Gastautor / 29.02.2016 / 11:00 / 0 / Seite ausdrucken

Die meisten Menschen sind nun mal keine Weltbürger

Von Rainer Grell

„Dulce et decorum est pro patria mori“ – „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ ist ein Zitat aus den Liedern/Carmina des römischen Dichters Horaz (65-8 v. Chr.). „Dulce et decorum est“ ist auch der Titel eines Gedichts, das der britische Dichter Wilfred Owen Ende 1917 während des Ersten Weltkriegs verfasste.

Das Horaz-Zitat war Gegenstand eines Schulaufsatzes, den der junge Brecht (geb. 1898) 1915 am Realgymnasium in Augsburg schreiben musste und der ihm beinahe den Rauswurf aus der Schule eingebracht hätte. Für Brecht war dieser Spruch, den mancher Soldat des Deutschen Heeres unter dem Oberbefehl des Kaisers im Hinterkopf haben mochte, reine „Zweckpropaganda“, der nur „Hohlköpfe“ folgen könnten. Lediglich die Fürsprache eines Lehrers, dass es sich um ein „verwirrtes Schülerhirn“ handele, rettete ihn vor der Relegation.

Derselbe Brecht schrieb 1950, also als 52Jähriger:

Anmut sparet nicht noch Mühe

Leidenschaft nicht noch Verstand

Dass ein gutes Deutschland blühe

Wie ein andres gutes Land.

Dass die Völker nicht erbleichen

Wie vor einer Räuberin

Sondern ihre Hände reichen

Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter

Andern Völkern wolln wir sein

Von der See bis zu den Alpen

Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern

Lieben und beschirmen wir's

Und das liebste mag's uns scheinen

So wie andern Völkern ihrs.

Soviel Gefühl, ja beinahe Zärtlichkeit, hätte man diesem Zyniker, dem Vater von Baal, Mackie Messer, Surabaya Johnny und anderen zwielichtigen Gestalten, gar nicht zugetraut. Es handelt sich übrigens um die „Kinderhymne“ der DDR, von Hans Eisler vertont, die es nach 1990 allerdings nicht schaffte, „Einigkeit und Recht und Freiheit“ als Nationalhymne des wiedervereinigten Deutschland abzulösen.

Ist das Vaterlandsliebe, Patriotismus gar? Und wie steht es mit dem Nationalismus? Hallo! Geht’s noch! Absurde Themen, so was von out! Wir sind doch nicht bei der AfD oder gar bei Pegida! Okay, jetzt erstmal alle setzen und tief durchatmen. Wem wäre denn Deutschland, du mieses Stück Scheiße lieber? Dem schwarzen Block? Den Jusos? Vielleicht der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, der Bundesempörungsbeauftragten Claudia Roth? Meinetwegen, aber die genießt Sonderrechte. Sonst noch jemand? Na also! Klar ist natürlich, dass mit dem Hurra-Patriotismus eines Diederich Heßling, wie ihn Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ schildert, den er kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs abgeschlossen hatte, dass damit heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist, allenfalls bei Ultrarechten.

Aber hören wir doch mal kurz rein, was junge Leute zu dem Thema zu sagen haben. Das politische Monatsmagazin „Cicero“ veranstaltete im August 2008 ein Streitgespräch zwischen (dem 2015 verstorbenen) Philipp Mißfelder, damals 29 und Bundesvorsitzender der Jungen Union, und Franziska Drohsel, 28 und Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Der Moderator bat die beiden, zu einigen Begriffen „die unmittelbarste Assoziation“ „herauszufeuern“. Er begann mit dem Begriff „Vaterland“.

Antwort Mißfelder: „Das ist mein Vaterland, in dem ich lebe, und darauf bin ich stolz, dass ich Deutscher sein kann.“ Antwort Drohsel: „Ja also, deutsche Nation, das ist für mich überhaupt nichts, worauf ich mich positiv beziehe – würde ich politisch sogar eher bekämpfen.“ Wenn man der Körpersprache trauen darf, schien sich allerdings keiner der beiden bei seiner Antwort so richtig wohl zu fühlen. Offenbar werden solche Bekenntnisse nicht gerade als „cool“ empfunden. Aber das bleibt natürlich spekulativ. Weniger spekulativ erscheint die Folgerung, dass „Vaterland“ eher von konservativ/rechts orientierten Menschen positiv empfunden wird, während sich Linke beinahe empört zeigen, als sei der Begriff eine Zumutung. Drohsel hatte offenbar eine unüberwindliche Abneigung, das Wort „Vaterland“ überhaupt in den Mund zu nehmen, sondern setzte es sofort mit „deutscher Nation“ gleich. Doch da begibt man sich auf schwieriges Gelände. Denn: „Von links gesehen gibt's Rechte schon in der Mitte“ (Schlagzeile in Welt Online vom 20. Juni 2008).

