24. 10. Endlich kommt die Entwicklung auch in den Medien der DDR an. Das Fernsehen überträgt ein Podiumsgespräch von Künstlern, Bürgerrechtlern und Parteifunktionären über die notwendige Umgestaltung der DDR. Die Meinungen liegen so weit auseinander, dass vor allem die Uneinsichtigkeit der Funktionäre sichtbar wird. Der vielbeschworene Dialog findet nicht statt.
Egon Krenz wird von der Volkskammer, die in letzter Zeit so häufig wie in den Jahren davor nicht, zusammengetreten ist, zum Staatsratsvorsitzenden gewählt. Kurz zuvor hatte sich Politbüromitglied Schabowski in einer Rede beschwert, daß es seinem Freund Stolpe nicht gelungen war, die Pressekonferenz der Opposition vom Vortag zu verhindern. Ein Techniker schneidet diese Rede heimlich mit und stellt sie der Opposition zur Verfügung. Sie wird in den nächsten Tagen in der Gethsemanekirche immer wieder zu hören sein, als Zeichen, wie wenig man den Dialog- Beteuerungen der Krenz-Truppe glauben kann.
Krenz, der ,einmalig in der Geschichte der DDR, 26 Gegenstimmen und ebenso viele Enthaltungen bei seiner Wahl kassiert hatte, wendet sich sofort mit einem Fernschreiben an alle Bezirksparteisekretäre und beschwört sie , alles zu tun, um die Demonstrationen einzudämmen. Im Fernsehen zeigt er sich gern an der Seite von NVA- Generälen. Wenn das eine Drohung sein soll, geht sie weitgehend ins Leere. Während Krenz mit der Armeespitze posiert, bittet ein Soldat an der Gebetswand der Leipziger Thomaskirche um die Gebete der Demonstranten: „Auch wir Soldaten wollen keine Gewalt. Weil auch wir Angst haben.“ In Dresden, Plauen und anderen Orten ist es schon zu Befehlsverweigerungen gekommen.
25. 10. Während die Regierung Krenz offiziell eine Politik des „Dialogs“ verkündet, ist hinter den Kulissen die Vorstellung von gewaltsamer Beendigung der Demonstrationen längst nicht ad acta gelegt. Der Chef der Staatssicherheit Erich Mielke weist die „erhöhte Kampfbereitschaft“ und das Tragen von Waffen an.
Mit der Dialogpolitik wollte die Regierung dem immer sichtbarer werdenden Volkszorn ein Ventil geben. Sie machte den Fehler, die Bedingungen dieses „Dialoges“ allein festlegen zu wollen. So gingen die Funktionäre nicht in die Kirchen, um mit den Menschen zu sprechen, sondern luden zu Gesprächen in große Säle ein , bei denen viel örtliche Politikprominenz auf dem Podium saß und die Claqueure im Saal verteilt waren. Bestimmte Themen, wie die Notwendigkeit von Reformen innerhalb der Partei oder die Aktivitäten der Staatssicherheit sollten nicht angesprochen werden. Das Konzept ging nicht auf. Die Menschen kamen zu Tausenden und bestimmten, worüber auf den Veranstaltungen geredet wurde. Vielerorts wurden Rücktrittsforderungen laut.Selbst die als Claqueure bestellten SED-Mitglieder fielen immer öfter aus der ihnen zugedachten Rolle und stellten kritische Fragen.
Wie machtlos die SED den Ereignissen bereits gegenüber stand, zeigte sich am Abend in Neubrandenburg. Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche zogen etwa 20 000 Demonstranten in einem „Marsch der Hoffnung“ zum Markt. Dort trafen sie auf eine SED-Gegendemonstration unter Bezirkschef Johannes Chemnitzer. In seiner Rede ließ sich der SED-Funktionär zu dem Satz hinreißen: „Wenn ihr nicht ruhig seid, können wir auch anders.“ Er wurde ausgelacht. Niemand ließ sich mehr einschüchtern. Keiner blieb ruhig.
Nach zwanzig Jahren hat Kurzzeit- Regierungschef Egon Krenz seine Neiderlage immer noch nicht verwunden. Auf einer Veranstaltung vor ehemaligen NVA-Offizieren in Petershagen bei Berlin, die wie ein Zeitsprung zurück in die muffige DDR wirkt, beklagt Krenz den „Verrat“ des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow und meint damit offenbar dessen Weigerung, die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte zum „Schutz“ der DDR vor ihren eigenen Bürgern aufmarschieren zu lassen. Auch versucht er immer noch, den Mauerfall als Folge einer Schlampigkeit seines Politbürogenossen Schabowski, der es versäumt hatte, klarzustellen, dass die neuen Reiseregelungen erst ab dem nächsten Tag gelten sollten, und eines Komplotts westlicher Geheimdienste hinzustellen. Die wahren Helden seien die Grenz-, und Sicherheitstruppen der DDR gewesen, die mit dem Verzicht auf Schusswaffengebrauch dafür gesorgt hätten, dass aus dem Mauerfall keine Katastrophe wurde. Er verschweigt, dass in den entscheidenden Momenten die Offiziere und Soldaten auf sich allein gestellt waren, weil kein Befehlsgeber erreichbar war. Er übersieht, dass auch ein Einsatz von Schusswaffen den Fall der Mauer nicht verhindert hätte, weil das Volk der DDR nicht mehr gewillt war, Schlange zu stehen, um „Wohltaten“ von oben zu empfangen, sondern begonnen hatte, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Spätestens seit dem Scheitern der von ihm initiierten „Dialogpolitik“ hätte Krenz das erkennen müssen.