Rainer Bonhorst / 10.12.2016 / 06:22 / Foto: Bundesarchiv / 1 / Seite ausdrucken

Die Vermessung der Gesinnung

Vermesser: Guten Tag, darf ich mich vorstellen. Ich bin Ihr neuer Gesinnungsvermesser.

Befragter: Grüß Gott.

Vermesser: Ah, Sie sind Bayer? München-Maxvorstadt oder Hinterland?

Befragter: Ist das wichtig für Sie?

Vermesser: Und wie. Wenn Sie aus München-Maxvorstadt sind, mach' ich ein Kreuzchen bei linksliberal. Beim Hinterland nehme ich rechtspopulistisch.

Befragter: Ich wohne im Hinterland und habe eine Zweitwohnung in der Maxvorstadt.

Vermesser: Geht auch. Dann kommt das Kreuzchen bei „schwankende Gesinnung“.

Befragter: Wozu das alles?

Vermesser: Ich arbeite für ein öffentlich-rechtlich gefördertes Meinungsvermessungsinstituts. Wir wollen einen gesamtdeutschen Gesinnungsatlas erstellen.

Befragter: Aha. Eine Art Gesinnungspolizei also.

Vermesser: Keineswegs, Herr Müller. Unsere Daten bleiben strikt vertraulich.

Befragter: Ich heiße Miller, nicht Müller.

Vermesser: Oh. Dann muss ich das schnell korrigieren. Aber Sie wohnen in der Friedrich-Engels-Straße?

Befragter: Nein, in der Bismarckstraße.

Vermesser: O je. Dann muss ich das Kreuzchen bei „links“ ausstreichen und ein Kreuzchen bei „deutschnational“ machen.

Befragter: Wozu brauchen Sie diese ganzen Details, wenn Ihre Befragung streng vertraulich ist?

Vermesser: Vertraulich, aber nicht anonym. Ohne die genauen Angaben können wir schließlich keinen belastbaren Gesinnungsatlas erstellen.

Befragter: Und woher weiß ich, dass Sie meine Angaben nicht missbrauchen? Zum Beispiel, um mich anzuschwärzen?

Vermesser: Aber ich bitte Sie. Wir sind doch nicht irgendwer. Wir sind Ihr Freund und Gesinnungshelfer.

Befragter: Gesinnungshelfer?

Vermesser: Natürlich. Wir wollen anhand unserer gesammelten Informationen Deutschland und den Deutschen zu einer wohlgerundeten, gut formierten Gesinnung verhelfen.

Befragter: Gut informiert?

Vermesser: Gut formiert.

Befragter: Warum denn?

Vermesser: Aus ökonomischen, organisatorischen und Zielführungs-Gründen. Unser bisheriges Multiopinionat …

Befragter: … Multiopinionat?

Vermesser: Das ist unser neu eingeführter Fachbegriff für die altbackene und viel zu positiv besetzte Meinungsvielfalt.

Befragter: Aha.

Vermesser: Also, das Multiopinionat von gestern ist den Anforderungen an eine moderne, stromlinienförmig optimierte Gesellschaft einfach nicht mehr gewachsen. Da gibt es viel zu viel kostspieligen Leerlauf, zu viele Doppelungen, zu wenige Synergie-Effekte.

Befragter: Verstehe. Aber was genau ist denn Ihr Ziel?

Vermesser: Wir streben ein für alle verbindliches Totalopinionat an.

Befragter: Totalopinionat? Klingt das nicht ein bisschen totalitär?

Vermesser: Das liegt daran, dass die Totalität in der öffentlichen Debatte zu negativ besetzt ist. Davon müssen wir abkommen. Es beschwert sich ja auch niemand, wenn einer sagt: Ich bin total begeistert.

Befragter: Das nicht, aber …

Vermesser: Eine weniger kontroverse Variante wäre das Wort „voll“. Wenn wir als unser Ziel also das „Vollopinionat“ angeben.

Befragter: Das Vollopinionat?

Vermesser: Genau. Das Vollopinionat als modernes Gegenstück zum traditionellen Vielopinionat. Also voll statt viel. Wir haben das der Jugendsprache entnommen. Zum Beispiel: Das find' ich voll klasse.

Befragter: Und was ist, wenn einer das voll krass findet?

Vermesser: Der fällt in die Kategorie obsoleter Multimeinungsschwärmer. Ein Problem, das sich biologisch von selbst erledigt.

Befragter: Spielen Sie damit auf mein Alter an?

Vermesser: Sie mit Ihren 70 Jahren sind der klassische Vertreter der obsoleten Multimeinungsschwärmerei. Ein Auslaufmodell, das wir Verfechter eines zielführenden Totalopinionats in der Tat einfach auslaufen lassen. Da müssen wir nicht weiter steuernd eingreifen.

Befragter: Ich bin erst 69.

Vermesser: 70.

Befragter: 69.

Vermesser: Lügen Sie nicht. Sie sind 70.

Befragter: Also gut. 70. Seit gestern.

Vermesser: Sehen Sie. Wir erwischen jeden.

Foto: Bundesarchiv CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

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Ferdi Krüger / 10.12.2016

Falls Sie mit Ihrem Beitrag auf die Kontroverse mit Gerald Hensler anspielen, dann schlage ich die zusätzliche Verwendung der Begriffe SITTENWÄCHTER, GROSSINQUISITOR vor. DENUNZIANT trifft es meiner Meinung nach nicht.

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