Gleichzeitig hörte man aber im Kölner Karneval immer wieder das Lied der „Räuber“ „Dat es Heimat“, der Kölschen Version von Rod Stewarts "Sailing" aus dem Jahr 1975:

Dat es Heimat, dat es Heimat, dat es Kölle, rut un wies.

Zweschen Nümaat, Dom un Heumaat, han mir Kölsche et Paradies.

Muss man nicht übersetzen oder? Natürlich könnte man einwenden, im Karneval ist alles anders und in Köln sowieso. Aber gerade ist die deutsche Handball-Nationalmannschaft Europameister geworden, und halb Deutschland stand Kopf. Und als am Tag zuvor die deutsche Tennisspielerin Angelique Kerber erstmals seit Steffi Graf 1994 die Australian Open gewann, kannte der Jubel keine Grenzen. Das Gleiche ereignete sich, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft 2014 Weltmeister wurde. Ja, der Sport, das ist eine eigene Welt.

Und wie war das als der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum Papst gewählt wurde? Da triumphierte die Stimme des Volkes „Wir sind Papst“. Und als 2010 die 19jährige Lena Johanna Therese Meyer-Landrut zum zweiten Mal nach Nicole 1982 mit „Sattelite“ den Eurovision Song Contest für Deutschland gewann, waren viele ebenfalls aus dem Häuschen. Dagegen hielt sich die Begeisterung über die Nobelpreise für Medizin 2008 und Physik 2014 für die deutschen Wissenschaftler Harald zur Hausen bzw. Stefan Hell in Grenzen. Das ist zu elitär, damit können sich nicht alle identifizieren, wenn sie es überhaupt mitbekommen.

Die Möglichkeiten, für das Vaterland zu sterben, sind glücklicherweise weniger geworden. Heute werden die Schlachten eben auf dem Fußballfeld oder dem Tennisplatz geschlagen und wir lassen uns dabei von Lahm, Becker, Graf und Co. vertreten. Aber am Ende sind „wir“ Weltmeister oder „Wimbledon-Sieger“ oder wie ein Autohersteller seine Ikone Graf einmal am Tag nach ihrem Sieg in London titulierte: „Wimbledonna“.

Das hat doch alles mit dem Thema nichts zu tun! So? Und warum gibt es dann bei allen internationalen Sportwettbewerben den Medaillenspiegel nach Nationen? Warum gibt es überhaupt eine Fußball-Nationalmannschaft und nicht einfach nur die DFB-Auswahl? Und warum werden vor jedem Länderspiel die beiden Nationalhymnen gespielt so wie jeder Olympiasieger mit der Hymne seines Landes geehrt wird? Selbst bei bestimmten Boxkämpfen werden die Nationalhymnen gespielt, obwohl „Boxwelt.com“ erkannt hat, worum es geht: „Der Boxer kämpft für eine Börse und nicht für sein Vaterland. Statt der Nationalhymne sollte ‚Money, Money, Money‘ von Abba gespielt werden.“ Passiert aber nicht.

Da mag ein ehemaliger Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) ruhig erklären: „Noch nie habe ich die Nationalhymne mitgesungen und werde es auch als Minister nicht tun" (1998 gegenüber der „Welt“ lt. FAS vom 2. Januar 2005 Seite 6).

Die Menschen draußen im Lande, wie Helmut Kohl uns alle nannte, brauchen offenbar etwas, wo sie sich zu Hause und mit anderen verbunden fühlen. Wenn sie anfangen, sich „fremd im eigenen Land“ zu fühlen, dann sollten im Kanzleramt, den Staatskanzleien und Parteizentralen die Alarmglocken schrillen. Doch die hat offenbar schon vor einiger Zeit in der „wirklichkeitsleeren Welt der Politiker“ (Jürgen Leinemann) jemand abgestellt. Zwar hört man immer wieder Politiker sagen, man müsse die Sorgen der Menschen „ernst nehmen“. Aber leider hat noch niemand gesagt, was das konkret bedeutet.

