Vera Lengsfeld / 27.06.2009 / 20:31 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009-27. Juni

In einem symbolischen Akt schneiden die Außenminister von Österreich und Ungarn mit einer Drahtschere ein Loch in den Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich. Dabei ist die Grenzanlage schon fast verschwunden. Der Abbau hatte bereits am 2. Mai begonnen und war auf einer Pressekonferenz den internationalen Medien bekannt gegeben worden. Aber die Botschaft war im Westen bislang nicht recht angekommen. Auf jeden Fall wurde die Brisanz des Vorgangs unterschätzt. Nur die DDR-Bürger hatten sofort begriffen, was der Abbau der Grenzanlagen für sie bedeutete. Die Zahl der Reiseanträge war vom 2. Mai an sprunghaft gestiegen. Besonders junge Leute, versuchten ihren Urlaub vorzuverlegen, um sofort nach Ungarn zu kommen. Immer mehr Flüchtlinge versuchten über die ungarische Grenze nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik zu gelangen. Nachdem ein junger Mann bei einem Zusammenstoß mit ungarischen Grenzsoldaten getötet worden war, wies Ministerpräsident Ne’meth persönlich an, DDR-Bürger nicht mehr auszuliefern. Von da an wurde zurückgeschickt, wer an der Grenze abgefangen wurde und konnte am nächsten oder übernächsten Tag sein Glück noch mal versuchen. Mitte Juni waren bereits mehrere hundert DDR-Bürger in Budapest und bevölkerten die Parkanlagen, da sie sich eine Unterkunft nicht leisten konnten. Natürlich verlangte die DDR von Ungarn, dass die Flüchtlinge wie bisher ausgeliefert werden sollten. Als das abgelehnt wurde, schickte Staatschef Honecker seinen Außenminister Fischer nach Moskau, um sich über die ungarischen Genossen zu beschweren und ein Eingreifen Gorbatschows zu verlangen. Fischer musste unverrichteter Dinge nach Ostberlin zurückkehren. In Moskau war ihm kühl beschieden worden, dass die Grenzordnung eine innere Angelegenheit Ungarns sei.

Wenn man den Meinungsumfragen glauben darf, gab es vor zwanzig Jahren keinen Grund, der DDR unter Zurücklassung allen Besitzes, aller Verwandten und Freunde, den Rücken zu kehren. Angeblich soll inzwischen eine Mehrheit in den Neuen Ländern die DDR positiv sehen. Da die schäbige Realität nicht mehr besichtigt werden kann, wird verklärt, was das Zeug hält. Das hat Folgen. Inzwischen sind die Umverteilungsfantasien der Realsozialisten auch in der Union hoffähig geworden. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Böhmer fordert eine Anhebung des Spitzensteuersatzes. Umverteilung ja, aber „richtig“, sagt er und verweist auf die zunehmende angebliche „Ungleichverteilung“ von Vermögen in Deutschland, die zu sozialen Verwerfungen führen würde. „Das kann eine Gesellschaft nicht aushalten“. Das sagt ein Politiker, der ohne jede Hemmungen Steuergelder verschwendet für „Rettungsmaßnahmen“ in einer Krise, die hauptsächlich von politischem Fehlverhalten verursacht wurde. Er könnte am Beispiel der DDR studieren, wohin es führt, wenn man die Leistungsträger der Gesellschaft hemmungslos ausbeutet und das Umverteilung nicht zu einem Anwachsen des Wohlstandes, sondern zu einer Verarmung aller führt. Anscheinend glauben einige CDU-Politiker, man müsste keine Wahl mehr gewinnen, weil es für eine Fortsetzung der Großen Koalition allemal reicht. Wenn man sich da nicht täuscht!

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