Susanne Schädlich
Der Roman „Gutgeschriebene Verluste“ von Bernd Cailloux
Café M, Domina, Dschungel, Risiko, Ruine, Kumpelnest, das Café Swing. Wer kennt sie nicht, diese Orte aus den guten alten Zeiten im guten alten Westberlin. Ich eroberte sie erst mit 16 oder 17 für mich, in den 80ern, als die hippen Künstler und Schriftsteller und Musiker schon in die Jahre kamen, dort herumhingen, das Flair der Bohéme verbreiteten und das alternative Kunst- und Kulturleben dieser halben Stadt prägten. Einstürzende Neubauten, Notorische Reflexe, Manna Maschine. Jeder war ein Star, und wer noch keiner war, wollte einer werden. Ich bestaunte sie, diese Leute und diese Welt, saß meist in einem dieser Cafés, scheu, mit einem Buch und beobachtete.
Jetzt, dreißig Jahre später, halte ich wieder ein Buch in der Hand: „Gutgeschriebene Verluste“ von Bernd Cailloux, Jahrgang 1945. Ich schmunzle des öfteren nicht schlecht, denn obwohl ich so viel jünger bin, so erkenne ich doch den einen oder anderen Portraitierten wieder in dieser selbstironischen, zuweilen sarkastischen, Lebensbilanz eines „Übriggeblieben“.
So nennt ihn seine wesentlich jüngere Freundin, die er im Café Fler in Schöneberg kennenlernt. Diese Liebesgeschichte zwischen Ella und dem Flaneur, der nun sein Leben durchstreift wie einst Franz Hessel das Berlin der 20er Jahre, bildet die Rahmenhandlung des Romans. Nach kurzfristiger Ekstase des Glücks zeigen sich unüberbrückbare Differenzen zwischen dem zaudernden Ironiker und der zur Exaltiertheit neigenden, überemotionalen Alleinerziehenden. Der durchs Leben treibende, einzelgängerische, launische Mittsechziger und „sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener” ist zum gemeinsamen Nestbau nicht zu überreden. Der schwindenden Hoffnung auf eine feste Bindung geschuldet, schüttet Ella ihren ganzen Männerhaß über dem Helden aus, und so führt der späte Versuch, eine konventionelle Bindung einzugehen, sich ganz konventionell selbst ad absurdum. Die tragische Komik dieser Beziehung verwandelt sich in melancholisches Scheitern, das irgendwie immer vorprogrammiert zu sein scheint.
Sein zweites Gegenüber hat der Ich-Erzähler in Leiser, einem Freund aus alten Tagen, einem wortkargen Poeten, der es, im Gegenteil zum Erzähler, zu etwas gebracht hat, mit dem er im Fler über alles und jeden spricht und der sein kritisches alter ego zu sein scheint. In der Rückbetrachtung werden sich gegenseitig die Versäumnisse und Verfehlungen aufgetischt – das Leben passiert Revue.
Eine Reise mit Ella an den Geburtsort im Thüringischen bringt zwar ein wenig Licht ins Dunkel der frühesten Kindheit des Ich-Erzählers, stellt sich aber als „therapeuticum interruptum“ heraus, weil eben doch nicht das ganze Leben mit den frühen Leiden und Verlusten zu erklären bzw. zu rechtfertigen ist; ebensowenig mit der Hepatitis C, die er sich in einer Drogennacht beim needle sharing vor Äonen eingefangen hat. Auch das Virus - eine Metapher für die 1968er? -, muß für das halb verkrachte Leben herhalten und führt jetzt zur klinischen Diagnose von noch zwei Jahren Lebenszeit. Nur die Inferon-Therapie kann den sicheren Tod abwenden. Katharsis in der Postmoderne.
„Gut geschriebene Verluste“ hat keine chronologische Handlung. In kreisenden Reflexionsprozessen setzt der Autor immer wieder an neuen Lebensstationen an, mit feiner Ironie führt er sich und die 1968er vor, die Hedonisten, die alles umwälzen, die nicht dazu gehören wollten und jetzt etabliert in sicheren Häfen ihren spießigen Existenzen frönen. Nur der Held des Romans ist und bleibt ein „Schwellenwesen“, wie er am Ende so schön non chalant feststellt, als er zusammen mit dem Ex-Terroristen Peter Jürgen Boock und anderen Mitdiskutanten auf einem Podium sitzt und merkt, er sitzt mal wieder zwischen allen Stühlen, jedes bon mot verfault ihm im Munde, und mit dem SDS konnte er sowieso nie mithalten.
So ist das mit der Vergangenheit. Sie ist voller Abgründe und Peinlichkeiten, vor allem aber voller Verluste, die aber gutgeschrieben werden müssen. Das ist Bernd Callioux glänzend gelungen: Gut geschrieben, abgeklärt, gnadenlos bissig, pointiert ist es, dieses autobiographische perpetuum mobile, das den vermeintlichen Glanz einer ganzen Generation noch einmal aufleuchten läßt, die sich selbst erledigt hat. Nicht mehr Zukunft, sondern Vergangenheit ist er, stellt der Ich-Erzähler irgendwann lakonisch fest, als sei es schon immer so gewesen, und kehrt die Maxime seiner Sinnsuche, daß das Leben zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt werden müsse (Kierkegaard), sinnreich um.