Riad Sattouf ist in Frankreich ein Star. Sein Comic “Der Araber von morgen” ist dort bereits vor dem Anschlag vom 7. Januar erschienen. Es zeichnet das Bild einer gnadenlos rückständigen Gesellschaft.
Ich möchte niemand zu nahe treten, keinen verletzen und auch nicht generalisieren, wenn ich behaupte, dass Kritik und vor allem Selbstkritik nicht zu den wesentlichen Tugenden der arabisch-islamischen Kultur gehören. Muslime scheinen, wie ihre Reaktionen auf “islamkritische” Texte und Karikaturen zeigen, eher zum Beleidigtsein zu neigen als Angehörige anderer Kulturen und Konfessionen.
An allem, was in der arabisch-islamischen Welt schiefläuft – Armut, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit –, sind immer die anderen schuld, der Kolonialismus, der Kapitalismus, der Zionismus – und nie diejenigen, die in diesen Ländern das Sagen haben.
Natürlich gibt es auch kritische und selbstkritische Nach- und Vordenker, die im Zeichen des Halbmonds aufgewachsen sind. Ayaan Hirsi Ali und Salman Rushdie, Ibn Warraq und Najem Wali, Taslima Nasrin und Hamed Abdel-Samad, der über sich selbst sagt, er sei “vom Glauben zum Wissen konvertiert”. Aber sie leben und arbeiten alle im Exil.
Riad Sattouf ist kein Exilant. Er wurde 1978 in Paris geboren, der Vater war Syrer, die Mutter Französin. Die Familie lebte einige Jahre in Libyen und Syrien und kehrte Anfang der Neunzigerjahre nach Frankreich zurück, wo der junge Riad sehr bald sein Talent als Comic-Zeichner entfaltete.
Zehn Jahre arbeitete er für “Charlie Hebdo” und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet. In Frankreich kennt ihn jeder, in der Heimat von “Fix und Foxi” hat er eine kleine, aber wachsende Fangemeinde, seit vor fünf Jahren seine erste ins Deutsche übersetzten Graphic Novel “Meine Beschneidung” auf den Markt kam.
Sein Buch “Der Araber von morgen”, ist in Frankreich im Mai 2014 erschienen, bei uns Mitte Februar dieses Jahres, also kurz nach dem Terroranschlag auf das Satiremagazin “Charlie Hebdo”. So kann der Leser gar nicht anders, als nach versteckten Hinweisen zu suchen, mit denen er die schreckliche Tat vom 7. Januar erklären könnte.
Aber “Der Araber von morgen” handelt weder vom Terror noch von Terroristen, er schildert nur das Leben in Libyen beziehungsweise Syrien aus der Sicht eines kleinen Jungen mit Schmollmund und langen platinblonden Haaren, den alle süß finden und knuddeln möchten. Was freilich auch eine Form des subtilen Terrors ist, die Spuren im Gemüt hinterlässt.
Dabei gehört die Familie von Riad Sattouf zu den besseren Kreisen. Der Vater, Abdel-Razak, war “besessen von der Vorstellung, Doktor zu werden”. Da er aber kein Blut sehen konnte, studierte er Geschichte und träumte davon, “Präsident” zu werden. “Ich würde alles ändern bei den Arabern. Sie müssten mit der Frömmelei aufhören, sich bilden und in die Moderne eintreten.”
Die Mutter, Clementine, kümmert sich derweil um den Haushalt und die Familie. Während sie bügelt, liest er ihr aus dem “Grünen Buch” von Muammar al-Gaddafi vor: “Die Frau ist wie der Mann ein menschliches Wesen. Daran gibt es keinen Zweifel.”
Was der kleine Riad beobachtet und wiedergibt, erinnert an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Nur ein Kind kann so genau und so gnadenlos Zustände aufzeigen, an denen eine Gesellschaft krankt, die auf dem Weg in die Moderne stecken geblieben ist.
Für den Stillstand sind nicht nur die regierenden Despoten verantwortlich – Muammar al-Gaddafi, Saddam Hussein, Baschar al-Assad –, sondern auch die Neigung der Menschen zur Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung. Und die Familie ist die Miniaturausgabe der Gesellschaft. Wer dazugehören will, muss sich dem Diktat des Oberhaupts beugen. Das ist auch bei den Sattoufs so.
Aber – Abel-Razak, der Vater von Riad, ist immerhin schon einen Schritt weiter. Der Einzige in seiner Familie, der lesen und schreiben kann. Er sagt: “Wenn die Araber erst einmal gebildet sind, werden sie sich selbst von den alten Diktatoren befreien.” Seine Frau Clementine dämpft seinen Optimismus. “Und was kommt stattdessen? Junge Diktatoren?” Nicht unbedingt. Der Araber von morgen kann auch ein Künstler wie Riad Sattouf sein.
Zuerst erschienen in DIE WELT hier.
Riad Sattouf: Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten (1978–1984). Knaus, München. 160 S., 19,99 €.