Vera Lengsfeld / 25.09.2009 / 15:36 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 25.  September

Ausnahmezustand in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag. Fast 900 Menschen befinden sich auf dem Gelände, das sie nicht verlassen wollen, bis sie sicher sein können , in den Westen reisen zu dürfen. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt.
In Leipzig findet ein weiteres Montagsgebet statt. Auch hier liegt äußerste Spannung in der Luft. Der immer noch kranke Parteichef Honecker hatte seinen treuesten Gefolgsmann Günter Mittag zu seinem Vertreter bestimmt. Mittag hatte auf der Sitzung des Politbüros am 19. September Maßnahmen zur Eindämmung der Oppositionsbewegung beschließen lassen. Die neuen oppositionellen Bewegungen sollten „im Keim erstickt“ werden, damit sie keine „Massenbasis“ bekämen. Die hatten sie aber schon längst. Die Politbürokraten, die immer noch glauben, der „Imperialismus“ würde die Bürgerbewegung schüren, sind nicht in der Lage, die wirkliche Situation im Lande zu erkennen, geschweige denn, richtige Maßnahmen zu ergreifen. Was sie befehlen, verstärkt die Spannungen . In Leipzig werden 1500 zusätzliche Sicherheitsleute bereit gestellt, um eine Demonstration nach dem Montagsgebet zu verhindern. Die Innenstadt ist komplett abgesperrt. Trotzdem strömen Tausende zur Nikolaikirche. Nachdem das Gotteshaus wegen Überfüllung geschlossen werden musste, verharrt eine riesige Menschenmenge vor dem Gebäude. Das Gebet , gestaltet von Pfarrer Christoph Wonneberger hat gewaltlosen Widerstand zum Thema. Am Schluss seiner Predigt, bei der auch die Namen der in den vorangegangenen Wochen Inhaftierten verlesen wurden, sagt er:“ Deshalb müssen wir, die wir hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das gilt auch gegenüber Provokateuren, die in unseren Reihen sind.“ Danach stimmen die Gottesdienstteilnehmer das Lied „Wes shall overcome“ an und es beginnt die erste Massendemonstration der DDR, die von Polizei und Sicherheitskräften unbehelligt blieb. Die Sicherheitskräfte sind von der bloßen Anzahl überrascht. Etwa 6000 Menschen marschieren über den Ring bis zum Hauptbahnhof. Die Polizeiketten umgingen die Menschen einfach. Immer mehr Passanten schliessen sich an. Stasichef Mielke ist vollkommen überrascht, als er bei seinen Telefonaten erfährt, dass ein Eingreifen mit den üblichen Mitteln nicht möglich ist. Er bellt sinnlose Befehle in den Hörer. Am Hauptbahnhof löst sich die Demonstration friedlich auf. Im Stasihauptquartier in Berlin verlangt Mielke, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe. Noch in der Nacht beginnen die Vorbereitungen für den kommenden Montag.

Genau zwanzig Jahre nach diesem Ereignis, das den Freiheitswillen der DDR-Bürger illustriert, werden die Pläne bekannt, aus dem Verfassungsschutz eine „Sicherheitsbehörde“ zu entwickeln. Ich lasse deshalb diejenigen zu Wort kommen, die in der DDR ihr Engagement mit Gefängnis bezahlt haben:

VEREINIGUNG (AK) 17. JUNI 1953 e.V.

Wir brauchen kein neues Ministerium für Staatssicherheit!

Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet heute (Seite 1) unter dem Titel: „Verfassungsschutz soll zur Polizei werden“ über Pläne
im Bundesinnenministerium, dem Verfassungsschutz polizeiliche Aufgaben zu
übertragen. Die Behörde soll „zahlreiche neue Kompetenzen erhalten und zur
allgemeinen Sicherheitsbehörde ausgebaut werden“, berichtet die SZ.
„Sollten diese Pläne einen realen Hintergrund haben, müssen wir uns
fragen, warum wir eigentlich die DDR abgeschafft haben und auch heute noch das
Ministerium für Staatssicherheit kritisieren“, moniert der Vorsitzende der
Vereinigung 17. Juni diese Pläne.
„Wir brauchen kein neues Ministerium für Staatssicherheit sondern
Abgeordnete und Minister, die der schleichenden Aushöhlung demokratischer Rechte
entschiedenen Widerstand leisten und den Weg in den Überwachungsstaat
konsequent ablehnen“, betont Carl-Wolfgang Holzapfel (65). Niemand käme auf die
Idee, „alle Bürger mit Fußfesseln auszustatten, um damit Verbrechen leichter
aufklären zu können“, heißt es in einer heute verbreiteten Erklärung des
Vereins.
Sollten diese Pläne ernstlich umgesetzt werden, bleibe Demokraten und
Bürgerrechtlern nur der Weg, buchstäblich auf die Barrikaden zu gehen, um eine
schleichende Absatz-Bewegung vom Rechtsstaat in eine neuerliche
dirigistische Staatsform zu verhindern. „Wir beschreiten mit derartigen Plänen den Weg von der Demokratie zur Demokratur. Eine Straße in die schleichende Diktatur
wird es mit den einst Verfolgten des SED-DDR-Unrechtes nicht geben“,

V.i.S.d.P.: Carl-Wolfgang Holzapfel, Vorsitz. Vereinigung (AK) 17. Juni
1953 e.V.
Tel.: 030-30207785 oder 0176-48061953 , http://www.17 juni1953.de –
_holzapfellyrag@aol.com_ (mailto:holzapfellyrag@aol.com) 

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