Das Tor zur Welt der Miuras steht an einer einsamen Strasse ein paar Kilometer von Lora del Rio. Es wird von schlichten Holzpfosten gebildet und trägt oben zwei ausgeblichene Stierschädel und den aus Ästen gezimmerten Namen „Miura“. Ein verwitterter Wegstein zeigt den mit zwei symbolischen Hörnern verzierten Buchstaben „A“ - Das Wappen der Miuras. Die Szenerie erinnert an eine Kulisse für einen Westernfilm. „Zahariche“ heißt das weit dahinter verborgene Anwesen. Die Stierzucht-Dynastie der Miuras residiert hier seit 1842 und ist tief in der spanischen Seele verwurzelt. Der Name Miura wird mit Ehrfurcht ausgesprochen.
Ernest Hemingway schreibt in „Tod am Nachmittag“: „Es gibt bei den Stieren gewisse Rassen, bei denen die Fähigkeit, schnell in der Arena zu lernen ganz stark ausgeprägt ist...Sie lernen viel geschwinder, als das Fortschreiten des Kampfes vor sich geht, und es wird von Minute zu Minute schwieriger mit ihnen fertig zu werden... Stiere dieser Art sind die alte Rasse von Kampfstieren, die von den Söhnen Don Eduardo Miuras gezüchtet werden...“
Normalerweise darf zu den Miuras niemand herein. Die Zucht von Kampfstieren ist ein Gewerbe, das politisch und moralisch unter Druck steht, auch in Spanien kommt der Stierkampf immer mehr unter Beschuss. Die Protagonisten sind misstrauisch gegen Fremde geworden und fühlen sich ungerecht behandelt.
Doch ich darf ins Herz der Finsterniss, weil ich für einen befreundeten Fotografen ein Auto für eine Fotoreportage dorthin bringen soll. Und was für eins: Einen Lamborghini Murcielago. Die Geschichte der Automarke ist mit der der Kampfstiere eng verwoben, doch dazu später. Das außerirdische Ding entspricht vielen Jahresgehältern, warum ich sehr vorsichtig damit umgehe. Auf der Landstrasse überholen mich in gewagten Manövern immer wieder spanische Kleinwagen und Schnelltransporter, deren Besitzer sich hernach rühmen werden, einem ausgewachsenen Murcielago den Todestoß versetzt zu haben.
Tausende von Stieren in freier Wildbahn
Mein Weg führte über die „Strasse der Stiere“. Sie beginnt am südlichsten Zipfel Spaniens in Tarifa. Von dort windet sich Ruta del toro durch die Berge bis Sevilla. Rechts und links liegen die riesigen Weidegründe der Ganaderias, auf denen von der Strasse weit zurückgezogen tausende von Stieren in freier Wildbahn aufwachsen. Nicht alle wilden und gefährlichen Tiere leben im Urwald oder der Savanne, die Toros sind eine ebenso ungezähmte Spezies.
Der Murcielago verdankt seinen Namen einem besonders tapferen Kampfstier, der am 5.Oktober 1879 Stierkampf-Geschichte schrieb. Das edle und mutige Tier hatte dem Torero einen erbitterten Kampf geliefert – und das Publikum in Cordoba bat dem Tier das Leben zu schenken – eine nicht eben häufige Geste. Nach dem Kampf wurde der Stier dem Züchter Antonio Miura überlassen und von ihm zum Stammvater einer legendären Rasse von Kampfstieren gemacht.
Der Besuch des Murciélago auf diesem Terrain ist für alle etwas besonderes. Nur einmal zuvor fand ein Lamborghini den Weg hierher - und da kam der Chef gleich selbst. Ferruccio Lamborghini machte in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts seine Aufwartung bei Eduardo Miura Fernandéz. Herr Lamborghini – im Zeichen des Stiers geboren – hatte das angreifende Tier zum Wappensymbol seiner Sportwagen erkoren (reich wurde er allerdings mit dem Bau von Traktoren). Auf die Namensgebungs-Idee wiederum soll ihn der spanische Edelmann Conde Villapadiezna gebracht haben, ein gemeinsamer Bekannter von Autonarr und Aficionado. Ergebnis war ein legendärer Name der Autowelt: Lamborghini Miura. Es folgten Typen wie Islero, Urraco, Jalpa oder Espada – allesamt Begriffe in der Stierkampfwelt.
Heute führt die Generation der Söhne und Enkel auf Zahariche das Regiment. Viele hundert heranwachsende Stiere, Ochsen, Kühe und Kälber verteilen sich auf über 600 Hektar Land. Die Miuras begrüßen den Besuch im weiß leuchtenden Innenhof der Ganaderia. Sie tragen spanische Reitstiefel mit klirrenden Sporen. An einem Feigenbaum sind gesattelte Pferde angebunden. Die Miuras sitzen seit Kindesbeinen auf dem Pferderücken. Der Zuchtbetrieb zählt ein Dutzend Mitarbeiter, die meisten davon sind „Vaqueros“, wie die andalusischen Cowboys genannt werden. Dumpf dröhnen die Hufe einer Gruppe Reiter, die im Galopp über die riesige Weide heranpreschen. Stolz und aufrecht sitzen sie im Sattel und tragen hölzerne Lanzen in der rechten Hand. Man könnte meinen hier nähere sich die Vorhut eines mittelalterlichen Reiterheeres.
