In der Schuldenkrise findet die verunsicherte Politik eine neue Formel: “Mehr Europa” müsse her. Klingt sympatisch und politisch korrekt – ist aber grundfalsch. Zentralismus ist keine Lösung für Schuldensucht
Jürgen Habermas will es, die SPD winselt danach, Peter Bofinger ist dringend dafür, Ursula von der Leyen sowieso und der Osterhase bestimmt auch: Mehr Europa. Das Schlagwort der Stunde klingt einfach, politisch korrekt und sympatisch – und doch ist es falsch. Die Ursache der Schuldenkrise hat nichts mit Europas Dezentralität zu tun. Im Gegenteil - vielleicht könnte eine moderne Basisdemokratie sogar Teil seiner Lösung sein.
Bislang sind Europas Staaten schuldentrunken und unsolide organisiert. Sie leisten sich pompöse Sozialstaatbürokratien, Vetternwirtschaften der Parteioligarchien und eine Staatsgeldverschwendung, die Skandal an Skandal reiht. Diese Schuldokratien müßten schlichtweg sparen, verschlankt, demokratisiert und modernisiert werden. Stattdessen sehen ihre Verfechter aber im “mehr Europa” den Freifahrtschein für “mehr Verschuldung”. Das große Staatsgebäude heilt aber den Schuldensüchtigen genaus wenig wie ein größeres Krankenhaus den Alkoholiker.
Der Ruf nach “mehr Europa” ist in Wahrheit das “Weiter so” - nur in größerer Dimension. Die Schuldokratie strebt tendenziell ins Abstrakte, Unkontrollierbare, Große, Systemische. Ihr ist die Kleinteiligkeit der Ausgabendisziplin, die Kontrolle des Parlamentarischen zuwider, sie schwebt lieber in der Großzügigkeit des Unermeßlichen. Die kleine Einheit ist ihr lästig, denn sie trägt das Korrektiv von Nähe in sich.
Wenn die Schuldenkrise nun aber tatsächlich die Verfassungsfrage stellt, wenn der Geschäftsverteilungsplan des Kontinents wirklich neu geschrieben werden muss, dann sollte man offen reden. Denn dann bräuchte Europa weniger Brüssel und mehr Bayern, weniger Straßburg und mehr Schottland, weniger Rettungsschirm und mehr Regionalität. Klug wäre es, die Dezentralität zu stärken, ja Staaten möglicherweise neu zuzuschneiden.
Es zeigt sich bereits, dasss die Zentrifugalkräfte zunehmen je mehr der Brüsseler Zentralismus die Schuldokratie ausweitetet. Von Schottland bis Katalonien, von Finnland bis Tirol reicht die Widerstandsbewegung, die das Heil eben gerade nicht im gewaltigen Schuldturm, sondern im soliden Heimathaus sieht. Auch in Deutschland beginntes zu rumoren. Die Süddeutschen wehren sich langsam, dass sie für unsolide Bundesländer immer nur zahlen sollen. Die Westdeutschen finden es ungerecht, dass sie immer noch Soli-Zuschläge für Ostdeutschland berappen müssen. Auch hier wird man die dahinter stehenden Fragen nach Gerechtigkeit und Selbstbstimmung nicht durch ein “Mehr Deutschland” lösen können. Im Gegenteil.
Wieso sollen sich die Bayern einer doppelten Fremdbestimmung von Berlin und Brüssel widerstandslos unterwerfen? Sie hatten über Jahrhunderte ihren eigenen Staat. Warum sollen sie ihn nicht zurückfordern, wenn die Europaexpansionisten sie noch stärker marginalisieren? Norddeutschland mag schmunzeln, aber es droht ein neo-bavarischer Separatismus. Peter Gauweiler und Winfried Scharnagel formulieren dieser Tage populäre Gegenrezepte zum “Mehr Europa-Wahn” der Zentralisierer. “Bayern kann es auch allein”, lautet der Titel einer ebenso klugen wie provozierenden Streitschrift aus München, die einiges in Bewegung bringen dürfte.
Das Staatengefüge mag neu definiert werden. Wenn die Linke aber glaubt, die Bewegung führe nur zu Superstaaten, dann kennt sie die Menschen schlecht. Die Wutbürgerbewegung zeigt vielmehr, dass Teilhabe, Nähe, Transparenz, Regionalität, Überschaubarkeit, Subsidiarität das Gebot der Stunde sind.
Europa ist für ein Mehr an Machtkonzentration weder reif noch bedrüftig. Das”Mehr-Europa”-Programm ist eines der selbst fixierten politischen Klasse, die sich ihr Reservat der Bürgerfrerne schafft. Das aber ist ganz uneuropäisch. Denn just die Vielfalt und Föderalität, die Buntheit und lokale Selbstbewußtsein macht Europa seit Jahrhunderten aus. Das “Mehr” an Demokratie, an Freiheit und kultureller Farbe bekommen wir nur mit einem “Weniger” des offiziell-politischen Schuldeneuropa. Wahre Europäer wollen das Europa der Vaterländer, der vielen Münder, und nicht der zentralen Bevormunder.
Zuerst erschienen auf Handelsblatt Online