Sicher, die Globalisierung ist unvermeidlich, ob sie uns passt oder nicht. Aber die meisten Menschen sind nun mal keine Weltbürger, für die der Satz „ubi bene, ibi patria“ (wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland) gilt. Und so ist es kein Zufall, dass beinahe parallel zu Globalisierung und Internationalisierung auch ein Trend zur „Regionalisierung“ einsetzte.

In der Nahrungsmittelindustrie ist daraus eine regelrechte Weltanschauung geworden, jedenfalls in gewissen Kreisen. Wer eher knapp bei Kasse ist, kauft Steaks aus Argentinien, Lamm aus Neuseeland und Trauben aus Südafrika. Die etwas besser Betuchten kaufen dagegen „aus der Region“ (zusätzlich zu „öko“, „bio“ und „fair“). Regionen streben nach Selbständigkeit, wenn auch vergebens (Katalonien und Schottland). Doch die Einwohner von Wales (Cymru), die Waliser haben immerhin durchgesetzt, dass Walisisch (Kymrisch) neben Englisch Amtssprache ist und an den Schulen unterrichtet wird.

Behördenprospekte kann man von vorne und von hinten lesen: einmal in Englisch und einmal in Walisisch. In Sitzungen kann jemand darauf bestehen, Walisisch zu sprechen. Wenn andere das nicht verstehen, muss ein Dolmetscher hinzugezogen werden. Irre, nicht wahr? In Malta, dem kleinsten EU-Mitglied (nach der Bevölkerungszahl) sind Englisch und Maltesisch/Malti (Eigenbezeichnung) Amtssprachen. In der EU bestanden die Malteser jedoch auf Malti (das zu den semitischen Sprachen zählt und sich aus einem arabischen Dialekt entwickelt hat) als Amtssprache, obwohl für diese Sprache gar nicht genug Dolmetscher zur Verfügung standen (der gegenwärtige Stand ist mir nicht bekannt). Und so ließe sich eine Kuriosität an die andere reihen.

Gegenwärtig geht geradezu eine Welle des Nationalen durch Europa, die von den „politischen Eliten“ flugs als „rechts“ und „populistisch“ gegeißelt wird. Darunter auch von eben jenen Leuten, die gerade noch betont haben, man müsse die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Klar, solange sie ins eigene Kalkül passen.

Wir Europäer leben in einer herrlichen Zeit. Wir leben untereinander im Frieden und wurden dafür mit dem Nobelpreis geehrt. Noch nie ging es uns so gut. Wir müssen uns keine Sorgen machen, morgen genug zu essen zu haben. Vielmehr ist die Hauptsorge vieler der BMI, also die Angst vor zu viel Speck auf den Rippen (oder wo auch immer). Und auch sonst haben die meisten (und zwar nicht nur die „Reichen“) einen Lebensstandard, demgegenüber selbst der Adel in früheren Zeiten geradezu erbärmlich lebte. Aber ein Nachteil der Gegenwart ist nicht zu leugnen und er setzt uns schwer zu, weil er gegen unsere Natur ist: Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und der Schnelllebigkeit dazu.

Dabei geht es nicht um das, was Erich Kästner in seinem „Spruch für die Silvesternacht“ so beschreibt

Wird’s besser? Wird’s schlimmer?

fragt man alljährlich.

Seien wir ehrlich:

Leben ist immer

lebensgefährlich.

Moment mal: „Zeit des Umbruchs“, gab es die nicht immer schon? Nach der Reformation, nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach der Französischen Revolution, nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg? Klar, aber da dauerte es auch stets eine Zeitlang, bis die Leute wieder Tritt gefasst hatten. Aber selbst dazu bleibt ihnen heute keine Zeit, weil die Entwicklungen sich überlappen, ja geradezu überschlagen. Die Folgen zeigen sich in zunehmenden Depressionen und Burnouts, in Alkoholismus und Drogenkonsum, aber auch in der Sinnsuche auf vertrauten Feldern wie Religion (ja, auch Islam), Familie und Privatheit und eben auch in Region, Heimat, Vaterland. Alles unbefriedigend? Klar, was sonst?

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