Eran Yardeni
Gutmenschentum verstehe ich als eine akute moralische Störung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Betroffenen der Realität durch pseudo-moralische Argumente entkommen. Von gesellschaftlicher moralischer Störung kann die Rede sein, wenn ein Kollektiv seinen bürgerlichen Selbsterhaltungstrieb preisgibt, vor allem um dadurch moralische Defizite in seiner Vergangenheit zu kompensieren. Nicht selten mündet diese Störung in einen geistigen und moralischen Suizid, dem ein totaler Identitätsverlust vorausgeht. Verbreitet ist das Gutmenschentum vor allem in demokratischen Gesellschaften im Mittel- und Nordeuropa. In Deutschland und Schweden nahm es in den letzten Jahrzehnten epidemische Ausmaße an.
Die Jury, die das Wort „Gutmensch“ als „weiteres Unwort des Jahres 2011“ auserwählt hat, versteht diesen Begriff ein wenig anders. Folgendes ist ihre Begründung:
„Mit dem Ausdruck Gutmensch wird insbesondere in Internet-Foren das ethische Ideal des ‘guten Menschen’ in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren. Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck ‘Wutbürger’ widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck Gutmensch Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaftlicher Wertorientierungen in rationaler Diskussion gehören. Der Ausdruck wird schon seit 20 Jahren in der hier gerügten Weise benutzt.“
Diese Begründung ist mehr als bedenklich. Die Tatsache, dass sie aus der Feder intelligenter Leute stammt, die akademische Titel wie Dr. oder Prof. Dr. führen, macht alles nur schlimmer. Lassen Sie uns aber am Anfang beginnen:
Liebe Jury, mit dem Ausdruck „Gutmensch“ wird nicht das Ideal des „guten Menschen“ in hämischer Weise kritisiert, sondern seine Entstellung durch das Gutmenschentum. Man benutzt diesen Ausdruck nicht einfach um „Andersdenkende zu diffamieren“, sondern um Falschdenkende zu kritisieren und zwar nicht pauschal und „ohne Ansehung ihrer Argumente“, sondern genau durch einen kritischen Umgang mit ihren Argumenten. Ihre Argumente werden nicht als naiv abqualifiziert – sie sind einfach naiv. Das politische Handeln im demokratischen Raum wird durch die Kritik des Gutmenschentums seiner ethischen Basis nicht beraubt, im Gegenteil: Sie bekommet eine stabile ethische Basis. Und noch etwas:
Mit Ihrer Begründung, behaupten Sie, direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, dass das „Gutmenschentum“ als kritisierte moralische Position überhaupt nicht existiert. Es ist angeblich nur ein Ausdruck, den man verwendet, um das ethische Ideal des guten Menschen zu diffamieren. Mit anderen Worten: Für Sie, liebe Jury, ist der Ausdruck „Gutmensch“, egal ob als Prädikat oder als Nomen, mehr oder weniger wie der Ausdruck „Monster“. Man benutzt ihn um andere Menschen zu beleidigen, eigentlich aber existiert er nicht.
Liebe Jury, die Gutmenschen sind tragisch-komische Figuren, die im Namen der Moral die schlimmsten Missetaten der Menschheit psychologisieren, relativieren, dulden und in Extremfällen sogar rechtfertigen. Sie sind nicht böse, sondern einfach verwirrt. Was sie zu Gutmenschen macht, ist nicht nur ihr unerschütterter Glaube an die gute Natur des Menschen und die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, sondern dass sie durch ihre moralische Position über sich selbst etwas sagen wollen: dass sie gute Menschen sind.
Es geht um kultivierte Menschen, die kulturell völlig abgeschnitten leben. Der Abstand von der alltäglichen Realität verleitet sie dazu, für Andere eine Welt zu schaffen, in der sie selbst nicht leben müssen.
Und noch etwas, liebe Jury: In welcher Phase des akademischen Werdegangs bricht die geistige Elite ihren Kontakt mit der Realität endgültig ab? Und warum? Ist es eine Art von Protest, den nur die Kenner und die „Zeit“-Abonnenten verstehen? Zu wenig Sonnenlicht? Umweltverschmutzung? Klimakatastrophe?
Für das Unwort des Jahres 2012 schlage ich das Wort „Unwort“ vor.