Vera Lengsfeld / 11.01.2010 / 13:23 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1990 /2009 - 11. und 12. Januar

Ministerpräsident Modrow gibt zur Bekräftigung seiner Entschlossenheit, die Staatsicherheit zu erhalten, vor der Volkskammer der DDR eine Regierungserklärung ab. Er sei nicht „durch einen Staatsstreich“ an die Macht gekommen. Seine Regierung würde bis zu den Volkskammerwahlen am 6. Mai im Amt bleiben. Bis dahin wäre es unumgänglich, auch einen Geheimdienst zu erhalten, der die DDR vor „Neofaschismus“ und Kriminalität schützen solle. Die Volkskammerabgeordneten klatschen wie gewohnt Beifall. Es gibt keinen Widerspruch. Den bekommt Modrow von der Straße. Noch während er spricht, treten Ost-Berliner Bauarbeiter in den Warnstreik und demonstrieren vor der Volkskammer. Diese Demonstrationen, an denen sich Zehntausende beteiligen, halten bis zum Abend hin an. Eine Losung lautet: „Opposition am Runden Tisch , wir Bauarbeiter unterstützen Dich!“ Damit ist das Volk aus der Weihnachtspause zurückgekehrt und macht sich wieder daran, das Rad der Geschichte voran zu treiben. Als es am nächsten Tag zur Aussprache über die Regierungserklärung von Modrow kommt, werden die demonstrierenden Bauarbeiter vor dem „Palast der Republik“, in dem die Volkskammer tagt, von Taxifahrern abgelöst. Sie fahren, verstärkt durch hunderte Privatautos hupend um den Palast herum, Runde um Runde. Das macht Eindruck auf die Parlamentarier, die den Ministerpräsidenten eben noch beklatscht hatten. Plötzlich ermannen sich die Vertreter von CDU und LDPD und drohen mit dem Rückzug aus der Regierung. Sie wollen eine Umorientierung der Wirtschaft, weg von der verfehlten Planwirtschaft, hin zu einer Marktökonomie. Sie warnen Modrow vor dem Versuch, die SED-Herrschaft konservieren zu wollen. Sie lehnen die Erhaltung der Staatssicherheit ab.  Die Demonstrationen draußen und der Widerspruch drinnen, führen Modrow vor Augen, wie weit die Macht der SED bereits erodiert ist. Er kapituliert in der für die Demonstranten wichtigsten Frage. Er erklärt, dass es bis zu den Wahlen am 6. Mai keinen neuen Geheimdienst mehr geben wird. Allerdings ist die Auflösung der Staatssicherheit längst nicht abgeschlossen. Modrows Zugeständnis ist rein taktischer Natur, in der Hoffnung die Lage wieder zu beruhigen, um weiter an der Wiedergewinnung der Macht arbeiten zu können. Die Staatsicherheit arbeitet im Verborgenen fieberhaft mit, vor allem, indem sie Material herstellt, das die angebliche „neofaschistische Gefahr“ belegen soll.


Heute kämpft die SED-Linke immer noch um die Macht. Sie hat es in mehrere Landesregierungen, Landesparlamente und in den Bundestag geschafft, obwohl sie zwanzig Jahre lang keine einzige innovative Idee geboten hat , sondern nur Ressentiments schürte. Als es nicht mehr weiter zu gehen schien, kam Oskar Lafontaine, belebte die schwächelnde SED neu und schenkte ihr die Westausdehnung. Die Partei dankte es, indem sie ihrem neuen Führer freudig und folgte. Dass der Personenkult um Oskar jede Kritik an ihm verbietet, hat in eine neue Parteikrise geführt. Es geht dabei nicht um den Bundesgeschäftsführer, obwohl Bartsch der Auslöser des Konflikts ist. Es geht um die bisher erfolgreich verborgene inhaltliche Unvereinbarkeit zwischen der Ost-Linken, deren Kern immer noch die SED ist, die den DDR-Horizont nie verlassen hat und den SPD-Rebellen aus den alten Ländern, die sich der DDR-Altpartei aus rein machtopportunistischen Gründen angeschlossen haben. Der beste Ausgang wäre, wenn endlich implodieren würde, was willkürlich zusammengepresst wurde. Es fehlt aber bislang der Druck von außen.

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