Vera Lengsfeld / 30.06.2009 / 13:33 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009-30. Juni

Warschaus Kommunisten zeigen Nerven. Nach den für sie desaströsen Sjem- Wahlen, bei denen 90% der Sitze an die Liste der Solidarnosc gingen, sprechen sich Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gegen ihren Parteichef Jaruzelski als Kandidaten für das neu geschaffene Amt des Staatspräsidenten aus.
Während für DDR-Staatschef Erich Honecker der Empfang in Moskau eher kühl war, kann er sich über „stürmischen Beifall“ nach einer Rede in Magnitogorsk freuen, schreibt das „Neue Deutschland“. Die DDR sei unerschütterlich mit der KPdSU der UdSSR und dem Sowjetvolk verbunden.
Honecker muss während seiner Rede ein Kratzen im Hals und einen bleiernen Geschmack auf der Zunge gespürt haben. Magnitogorsk gehört zu den zehn verschmutztesten Städten der Welt. Die Stadt am Ural entstand 1929 als Teil der gewaltsamen Industriealisierungskampagne Stalins. Mit Zwangsarbeitern und zwangsverpflichteten Freien wurden Stadt und Stahlwerk im mörderischen Tempo errichtet. Über die Anzahl der dabei ums Leben gekommenen liegen bis heute keine genauen Angaben vor. Die drei Hochöfen wurden in 56, 16 und 5 Tagen gebaut. Das Ziel war, die weltgrößte Stahlproduktion zu errichten. Das gelang auf Kosten des Lebens und der Gesundheit tausender Arbeiter. Als Honecker hier seine Rede hielt, war nur 1% der Kinder der Stadt ganz gesund. Auch mindestens 73% ihrer Mütter waren krank. Das lag vor allem an der hohen Konzentration von Blei, Schwermetallen und Schwefelsäure in Luft, Boden und Wasser. Neben Magnitogorsk nahm sich das Halle-Bitterfelder Chemiedreieck noch wie ein Umweltparadies aus. Hier kamen „nur“ zwei Drittel der Kinder schon umweltgeschädigt zur Welt.


Der Streit um die möglichen Überhangsmandate bei der nächsten Bundestagswahl hat etwas Absurdes. Unser überkomplexes Wahlsystem ist schon lange reformbedürftig, weil es den Wählerwillen nicht widerspiegelt. Selbst das Verfassungsgericht hat Veränderungen angemahnt, aber einen zu langen Zeitraum dafür gelassen, so dass die Reform verschleppt wurde, weil jede Partei hoffte, bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal vom alten System profitieren zu können. Wenn nun die Grünen, aus Angst davor, beim nächsten mal wieder die geliebten Staatskarossen andern Parteien überlassen zu müssen, eine Neuregelung in letzter Minute fordern, haben sie damit nur klar gemacht, dass von der einstigen Antiparteien-Partei nichts mehr übrig geblieben ist.
Die Grünen sind zu ihrem eigenen Phantom geworden. Echt revolutionär wäre es gewesen, wenn sie eine wirkliche Erneuerung des Wahlgesetztes gefordert hätten. Eine, die auch den Willen der Nichtwähler berücksichtigt. Das wäre ganz einfach: jede Partei erringt nur so viel Parlamentssitze, wie sie tatsächlich Wählerstimmen erhält. Das Ergebnis wäre eindeutig und hätte einen haushaltsschonenden Nebeneffekt : der Bundestag würde ohne aufwendige Parlamentsreform erheblich kleiner. Die verbleibenden Abgeordneten wären motivierter. Die Parteien wären gezwungen, ihre Wähler tatsächlich zu überzeugen, statt sie mit leeren Versprechungen ruhig zu stellen.

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