Gastautor / 16.02.2010 / 16:54 / 0 / Seite ausdrucken

Ein Fall von Kindesmissbrauch

Von Sophie Dannenberg

Die Kindheit, das wissen wir, ist ein soziales Konstrukt. Wann sie anfängt, wann sie aufhört und was sie bedeutet, ist kulturell und historisch sehr verschieden – zugleich gesellschaftspolitisch folgenreich. Auf zahllosen Bildern aus dem Mittelalter sehen die Kinder, was Ausdruck, Kleidung und Tätigkeit betrifft, noch wie Erwachsene aus, nur kleiner. In voraufklärerischen Zeiten ging das Erwachsenwerden kontinuierlich vonstatten.  Gewissermaßen wurden die kleinen Menschen hochgezoomt, bis sie groß waren, ansonsten änderte sich nichts. Alle waren von Anfang an dabei und gehörten dazu. Eine Schonzeit gab es nicht, und schon gar nicht hatte die Kindheit ein eigenes Design, jene bunte Knuffigkeit, die heute in den Teletubbies zu ihrer bizarren Vollendung findet. Wer konnte, mußte arbeiten - oder herrschen, je nachdem.

Natürlich könnte man erneut darüber nachdenken, ob man seine Kinder anstatt zu den Teletubbies nicht doch lieber zurück in die Kohlengruben schickt, aber dann hätten wir das Jugendamt am Hals. Die Kindheit ist nämlich eine sozialstrukturell nötige Erfindung, ein Produkt der Moderne, wie der Historiker Philippe Ariès schreibt. Ariès zeigt auf, wie in der Moderne die Kindheit zu einer eigenständigen biographischen Kategorie wird, die sich von der der Erwachsenen grundsätzlich unterscheidet. In der Moderne wird der kleine Mensch nicht mehr groß gezoomt, sondern durchläuft ein Stufenmodell: Säugling, Kleinkind, Kind, Jugendlicher. Und diese Stufen unterscheiden sich zunehmend, bis hin zur gegenseitigen Sprachlosigkeit. Die Stufung schafft Komplexität, und die wiederum ist ein Hauptmerkmal der Moderne. Die Welt wird dadurch vielseitiger, flexibler, aber auch segmentierter und widersprüchlicher. Da unsere moderne Gesellschaft inzwischen vor allem eine Konsumgesellschaft ist, wird der Schutzraum Kindheit zunehmend aufgebrochen - obwohl gerade er es ist, der einen ganzen Markt definiert. Das Kind konsumiert und wird konsumiert und wird damit zu einem Erwachsenen, der Kind bleiben muß.

Dieser Widerspruch wird zur Zeit besonders deutlich am Fall der kleinen Helene Hegemann. Mit ihr wird ein Kind gefeiert, das die Kindheit vernichtet, indem es (literarisch oder real) alles tut, was typisch für einen, und zwar einen besonders verkommenen, Erwachsenen ist – kulturell, medial, sexuell. Mit Helene Hegemann wird gefeiert, daß es einem Kind gelingt, nicht mehr Kind zu sein und sich damit über die Errungenschaften der Moderne hinwegzusetzen.

Es spielt dabei keine Rolle, ob sie den Roman selbst geschrieben hat oder ihr Vater oder irgendein anderer Fuzzi, bezeichnend ist nur, daß die Hegemann zur kindlichen Repräsentantin des Erwachsenen gemacht wird. Kulturell gesprochen handelt es sich um einen Fall von Kindesmißbrauch. Tatsächlich kann man in der Faszination der Literaturkritiker jedweden Geschlechts für das Vulgäre und Obszöne im Leben eines kleinen Mädchens – oder ihres sprachlichen Artefaktes – auch eine pädophile Komponente entdecken. Deutlich wird am Fall der putzigen Helene, mit welcher ideologischen Entschiedenheit hier die Zerstörung der Kindheit betrieben wird, die Löschung also einer historisch fruchtbaren Ressource aus dem Fundus der Aufklärung. Man darf das ruhig beklagen. Mit der süßen Helene begeben wir uns in eine Zeit, in der nicht nur dem Kind der Schutz vor den Gefährdungen der modernen Gesellschaft entzogen wird, sondern auch der Gesellschaft eine kulturelle und produktive Option.

(Sophie Dannenberg ist Schriftstellerin, mit ihrem Roman “Das bleiche Herz der Revolution”  - über die 68er Generation aus der Sicht ihrer Kinder - hatte sie das Feuilleton gegen sich aufgebracht.)

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