Unser Fahrer bittet uns, bloß nicht auszusteigen
Im verbeulten Geländewagen geht es über die ausgedehnte Liegenschaft, für einen kleinen Anfängerkurs in Sachen Stierzucht. Wir holpern über riesige Weiden, auf denen der Kraft spendende Blutklee wächst. Sorgfältig werden die einzelnen Gatter geöffnet und wieder geschlossen. Die Tiere bleiben ganzjährig auf der Weide und bekommen dort auch ihren Nachwuchs. Wenn ein Stier ein Jahr alt ist, wird ihm das „A“ der Miuras und eine Nummer eingebrannt. „Jeder Stier bekommt außerdem einen Namen“, erzählt Eduardo Miura, einer der Söhne, der jedes einzelne seiner Tiere erkennt. Wir durchkreuzen eine Herde mit sehr jungen Stieren. Im Alter von zwei Jahren werden die Jungstiere zum ersten mal auf ihre Tauglichkeit getestet. Die „Vaqueros“ bringen sie vom Pferd aus mit hölzernen Lanzen zu Fall, um ihre Angriffslust zu testen. Unser Fahrer bittet uns, bloß nicht auszusteigen: „Man täusche sich nicht, ein dreijähriger Novillo kann einem Mann schon sehr gefährlich werden.“
Wir passieren eine kleine Arena („Tentadero“), in der Prüfungen für ausgewählte Tiere stattfinden. Wobei ein eisernes Gesetz gilt: Niemals tritt ein unberittener Mann (wie später der Torero) mit Capa oder Muleta einem auserkorenen Kampfstier entgegen. Ein Stier so sagt unser Führer, „lernt in 20 Minuten mehr als ein Mensch im ganzen Leben.“ Ein Toro, der das Spiel erst einmal durchschaut hat, würde jeden Torero geradlinig zu Teppichboden verarbeiten. Mit vier Jahren sind die Kampfstiere ausgewachsen und bringen 600 bis 700 Kilogramm unbändige Kampfeslust auf die Waage.
Nicht nur die Stiere werden auf ihre Eignung für die Zucht getestet, sondern auch die Kühe. Denn es gilt eine Faustregel: „Ein Stier erbt seine Statur vom Vater und das Herz von der Mutter“. Und deshalb ist mit den Kühen auch nicht zu spaßen: „Wenn Sie unbedingt einen Eindruck von der Wildheit einer wilden Kuh („vaca brava“) bekommen wollen, versuchen Sie einmal sie zu melken“, bemerkt der Mann am Steuer des Geländewagens.
Die sorgfältige Auswahl der Kühe und des Deckstiers ist eine Wissenschaft für sich. Bei den Miuras hilft die Erfahrung von Generationen. Und doch gehört auch Glück dazu. Schließlich muss ein Züchter vier bis fünf Jahre nach dem Deckungsakt warten, bis er sich eine ungefähre Vorstellung von der Qualität seiner Produkte machen kann. Zeigt die züchterische Selektion nicht das gewünschte Ergebnis, ist viel Zeit und noch mehr Geld verloren. Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa bewunderte die „unendliche Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Mühe – ganz zu schweigen von den Kosten – welche die Aufzucht eines ‚tapferen Stiers’ erfordert und wie viele Freiheiten und Privilegien er vom Mutterleib bis zur Arena genießt.“
Eduardo Miura beäugt sorgfältig eine etwas entfernt auf einem Hügel stehende Gruppe vierjähriger Stiere. Regungslos und mit leicht erhobenem Kopf starren sie zu uns herab. „Einer davon mag das Auto nicht“, sagt Miura, „er hat es schon beinahe umgeworfen und weiß jetzt wie das geht.“ Wobei Miura sich sehr viel weniger Sorgen um seinen Pick Up macht, als um seinen Stier. Wenn dem nämlich etwas zustößt, kommt das viel teurer als ein Blechschaden. Eine Gruppe von sechs Kampfstieren, die gemeinsam und stets aus einer Zucht eine Corrida bestreiten, bringt etwa 120.000 Euro ein. „Wir verkaufen jährlich zwischen 42 und 64 Stiere“, sagt Miura, „das heißt nur zehn Prozent der Tiere müssen die ganze Ganaderia amortisieren.“
„Der wahrhaft tapfere Stier gibt keine Warnung, ehe er angreift“
Durch eine kleine Furt wechseln wir zu einer anderen Herde, deren führende Vertreter noch nicht durch ausgeprägte Autofeindschaft auffällig geworden sind. Diesmal fährt Miura ganz dicht an die Tiere heran. Beinahe unbewusst dreht man die Seitenscheibe hoch. Die kleinsten Veränderungen der gewohnten Umgebung, Geräusche, Gerüche, Bewegungen, können gewisse Reflexe und motorische Reaktionen auslösen, die der Besucher sich ganz gerne ersparen möchte. Manche Stiere brüllen, manche werfen mit den Vorderhufen in weitem Bogen den Untergrund in die Luft. Wobei das nur Show sein kann. „Der wahrhaft tapfere Stier gibt keine Warnung ehe er angreift“, schreibt Hemingway, „außer das er die Augen fest auf den Feind richtet, außer dem anschwellen des Muskelkamms (der Werfmuskel im Nacken), dem Zucken eines Ohrs und dem Heben des Schwanzes, während er angreift.“
Es gibt also nicht unbedingt Hinweise, dass ein Stier besonders schlecht gelaunt sein könnte. Viele Sagen, dass ein selbstbewußter Stier sich derart sicher fühle, dass er zunächst vollkommen cool bleibe. Und dann geht er plötzlich und ohne Vorwarnung ab: Agressiv, offen und geradlinig. Aficionados sprechen in diesem Zusammenhang von „Adel“ und „Noblesse“, die man aber nicht unbedingt am eigenen Leib ausprobiert sehen möchte. „Ein Stier beschleunigt schneller, als jeder Mensch davonlaufen kann“, sagt Miura. Wahrscheinlich kommt daher auch der Eindruck, dass hier draußen alle mit Augen auf dem Rücken herumlaufen.
