Vera Lengsfeld / 26.08.2009 / 12:02 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 25.und 26. August

24. Der ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth und Außenminister Gyula Horn führen in Bonn Gespräche mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher über die Flüchtlingskrise an der ungarisch-österreichischen Grenze. Am Vortag hatte das Chaos im Grenzgebiet zu einem Zwischenfall geführt, bei dem Schusswaffen zum Einsatz kamen. „Bild“ titelt: „Treibjagd auf DDR-Flüchtlinge - Soldaten schossen, prügelten, Kinder bluteten“. Die Ungarn drängen auf eine Lösung des Problems, das sie mit Recht nicht als das ihre empfinden. Sie fühlen sich von den Deutschen im Stich gelassen.
25. Während immer mehr Bewohner des Landes ihre Koffer packen, um ihrer Heimat für immer den Rücken zu kehren, arbeiten andere mit ganzer Kraft an der Veränderung des Staates, dessen Existenz sie immer noch nicht in Frage stellen. In der Berliner Golgotha –Gemeinde stellt eine Handvoll Bürgerrechtler ein sensationelles Projekt vor: Markus Meckel und Martin Gutzeit präsentieren den Aufruf zur Gründung der SDP vor. Mehr als 40 Jahre nachdem die SPD in der SED aufgegangen ist, soll es wieder eine eigenständige sozialdemokratische Partei in der DDR geben. Der erste Vorsitzende dieser Partei wird allerdings keiner von den beiden, sondern zu aller Überraschung Ibrahim Böhme, der eigentlich Manfred heißt und heimlich ausführliche Spitzelberichte für die Staatsicherheit schreibt. Zu Böhmes engstem Vertrautenkreis gehört kurz darauf ein junger Theologiestudent aus Thüringen, Christoph Matschie, der Böhme bald so nahe steht, dass er später einer der ganz Wenigen ist, die mit Böhme im Kontakt bleiben, als der vor der ersten Enthüllungswelle seiner zahlreichen Stasikontakte nach Italien flüchtet.

Heute ist Matschie selbst Parteichef, wenn auch nur von den Thüringer Sozialdemokraten. Nach dem nächsten Wochenende könnte ihm eine Schlüsselrolle auf dem Weg der SED-Fortsetzungspartei Linke an die Macht im Bund zukommen. Matschie ist bereit, mit der Linken eine Regierungskoalition einzugehen, wenn ihm als Spitzenkandidat der deutlich schwächeren Partei das Ministerpräsidentenamt überlassen wird. Das wird die Linke tun, ungeachtet dessen, oder gerade weil damit die demokratischen Spielregeln, nach denen die stärkste Partei in der Koalition den Regierungschef stellt, ausgehebelt werden. Natürlich wird die Linke ihren Preis dafür fordern. Sie wird sich nicht damit begnügen, Matschie als Marionette nach ihrem Willen tanzen zu lassen. Sie will selbst das höchste Amt. Denkbar ist ein Deal, nach dem auf der Hälfte der Legislaturperiode ein Wechsel im Regierungsamt stattfindet. Dann wäre ausgerechnet Thüringen das erste Land, in dem die SED wieder regiert.

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