, dem ein totaler Identitätsverlust vorausgeht. Verbreitet ist das Gutmenschentum vor allem in demokratischen Gesellschaften im Mittel- und Nordeuropa. In Deutschland und Schweden nahm es in den letzten Jahrzehnten epidemische Ausmaße an.
 
Die Jury, die das Wort „Gutmensch“ als „weiteres Unwort des Jahres 2011“ auserwählt hat, versteht diesen Begriff ein wenig anders. Folgendes ist ihre Begründung:

„Mit dem Ausdruck Gutmensch wird insbesondere in Internet-Foren das ethische Ideal des ‘guten Menschen’ in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren. Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck ‘Wutbürger’ widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck Gutmensch Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaftlicher Wertorientierungen in rationaler Diskussion gehören. Der Ausdruck wird schon seit 20 Jahren in der hier gerügten Weise benutzt.“

Diese Begründung ist mehr als bedenklich. Die Tatsache, dass sie aus der Feder intelligenter Leute stammt, die akademische Titel wie Dr. oder Prof. Dr. führen, macht alles nur schlimmer. Lassen Sie uns aber am Anfang beginnen:

Liebe Jury, mit dem Ausdruck „Gutmensch“ wird nicht das Ideal des „guten Menschen“ in hämischer Weise kritisiert, sondern seine Entstellung durch das Gutmenschentum. Man benutzt diesen Ausdruck nicht einfach um „Andersdenkende zu diffamieren“, sondern um Falschdenkende zu kritisieren und zwar nicht pauschal und „ohne Ansehung ihrer Argumente“, sondern genau durch einen kritischen Umgang mit ihren Argumenten. Ihre Argumente werden nicht als naiv abqualifiziert – sie sind einfach naiv. Das politische Handeln im demokratischen Raum wird durch die Kritik des Gutmenschentums seiner ethischen Basis nicht beraubt, im Gegenteil: Sie bekommet eine stabile ethische Basis. Und noch etwas:

Mit Ihrer Begründung, behaupten Sie, direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, dass das „Gutmenschentum“ als kritisierte moralische Position überhaupt nicht existiert. Es ist angeblich nur ein Ausdruck, den man verwendet, um das ethische Ideal des guten Menschen zu diffamieren. Mit anderen Worten: Für Sie, liebe Jury, ist der Ausdruck „Gutmensch“, egal ob als Prädikat oder als Nomen, mehr oder weniger wie der Ausdruck „Monster“. Man benutzt ihn um andere Menschen zu beleidigen, eigentlich aber existiert er nicht.

Liebe Jury, die Gutmenschen sind tragisch-komische Figuren, die im Namen der Moral die schlimmsten Missetaten der Menschheit psychologisieren, relativieren, dulden und in Extremfällen sogar rechtfertigen. Sie sind nicht böse, sondern einfach verwirrt. Was sie zu Gutmenschen macht, ist nicht nur ihr unerschütterter Glaube an die gute Natur des Menschen und die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, sondern dass sie durch ihre moralische Position über sich selbst etwas sagen wollen: dass sie gute Menschen sind.

Es geht um kultivierte Menschen, die kulturell völlig abgeschnitten leben. Der Abstand von der alltäglichen Realität verleitet sie dazu, für Andere eine Welt zu schaffen, in der sie selbst nicht leben müssen.

Und noch etwas, liebe Jury: In welcher Phase des akademischen Werdegangs bricht die geistige Elite ihren Kontakt mit der Realität endgültig ab? Und warum? Ist es eine Art von Protest, den nur die Kenner und die „Zeit“-Abonnenten verstehen? Zu wenig Sonnenlicht? Umweltverschmutzung? Klimakatastrophe? 

Für das Unwort des Jahres 2012 schlage ich das Wort „Unwort“ vor.     

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 31.03.2024 / 12:00 / 5

Der Bücher-Gärtner: Warum die Giraffe nicht ohmächtig wird

Von Edgar L. Gärtner. Dieses Buch erzählt Geschichten von kleinen und großen Tieren von Seepferdchen bis zu Elefanten und Narwalen, in denen sich manchmal jahrtausendealte…/ mehr

Gastautor / 24.03.2024 / 10:00 / 48

Kunterbunt in die Katastrophe

Von Florian Friedman. So ziellos er auch mittlerweile durch die Geschichte stolpert, auf eine Gewissheit kann der Westen sich noch einigen: Unser aller Erlösung liegt…/ mehr

Gastautor / 18.02.2024 / 10:00 / 30

Die rituale Demokratie

Von Florian Friedman. Letzter Check: Die Kokosnussschalen sitzen perfekt auf den Ohren, die Landebahn erstrahlt unter Fackeln, als wäre es Tag – alle Antennen gen…/ mehr

Gastautor / 07.01.2024 / 11:00 / 18

Was hat das ultraorthodoxe Judentum mit Greta zu tun?

Von Sandro Serafin. Gehen Sie einfach mit dem Publizisten Tuvia Tenenbom auf eine kleine Reise in die Welt der Gottesfürchtigen und nähern sich Schritt für…/ mehr

Gastautor / 17.12.2023 / 11:00 / 18

Ist auch der PEN Berlin eine Bratwurstbude?

Von Thomas Schmid. Am vergangenen Wochenende trafen sich die Mitglieder des im Sommer 2022 gegründeten PEN Berlin zu ihrem ersten Jahreskongress im Festsaal Kreuzberg. Die…/ mehr

Gastautor / 17.10.2023 / 11:00 / 20

Wokes „Voice“-Referendum: Warum die Australier Nein sagten

Von Hans Peter Dietz. In Australien ist ein Referendum, das die Bildung einer nicht gewählten Nebenregierung aus Ureinwohnern ("Indigenous Voice to Government") vorsah, an einer…/ mehr

Gastautor / 20.08.2023 / 12:00 / 23

Zen und ein Blick zurück nach Deutschland

Von Bernd Hoenig. Mit seiner Einzigartigkeit eröffnet mir Japan eine so überragende Lebensqualität, wie ich sie nirgends sonst fand. Was ich aus Deutschland höre und was…/ mehr

Gastautor / 07.08.2023 / 14:00 / 80

Brennpunkt-Schulen: Ein Lehrer klagt an

Von Rafael Castro. Als Berliner Lehrer weiß ich, dass die Missstände in der Integration weit mehr von „biodeutschen“ Verblendungen verursacht werden als vom Koran. Deutsche Tugenden…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com