Vera Lengsfeld / 06.11.2009 / 13:22 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 6. November

Stasi-Chef Mielke ordnet die Aktenvernichtung an. Von nun an laufen Schredder und Öfen auf Hochtouren, um kompromittierendes Material zu vernichten. Mielke ahnt also, dass es mit der DDR zu Ende geht. Er weiß um die kriminellen Delikte seines Ministeriums und versucht alles, um dies vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.
In Dresden haben Bezirksparteichef Modrow und Oberbürgermeister Berghofer noch nicht aufgegeben, sich an die Spitze der Bewegung setzen zu wollen. Die Gruppe der 20 hat sich im Rathaus festgesetzt. Das nutzen die beiden SED-Politiker aus und bieten der Gruppe an, bei der Organisation der abendlichen Demonstration behilflich zu sein und Ordner zur Verfügung zu stellen. Dafür wollen beide mitmarschieren dürfen. So kommt es, dass an der Spitze von 100 000 Dresdenern Modrow und Berghofer marschieren, neben der Gruppe der 20. Sofort verkündet der Rundfunk, die SED-Politiker hätten sich an die Spitze der Reformbewegung gesetzt. Das wird von den Demonstranten nicht akzeptiert. Die Parole des Abends lautet: „8-9-10- SED kann gehn!“.

Den Politbürokraten dämmert inzwischen , dass die SED gehen muss, wenn es keine Hilfe in letzter Sekunde gibt. Die Schwierigkeiten, in denen sie steckt, werden mit jeden Tag größer. Bei seinem Machtantritt hatte Krenz beim DDR-Planungschef Gerhard Schürer eine Studie über den Zustand der Volkswirtschaft in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist verheerend. Die DDR ist bankrott. Bei seinem jüngsten Besuch in Moskau war Krenz von Gorbatschow jede finanzielle Hilfe verweigert worden. Es bleibt als Ausweg nur, sich, wie so oft, an den Klassenfeind zu wenden, obwohl Krenz in den vergangenen Tagen mit verbalen Ausfällen gegen die Regierung Kohl nicht gerade zurückhaltend war. Die Allzweckwaffe der SED-Oberen, Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, wird auf eine Eilmission nach Bonn geschickt, wo er mit Kanzleramtsminister Seiters und Innenminister Schäuble verhandeln darf. Schalck schildert die verzweifelte Lage und fordert einen 13-Milliarden- Kredit , sozusagen als Finanzhilfe aus Bonn für die SED-„Reformer“. Schon immer hatte sich die DDR so genannte „menschliche Erleichterungen“wie Häftlingsfreikäufe und Lockerung der Reiserestriktionen gut bezahlen lassen. Bereits 1983 und 1984 retteten zwei Milliardenkredite die DDR vor dem Offenbarungseid. Warum nicht ein drittes Mal? Aber Bundeskanzler Kohl verabschiedet sich von der Politik der geräuschlosen Hilfe für die SED- Regierung. Er stellt diesmal Bedingungen: Aufgabe des Machtmonopols der SED, Zulassung der Opposition und freie Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum. Diese Forderungen übermittelt Schalck an Krenz, während Kohl, Schäuble und Seiters noch in der Nacht eine Passage über den Zustand der DDR-Wirtschaft in den bereits fertig gestellten „Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ einfügen, die den Politikwechsel öffentlich machen wird.

Große mediale Aufregung um den gescheiterten Verkauf von Opel an Magna. Die Bundesregierung steht blamiert da. Kanzlerin Merkel hat sogar Präsident Obama angerufen, nur um zu erfahren, dass der Präsident nicht in den Beschluss des GM- Vorstandes eingebunden war. In Amerika funktioniert die Trennung von Wirtschaft und Politik noch. In Deutschland, wo die umfassende Einmischung des Staates in die Wirtschaft schon fast zur Normalität gehört, kann man nicht verstehen, wieso der mächtigste Mann der Welt nicht gefragt werden muss, wenn ein Konzernvorstand seine Entscheidungen trifft. Das Verständnis von Marktwirtschaft ist in Deutschland bestenfalls noch rudimentär. Im zwanzigsten Jahr nach dem Scheitern der Staatsplan-Politik ist das mehr als erstaunlich.

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