Am schlimmsten sind jene Tiere, die die Spanier „Toro Sentido“ oder „Barrabás“ nennen. Die tragen angeblich das Genie des Bösen in sich. Diese vier oder fünfjährigen Tiere sind durch Kämpfe mit ihren Artgenossen, erfahren, misstrauisch und schlau geworden. Sie blicken durch, zu gut durch. „Ein ‚manso de sentido’ wie er ziemlich oft bei Miura vorkommt, ist das denkbar gefährlichste Tier,“ heißt es in dem Buch „Aficion“. Der Torero „Bombita“ der von einem Miura Stier auf die Hörner genommen wurde, klagte: „Er betrachtete mich mit hundert Augen.“
Nun folgt der zweite Akt unseres Besuches. Für Fotoaufnahmen fahren wir den Sportwagen mitten auf die Weide (nachdem Eduardo Miura den Kaufpreis des Lamborghini erfragt hat, macht er sich nicht nur um seine Stiere Sorgen). Deshalb wird der Lamborghini erst auf der Weide abgestellt und alle Beteiligten müssen sich dann hinter einem Zaun verstecken. Klare Anweisung: Kein Ton, keine Bewegung, noch nicht mal Niesen. Doch die Toros halten den Murciélago offensichtlich nicht für einen der Ihren, was uns den teuersten Revierkampf aller Zeiten erspart.
In der Halle schauen mich die ausgestopften Köpfe berühmter Stiere an
Wir schicken ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, und hoffen dass es in der hauseigenen Kapelle „Nuestra Seniorade las Mercedes“ gehört wird. Die Kapelle ist der Mutter der Gebrüder Miura gewidmet und Ort wichtiger Familienfeiern. Die Familie ist den Andalusiern heilig. Zur Feier des Tages haben Christina Miura und Maria del Mar Miura ein andalusisches Mahl zubereitet.
In der großen Wohnhalle von Zahariche schauen mich die ausgestopften Köpfe berühmter Stiere an. Auszeichnungen, Stierkampfplakate, Gemälde, Fotos und Gegenstände erzählen die faszinierende Geschichte der Miura-Dynastie. „Dies ist kein Museum“, sagt Christina Miura, „es ist unser Leben.“ Begeisterung und Leidenschaft, kurz „Aficion“ ist hier praktisch Bestandteil der Luft, die man atmet: „Dies ist nicht nur unsere Arbeit, dies ist alles was wir darstellen“.
Der Andalusier Picasso nutzte diese Welt zur Darstellung überzeitlicher Themen wie Liebe, Krieg und Tod. Zahlreiche Künstler und Schriftsteller fühlten sich von der Aficion magisch angezogen. Stierkampfrezensionen fanden in spanischen Zeitungen lange im Kulturteil statt – und tun es teilweise noch heute. Der Umwelt- und Tierschützer Horst Stern hat einmal geschrieben: „Der spanische Stierkampf erfüllt, im Gegensatz zu unseren Nutztieren, auch die erste Grundforderung des Tierschutzes: Der Toro bravo hat, bevor er stirbt, wenigstens artgerecht gelebt.“ Gäbe es die Corrida nicht, gäbe es auch diese stolze Rinderrasse nicht.
Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa bezeichnete die politische Debatte als heuchlerisch, solange Menschen das unsichtbare Leiden jener Tiere hinnähmen, die als Delikatessen auf unseren Tellern landeten, vom Hummer bis zur gestopften Gans. „Wer die Urkarft und wilde Schönheit dieser Stiere erhalten will, der muss auch ihren Tod in der Arena akzeptieren“, wissen die Züchter. Und ohne die Stierzucht würde das Andalusien der natürlichen und urwüchsigen Weidegründe ebenso verschwinden wie die Kultur der Vaqueros. Hilft aber nix, die Bambi-Gesellschaft wird die Miuras über kurz oder lang besiegen. Wenn es keine Kampfstiere mehr gibt, können auch keine mehr getötet werden.